sem Fall, wo die Lichtstrahlen von den äußersten Enden der Objekte unter gleichen Winkeln zusammenlaufen; "da muß sie, wenn sonsten nichts im Wege stehet, das "Urtheil fällen: Ein Gegenstand ist so groß als der an- "dere."
Die reinen Empfindungskenntnisse sind ein großer Schatz, aber auch seltener als es gemeiniglich ge- glaubet wird. Sie machen den [re]inen und festen Stoff aller Kenntnisse aus, die wir von wirklichen Dingen haben können, und man kann nicht genug darauf drin- gen, daß sie mit Sorgfalt gesammlet, und von allen andern, die es nicht sind, und bey denen etwas fremdes den Empfindungsvorstellungen eingemischt ist, das die Denkkraft bestimmet hat, ausgesondert werden. Laß es seyn, daß sie nur einseitige, und oft falsche Kenntnisse sind, die wir nachher wegwerfen, wie das eben angeführ- te sinnliche Urtheil, daß der Mond der Sonne fast gleich sey, so muß man diese reinen Empfindungsurthei- le doch erst kennen, ehe man sie umändert, und auch alsdenn hören sie noch nicht auf, brauchbar zu seyn.
Weder die Phantasie, noch die Dichtkraft, soll hier etwas an den Vorstellungen ändern, die von den em- pfundenen Gegenständen gekommen sind, wenn es reine Erfahrung bleiben soll. Sobald dergleichen geschicht, so sind es nicht mehr reine Empfindungskenntnisse. Die Empfindung kann sich selbst ändern, und dann die Vor- stellung aus der Empfindung mit ihr. Das ist ein an- ders. Jn solchen Fällen giebt es mehrere verschiedene Empfindungen von einerley Sachen. Die Farbe er- scheint bey dem Kerzenlicht anders, als am Tage. Aber jedwede dieser verschiedenen Vorstellungen ist eine wahre Empfindungsvorstellung, und die Jdee und das Urtheil, das dieser allein nachgehet, ist ein reines Empfindungs- urtheil. Hat die Phantasie oder die Dichtkraft an dem Bilde Antheil, hat sie etwas zugesetzet oder abgelassen,
so
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
ſem Fall, wo die Lichtſtrahlen von den aͤußerſten Enden der Objekte unter gleichen Winkeln zuſammenlaufen; „da muß ſie, wenn ſonſten nichts im Wege ſtehet, das „Urtheil faͤllen: Ein Gegenſtand iſt ſo groß als der an- „dere.“
Die reinen Empfindungskenntniſſe ſind ein großer Schatz, aber auch ſeltener als es gemeiniglich ge- glaubet wird. Sie machen den [re]inen und feſten Stoff aller Kenntniſſe aus, die wir von wirklichen Dingen haben koͤnnen, und man kann nicht genug darauf drin- gen, daß ſie mit Sorgfalt geſammlet, und von allen andern, die es nicht ſind, und bey denen etwas fremdes den Empfindungsvorſtellungen eingemiſcht iſt, das die Denkkraft beſtimmet hat, ausgeſondert werden. Laß es ſeyn, daß ſie nur einſeitige, und oft falſche Kenntniſſe ſind, die wir nachher wegwerfen, wie das eben angefuͤhr- te ſinnliche Urtheil, daß der Mond der Sonne faſt gleich ſey, ſo muß man dieſe reinen Empfindungsurthei- le doch erſt kennen, ehe man ſie umaͤndert, und auch alsdenn hoͤren ſie noch nicht auf, brauchbar zu ſeyn.
Weder die Phantaſie, noch die Dichtkraft, ſoll hier etwas an den Vorſtellungen aͤndern, die von den em- pfundenen Gegenſtaͤnden gekommen ſind, wenn es reine Erfahrung bleiben ſoll. Sobald dergleichen geſchicht, ſo ſind es nicht mehr reine Empfindungskenntniſſe. Die Empfindung kann ſich ſelbſt aͤndern, und dann die Vor- ſtellung aus der Empfindung mit ihr. Das iſt ein an- ders. Jn ſolchen Faͤllen giebt es mehrere verſchiedene Empfindungen von einerley Sachen. Die Farbe er- ſcheint bey dem Kerzenlicht anders, als am Tage. Aber jedwede dieſer verſchiedenen Vorſtellungen iſt eine wahre Empfindungsvorſtellung, und die Jdee und das Urtheil, das dieſer allein nachgehet, iſt ein reines Empfindungs- urtheil. Hat die Phantaſie oder die Dichtkraft an dem Bilde Antheil, hat ſie etwas zugeſetzet oder abgelaſſen,
ſo
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VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
ſem Fall, wo die Lichtſtrahlen von den aͤußerſten Enden
der Objekte unter gleichen Winkeln zuſammenlaufen;
„da muß ſie, wenn ſonſten nichts im Wege ſtehet, das
„Urtheil faͤllen: Ein Gegenſtand iſt ſo groß als der an-
„dere.“
Die reinen Empfindungskenntniſſe ſind ein
großer Schatz, aber auch ſeltener als es gemeiniglich ge-
glaubet wird. Sie machen den reinen und feſten Stoff
aller Kenntniſſe aus, die wir von wirklichen Dingen
haben koͤnnen, und man kann nicht genug darauf drin-
gen, daß ſie mit Sorgfalt geſammlet, und von allen
andern, die es nicht ſind, und bey denen etwas fremdes
den Empfindungsvorſtellungen eingemiſcht iſt, das die
Denkkraft beſtimmet hat, ausgeſondert werden. Laß es
ſeyn, daß ſie nur einſeitige, und oft falſche Kenntniſſe
ſind, die wir nachher wegwerfen, wie das eben angefuͤhr-
te ſinnliche Urtheil, daß der Mond der Sonne faſt
gleich ſey, ſo muß man dieſe reinen Empfindungsurthei-
le doch erſt kennen, ehe man ſie umaͤndert, und auch
alsdenn hoͤren ſie noch nicht auf, brauchbar zu ſeyn.
Weder die Phantaſie, noch die Dichtkraft, ſoll hier
etwas an den Vorſtellungen aͤndern, die von den em-
pfundenen Gegenſtaͤnden gekommen ſind, wenn es reine
Erfahrung bleiben ſoll. Sobald dergleichen geſchicht,
ſo ſind es nicht mehr reine Empfindungskenntniſſe. Die
Empfindung kann ſich ſelbſt aͤndern, und dann die Vor-
ſtellung aus der Empfindung mit ihr. Das iſt ein an-
ders. Jn ſolchen Faͤllen giebt es mehrere verſchiedene
Empfindungen von einerley Sachen. Die Farbe er-
ſcheint bey dem Kerzenlicht anders, als am Tage. Aber
jedwede dieſer verſchiedenen Vorſtellungen iſt eine wahre
Empfindungsvorſtellung, und die Jdee und das Urtheil,
das dieſer allein nachgehet, iſt ein reines Empfindungs-
urtheil. Hat die Phantaſie oder die Dichtkraft an dem
Bilde Antheil, hat ſie etwas zugeſetzet oder abgelaſſen,
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/490>, abgerufen am 21.11.2024.
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