Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
V. Versuch. Ueber den Urspr. unserer
IV.
Wie zuerst die Sonderung der Empfindungen
in verschiedene Theile und Haufen, vor sich
gehe.

Die erste Frage beantworte ich so. Wenn der Mensch
die Begriffe von dem Jn ihm seyn und von dem
außer ihm seyn noch nicht hatte, so konnte doch das
Vergleichungs- und Gewahrnehmungsvermögen die Ein-
drücke von außen durch eben die Kennzeichen von den
innern Veränderungen seiner Selbst unterscheiden, ab-
sondern, und beide zu verschiedenen Klassen hinbringen,
durch welche der Egoist und der Jdealist es thun kann,
der jene Begriffe zwar hat, aber sie wieder aufhebet,
oder doch den letztern für einen bloßen Schein ansiehet.
Die Eindrücke durch das Gesicht und das Gehör -- die
erstern, die sich am klarsten als Eindrücke von dieser Klas-
se auszeichneten -- entstehen ohne eine innere Vorberei-

tung
Empfindungslinien, so zu sagen, ausgehen. Aber
auch diese Erklärung ist sehr unzureichend: ich will das
nicht einmal anführen, was von den Optikern schon
gesagt, und wodurch es völlig bewiesen ist, daß der an-
geführte Grund auch bey den Gesichtsempfindungen es
nicht sey, wonach wir über die Stellen und Entfernun-
gen der Gegenstände urtheilen. Warum setzen wir die
Schallarten und Töne nicht dahin, wo ihr Ursprung
ist? Und um nicht auf anderartige Empfindungen zu
kommen, die uns noch zu wenig bekannt sind, warum
setzen wir nicht bey dem Sehen die Objekte auf die Netz-
haut im Auge hin, da es doch gewiß ist, daß die Licht-
strahlen hier wiederum in Punkte zusammengehen, wel-
che nun auch als die ersten Anfangspunkte zu den wei-
ter in das Gehirn fortgehenden Bewegungslinien an-
gesehen werden können, eben so wohl als die äußern
Punkte auf der Oberfläche der Körper außer dem Auge?
Es scheinet nicht, daß wir in der Analogie der Vorstel-
lung
V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
IV.
Wie zuerſt die Sonderung der Empfindungen
in verſchiedene Theile und Haufen, vor ſich
gehe.

Die erſte Frage beantworte ich ſo. Wenn der Menſch
die Begriffe von dem Jn ihm ſeyn und von dem
außer ihm ſeyn noch nicht hatte, ſo konnte doch das
Vergleichungs- und Gewahrnehmungsvermoͤgen die Ein-
druͤcke von außen durch eben die Kennzeichen von den
innern Veraͤnderungen ſeiner Selbſt unterſcheiden, ab-
ſondern, und beide zu verſchiedenen Klaſſen hinbringen,
durch welche der Egoiſt und der Jdealiſt es thun kann,
der jene Begriffe zwar hat, aber ſie wieder aufhebet,
oder doch den letztern fuͤr einen bloßen Schein anſiehet.
Die Eindruͤcke durch das Geſicht und das Gehoͤr — die
erſtern, die ſich am klarſten als Eindruͤcke von dieſer Klaſ-
ſe auszeichneten — entſtehen ohne eine innere Vorberei-

