Allein es scheinet in der Natur der Vorstellungen, wenn gleich die vergangene Empfindung völlig und ge- treu wieder dargestellet wird, noch außerdieß eine Ursa- che zu seyn, die es machet, daß eine Vorstellung zuwei- len ein anderes Empfindniß hervorbringet, als die Em- pfindung gethan hat, woran weder die Association, noch eine Absonderung der Jdeen schuld ist. Die Vor- stellungen können allein aus dem Grunde angenehm seyn, weil sie schwächere und minder starke Seelenmodifikatio- nen sind, als die Empfindungen. Da haben sie also eine Beziehung auf die Seele, die der Größe ihres Ver- mögens angemessener ist, die sie nur beschäftiget und spannet, aber nicht überspannet und überwältiget. Da- durch wird das was in der Empfindung ein Schmerz ist, in der Vorstellung zum Kitzel. Und wenn denn einige Unannehmlichkeit aus der Empfindung her auch der Vor- stellung noch ankleben würde, wie es sich zuweilen wirk- lich verhält, so ist dieses Unangenehme doch nicht stark genug, um das entgegengesetzte Vergnügen zu unter- drücken, sondern dienet vielmehr, es zu erhöhen und schmackhafter zu machen. Dieß scheinet doch, wie einige schon bemerket haben, die vornehmste Ursache von dem Vergnügen zu seyn, womit wir tragische Erzählungen anhören, und womit der gemeine Mann den höllischen Proteus lieset. Die Empfindungen des Mitleidens, die mit der Vorstellung verbunden sind, haben nichts schmerz- haftes an sich, oder doch nur wenig, und gewähren eine geheime Wollust, da wo das Mitleiden aus dem An- schauen des Elenden ein wahrer Schmerz ist.
Jch schließe mit dieser Folge. Wo von der affici- renden Kraft einer Vorstellung Grund angegeben wer- den soll, da haben wir drey verschiedene Ursachen, auf die gesehen werden muß. Nemlich, die Empfindung, aus der die Vorstellung ihren Ursprung hat; die Ver- bindung dieser Vorstellungen mit andern Vorstellungen;
und
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
Allein es ſcheinet in der Natur der Vorſtellungen, wenn gleich die vergangene Empfindung voͤllig und ge- treu wieder dargeſtellet wird, noch außerdieß eine Urſa- che zu ſeyn, die es machet, daß eine Vorſtellung zuwei- len ein anderes Empfindniß hervorbringet, als die Em- pfindung gethan hat, woran weder die Aſſociation, noch eine Abſonderung der Jdeen ſchuld iſt. Die Vor- ſtellungen koͤnnen allein aus dem Grunde angenehm ſeyn, weil ſie ſchwaͤchere und minder ſtarke Seelenmodifikatio- nen ſind, als die Empfindungen. Da haben ſie alſo eine Beziehung auf die Seele, die der Groͤße ihres Ver- moͤgens angemeſſener iſt, die ſie nur beſchaͤftiget und ſpannet, aber nicht uͤberſpannet und uͤberwaͤltiget. Da- durch wird das was in der Empfindung ein Schmerz iſt, in der Vorſtellung zum Kitzel. Und wenn denn einige Unannehmlichkeit aus der Empfindung her auch der Vor- ſtellung noch ankleben wuͤrde, wie es ſich zuweilen wirk- lich verhaͤlt, ſo iſt dieſes Unangenehme doch nicht ſtark genug, um das entgegengeſetzte Vergnuͤgen zu unter- druͤcken, ſondern dienet vielmehr, es zu erhoͤhen und ſchmackhafter zu machen. Dieß ſcheinet doch, wie einige ſchon bemerket haben, die vornehmſte Urſache von dem Vergnuͤgen zu ſeyn, womit wir tragiſche Erzaͤhlungen anhoͤren, und womit der gemeine Mann den hoͤlliſchen Proteus lieſet. Die Empfindungen des Mitleidens, die mit der Vorſtellung verbunden ſind, haben nichts ſchmerz- haftes an ſich, oder doch nur wenig, und gewaͤhren eine geheime Wolluſt, da wo das Mitleiden aus dem An- ſchauen des Elenden ein wahrer Schmerz iſt.
Jch ſchließe mit dieſer Folge. Wo von der affici- renden Kraft einer Vorſtellung Grund angegeben wer- den ſoll, da haben wir drey verſchiedene Urſachen, auf die geſehen werden muß. Nemlich, die Empfindung, aus der die Vorſtellung ihren Urſprung hat; die Ver- bindung dieſer Vorſtellungen mit andern Vorſtellungen;
und
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
Allein es ſcheinet in der Natur der Vorſtellungen,
wenn gleich die vergangene Empfindung voͤllig und ge-
treu wieder dargeſtellet wird, noch außerdieß eine Urſa-
che zu ſeyn, die es machet, daß eine Vorſtellung zuwei-
len ein anderes Empfindniß hervorbringet, als die Em-
pfindung gethan hat, woran weder die Aſſociation,
noch eine Abſonderung der Jdeen ſchuld iſt. Die Vor-
ſtellungen koͤnnen allein aus dem Grunde angenehm ſeyn,
weil ſie ſchwaͤchere und minder ſtarke Seelenmodifikatio-
nen ſind, als die Empfindungen. Da haben ſie alſo
eine Beziehung auf die Seele, die der Groͤße ihres Ver-
moͤgens angemeſſener iſt, die ſie nur beſchaͤftiget und
ſpannet, aber nicht uͤberſpannet und uͤberwaͤltiget. Da-
durch wird das was in der Empfindung ein Schmerz iſt,
in der Vorſtellung zum Kitzel. Und wenn denn einige
Unannehmlichkeit aus der Empfindung her auch der Vor-
ſtellung noch ankleben wuͤrde, wie es ſich zuweilen wirk-
lich verhaͤlt, ſo iſt dieſes Unangenehme doch nicht ſtark
genug, um das entgegengeſetzte Vergnuͤgen zu unter-
druͤcken, ſondern dienet vielmehr, es zu erhoͤhen und
ſchmackhafter zu machen. Dieß ſcheinet doch, wie einige
ſchon bemerket haben, die vornehmſte Urſache von dem
Vergnuͤgen zu ſeyn, womit wir tragiſche Erzaͤhlungen
anhoͤren, und womit der gemeine Mann den hoͤlliſchen
Proteus lieſet. Die Empfindungen des Mitleidens, die
mit der Vorſtellung verbunden ſind, haben nichts ſchmerz-
haftes an ſich, oder doch nur wenig, und gewaͤhren eine
geheime Wolluſt, da wo das Mitleiden aus dem An-
ſchauen des Elenden ein wahrer Schmerz iſt.
Jch ſchließe mit dieſer Folge. Wo von der affici-
renden Kraft einer Vorſtellung Grund angegeben wer-
den ſoll, da haben wir drey verſchiedene Urſachen, auf
die geſehen werden muß. Nemlich, die Empfindung,
aus der die Vorſtellung ihren Urſprung hat; die Ver-
bindung dieſer Vorſtellungen mit andern Vorſtellungen;
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/314>, abgerufen am 03.12.2024.
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