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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
rer Grad des erstern ist. Jenen ersten allein kann man
die Vorstellung der Sache in ihrer Besonderheit
nennen;
sie ist das Analogon des Gewahrneh-
mens.

Man sehe solche Unterscheidungen nicht für unnütz-
lich an. Wollen wir doch unsere Psychologie auch ge-
brauchen, um von den Thierseelen bestimmte Begriffe
zu machen, und können wir glauben, daß unsere Scharf-
sinnigkeit so viele unterschiedene Grade, Stufen und
Schritte bemerken werde, als der Schöpfer in den wirk-
lichen Seelen wirklich und wesentlich von einander abge-
sondert hat? Sollten wir mit aller unserer Subtilität
die reellen Unterscheidungen der Natur erreichen? Und
selbst bey der Menschenseele, wie viele Stufen ihrer Ent-
wickelung, auf deren jeder sie, wer weiß, wie lange,
ohne merkliche Fortrückung stille stehet, auf welchen sie
sich selbst nicht beobachten, sondern nur von andern an
äußern Kennzeichen beobachtet werden kann? Bey je-
der reellen Verschiedenheit solcher Stufen kann eine
Grenzlinie so gar für ein ganzes Geschlecht von wirkli-
chen Dingen seyn. Ohne diese genauen Unterschiede zu
bemerken, weiß ich kein Mittel, die wesentlichen Unter-
schiede in den unendlich mannigfaltigen Gattungen von
Seelen und seelenartigen Wesen jemals auch nur als
möglich zu begreifen.

Es ist noch ein anders, eine Sache gewahrneh-
men,
sie als eine besondere Sache zu denken, auszu-
kennen, von andern zu unterscheiden, und ein anders,
diese ihre Besonderheit, welche eine Beziehung auf
andere ist, selbst gewahrzunehmen. Dieser Unter-
schied ist dem Selbstgefühl offenbar. Jn dem ersten
Fall wird die Vorstellung von der Sache abgesondert
und ausgekannt; aber in dem letztern Fall, wenn ich
wissen will, was seine Besonderheit eigentlich sey, muß
die Gewahrnehmung der Sache, als eine Aktion der

Seele

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
rer Grad des erſtern iſt. Jenen erſten allein kann man
die Vorſtellung der Sache in ihrer Beſonderheit
nennen;
ſie iſt das Analogon des Gewahrneh-
mens.

Man ſehe ſolche Unterſcheidungen nicht fuͤr unnuͤtz-
lich an. Wollen wir doch unſere Pſychologie auch ge-
brauchen, um von den Thierſeelen beſtimmte Begriffe
zu machen, und koͤnnen wir glauben, daß unſere Scharf-
ſinnigkeit ſo viele unterſchiedene Grade, Stufen und
Schritte bemerken werde, als der Schoͤpfer in den wirk-
lichen Seelen wirklich und weſentlich von einander abge-
ſondert hat? Sollten wir mit aller unſerer Subtilitaͤt
die reellen Unterſcheidungen der Natur erreichen? Und
ſelbſt bey der Menſchenſeele, wie viele Stufen ihrer Ent-
wickelung, auf deren jeder ſie, wer weiß, wie lange,
ohne merkliche Fortruͤckung ſtille ſtehet, auf welchen ſie
ſich ſelbſt nicht beobachten, ſondern nur von andern an
aͤußern Kennzeichen beobachtet werden kann? Bey je-
der reellen Verſchiedenheit ſolcher Stufen kann eine
Grenzlinie ſo gar fuͤr ein ganzes Geſchlecht von wirkli-
chen Dingen ſeyn. Ohne dieſe genauen Unterſchiede zu
bemerken, weiß ich kein Mittel, die weſentlichen Unter-
ſchiede in den unendlich mannigfaltigen Gattungen von
Seelen und ſeelenartigen Weſen jemals auch nur als
moͤglich zu begreifen.

Es iſt noch ein anders, eine Sache gewahrneh-
men,
ſie als eine beſondere Sache zu denken, auszu-
kennen, von andern zu unterſcheiden, und ein anders,
dieſe ihre Beſonderheit, welche eine Beziehung auf
andere iſt, ſelbſt gewahrzunehmen. Dieſer Unter-
ſchied iſt dem Selbſtgefuͤhl offenbar. Jn dem erſten
Fall wird die Vorſtellung von der Sache abgeſondert
und ausgekannt; aber in dem letztern Fall, wenn ich
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die Gewahrnehmung der Sache, als eine Aktion der

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[352/0412] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft rer Grad des erſtern iſt. Jenen erſten allein kann man die Vorſtellung der Sache in ihrer Beſonderheit nennen; ſie iſt das Analogon des Gewahrneh- mens. Man ſehe ſolche Unterſcheidungen nicht fuͤr unnuͤtz- lich an. Wollen wir doch unſere Pſychologie auch ge- brauchen, um von den Thierſeelen beſtimmte Begriffe zu machen, und koͤnnen wir glauben, daß unſere Scharf- ſinnigkeit ſo viele unterſchiedene Grade, Stufen und Schritte bemerken werde, als der Schoͤpfer in den wirk- lichen Seelen wirklich und weſentlich von einander abge- ſondert hat? Sollten wir mit aller unſerer Subtilitaͤt die reellen Unterſcheidungen der Natur erreichen? Und ſelbſt bey der Menſchenſeele, wie viele Stufen ihrer Ent- wickelung, auf deren jeder ſie, wer weiß, wie lange, ohne merkliche Fortruͤckung ſtille ſtehet, auf welchen ſie ſich ſelbſt nicht beobachten, ſondern nur von andern an aͤußern Kennzeichen beobachtet werden kann? Bey je- der reellen Verſchiedenheit ſolcher Stufen kann eine Grenzlinie ſo gar fuͤr ein ganzes Geſchlecht von wirkli- chen Dingen ſeyn. Ohne dieſe genauen Unterſchiede zu bemerken, weiß ich kein Mittel, die weſentlichen Unter- ſchiede in den unendlich mannigfaltigen Gattungen von Seelen und ſeelenartigen Weſen jemals auch nur als moͤglich zu begreifen. Es iſt noch ein anders, eine Sache gewahrneh- men, ſie als eine beſondere Sache zu denken, auszu- kennen, von andern zu unterſcheiden, und ein anders, dieſe ihre Beſonderheit, welche eine Beziehung auf andere iſt, ſelbſt gewahrzunehmen. Dieſer Unter- ſchied iſt dem Selbſtgefuͤhl offenbar. Jn dem erſten Fall wird die Vorſtellung von der Sache abgeſondert und ausgekannt; aber in dem letztern Fall, wenn ich wiſſen will, was ſeine Beſonderheit eigentlich ſey, muß die Gewahrnehmung der Sache, als eine Aktion der Seele

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/412>, abgerufen am 21.11.2024.