tung
Empfindungslinien, ſo zu ſagen, ausgehen. Aber
auch dieſe Erklaͤrung iſt ſehr unzureichend: ich will das
nicht einmal anfuͤhren, was von den Optikern ſchon
geſagt, und wodurch es voͤllig bewieſen iſt, daß der an-
gefuͤhrte Grund auch bey den Geſichtsempfindungen es
nicht ſey, wonach wir uͤber die Stellen und Entfernun-
gen der Gegenſtaͤnde urtheilen. Warum ſetzen wir die
Schallarten und Toͤne nicht dahin, wo ihr Urſprung
iſt? Und um nicht auf anderartige Empfindungen zu
kommen, die uns noch zu wenig bekannt ſind, warum
ſetzen wir nicht bey dem Sehen die Objekte auf die Netz-
haut im Auge hin, da es doch gewiß iſt, daß die Licht-
ſtrahlen hier wiederum in Punkte zuſammengehen, wel-
che nun auch als die erſten Anfangspunkte zu den wei-
ter in das Gehirn fortgehenden Bewegungslinien an-
geſehen werden koͤnnen, eben ſo wohl als die aͤußern
Punkte auf der Oberflaͤche der Koͤrper außer dem Auge?
Es ſcheinet nicht, daß wir in der Analogie der Vorſtel-
lung
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0444" n="384"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">V.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Ur&#x017F;pr. un&#x017F;erer</hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">IV.</hi><lb/>
Wie zuer&#x017F;t die Sonderung der Empfindungen<lb/>
in ver&#x017F;chiedene Theile und Haufen, vor &#x017F;ich<lb/>
gehe.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>ie er&#x017F;te Frage beantworte ich &#x017F;o. Wenn der Men&#x017F;ch<lb/>
die Begriffe von dem <hi rendition="#fr">Jn ihm &#x017F;eyn</hi> und von dem<lb/><hi rendition="#fr">außer ihm &#x017F;eyn</hi> noch nicht hatte, &#x017F;o konnte doch das<lb/>
Vergleichungs- und Gewahrnehmungsvermo&#x0364;gen die Ein-<lb/>
dru&#x0364;cke von <hi rendition="#fr">außen</hi> durch eben die Kennzeichen von den<lb/><hi rendition="#fr">innern</hi> Vera&#x0364;nderungen &#x017F;einer Selb&#x017F;t unter&#x017F;cheiden, ab-<lb/>
&#x017F;ondern, und beide zu ver&#x017F;chiedenen Kla&#x017F;&#x017F;en hinbringen,<lb/>
durch welche der Egoi&#x017F;t und der Jdeali&#x017F;t es thun kann,<lb/>
der jene Begriffe zwar hat, aber &#x017F;ie wieder aufhebet,<lb/>
oder doch den letztern fu&#x0364;r einen bloßen Schein an&#x017F;iehet.<lb/>
Die Eindru&#x0364;cke durch das Ge&#x017F;icht und das Geho&#x0364;r &#x2014; die<lb/>
er&#x017F;tern, die &#x017F;ich am klar&#x017F;ten als Eindru&#x0364;cke von die&#x017F;er Kla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;e auszeichneten &#x2014; ent&#x017F;tehen ohne eine innere Vorberei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tung</fw><lb/><note next="#c4" xml:id="c3" prev="#c2" place="foot" n="*)">Empfindungslinien, &#x017F;o zu &#x017F;agen, ausgehen. Aber<lb/>
auch die&#x017F;e Erkla&#x0364;rung i&#x017F;t &#x017F;ehr unzureichend: ich will das<lb/>
nicht einmal anfu&#x0364;hren, was von den Optikern &#x017F;chon<lb/>
ge&#x017F;agt, und wodurch es vo&#x0364;llig bewie&#x017F;en i&#x017F;t, daß der an-<lb/>
gefu&#x0364;hrte Grund auch bey den Ge&#x017F;ichtsempfindungen es<lb/>
nicht &#x017F;ey, wonach wir u&#x0364;ber die Stellen und Entfernun-<lb/>
gen der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde urtheilen. Warum &#x017F;etzen wir die<lb/>
Schallarten und To&#x0364;ne nicht dahin, wo ihr Ur&#x017F;prung<lb/>
i&#x017F;t? Und um nicht auf anderartige Empfindungen zu<lb/>
kommen, die uns noch zu wenig bekannt &#x017F;ind, warum<lb/>
&#x017F;etzen wir nicht bey dem Sehen die Objekte auf die Netz-<lb/>
haut im Auge hin, da es doch gewiß i&#x017F;t, daß die Licht-<lb/>
&#x017F;trahlen hier wiederum in Punkte zu&#x017F;ammengehen, wel-<lb/>
che nun auch als die er&#x017F;ten Anfangspunkte zu den wei-<lb/>
ter in das Gehirn fortgehenden Bewegungslinien an-<lb/>
ge&#x017F;ehen werden ko&#x0364;nnen, eben &#x017F;o wohl als die a&#x0364;ußern<lb/>
Punkte auf der Oberfla&#x0364;che der Ko&#x0364;rper außer dem Auge?<lb/>
Es &#x017F;cheinet nicht, daß wir in der <hi rendition="#fr">Analogie</hi> der Vor&#x017F;tel-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lung</fw></note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[384/0444] V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer IV. Wie zuerſt die Sonderung der Empfindungen in verſchiedene Theile und Haufen, vor ſich gehe. Die erſte Frage beantworte ich ſo. Wenn der Menſch die Begriffe von dem Jn ihm ſeyn und von dem außer ihm ſeyn noch nicht hatte, ſo konnte doch das Vergleichungs- und Gewahrnehmungsvermoͤgen die Ein- druͤcke von außen durch eben die Kennzeichen von den innern Veraͤnderungen ſeiner Selbſt unterſcheiden, ab- ſondern, und beide zu verſchiedenen Klaſſen hinbringen, durch welche der Egoiſt und der Jdealiſt es thun kann, der jene Begriffe zwar hat, aber ſie wieder aufhebet, oder doch den letztern fuͤr einen bloßen Schein anſiehet. Die Eindruͤcke durch das Geſicht und das Gehoͤr — die erſtern, die ſich am klarſten als Eindruͤcke von dieſer Klaſ- ſe auszeichneten — entſtehen ohne eine innere Vorberei- tung *) *) Empfindungslinien, ſo zu ſagen, ausgehen. Aber auch dieſe Erklaͤrung iſt ſehr unzureichend: ich will das nicht einmal anfuͤhren, was von den Optikern ſchon geſagt, und wodurch es voͤllig bewieſen iſt, daß der an- gefuͤhrte Grund auch bey den Geſichtsempfindungen es nicht ſey, wonach wir uͤber die Stellen und Entfernun- gen der Gegenſtaͤnde urtheilen. Warum ſetzen wir die Schallarten und Toͤne nicht dahin, wo ihr Urſprung iſt? Und um nicht auf anderartige Empfindungen zu kommen, die uns noch zu wenig bekannt ſind, warum ſetzen wir nicht bey dem Sehen die Objekte auf die Netz- haut im Auge hin, da es doch gewiß iſt, daß die Licht- ſtrahlen hier wiederum in Punkte zuſammengehen, wel- che nun auch als die erſten Anfangspunkte zu den wei- ter in das Gehirn fortgehenden Bewegungslinien an- geſehen werden koͤnnen, eben ſo wohl als die aͤußern Punkte auf der Oberflaͤche der Koͤrper außer dem Auge? Es ſcheinet nicht, daß wir in der Analogie der Vorſtel- lung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/444
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/444>, abgerufen am 18.12.2024.