Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.II. Versuch. Ueber das Gefühl, Dazu erhellet dieses auch unmittelbar aus den Beobach-tungen. Woher die Lust, die mit der Wiedervorstel- lung einer schönen ehedem gesehenen Gegend verbunden ist? woher das Ergözende in der Erinnerung an die Musik, die das Ohr vorher ergözte, jetzo aber nicht ge- genwärtig ist? Es ist offenbar, daß sie aus den Em- pfindungen her sey. Die Gegenstände sind angenehm und unangenehm in der Phantasie, die es in der Em- pfindung gewesen sind, und sind es desto mehr, je voller und lebhafter die Wiedervorstellung ist, und je mehr sie der ersten Empfindungsvorstellung an Stärke und Leb- haftigkeit gleich kommt. Es können zufällige Ursachen einige Veränderungen hierinn hervorbringen, die beym ersten Anschein für Ausnahmen gehalten werden möchten. Aber wer sie genauer betrachtet, findet, daß sie es nicht sind. Es kann allerdings eine Affektion, die mit einer Empfindung verbunden war, in der Phantasie bey der Wiedervorstellung wegfallen, und die letztere gleichgül- tig werden, da es jene nicht war. Eben so kann sich eine fremde Affektion mit der Vorstellung einer Sache verbinden, die vorher in der Empfindung nicht vor- handen gewesen ist. Man liebet den jetzo, da man ihn verloren hat, den man haßte, da er gegenwärtig war, und umgekehrt. Eine Leidenschaft, die das Gemüth beherrschet, unterdrücket die entgegenstehenden schwächern Empfindnisse, und wird dadurch, wenn diese ihr nach- geben, noch stärker entflammet, wie das Feuer auf dem Heerd eines Schmiedes durch aufgesprütztes Wasser. Alsdenn kann die Erinnerung an angenehme Gegenstän- de schmerzhaft werden; aber nur auf einige Zeit und nur Beziehungsweise. Es können auch unangenehme Jdeen ein Vergnügen verursachen, wenn sie mit der gegenwär- tigen Leidenschaft übereinstimmen, in so ferne sie dem der- maligen Hang der Seele gemäß sind. Ein Betrübter fin- det Nahrung in der Betrübniß. Es
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, Dazu erhellet dieſes auch unmittelbar aus den Beobach-tungen. Woher die Luſt, die mit der Wiedervorſtel- lung einer ſchoͤnen ehedem geſehenen Gegend verbunden iſt? woher das Ergoͤzende in der Erinnerung an die Muſik, die das Ohr vorher ergoͤzte, jetzo aber nicht ge- genwaͤrtig iſt? Es iſt offenbar, daß ſie aus den Em- pfindungen her ſey. Die Gegenſtaͤnde ſind angenehm und unangenehm in der Phantaſie, die es in der Em- pfindung geweſen ſind, und ſind es deſto mehr, je voller und lebhafter die Wiedervorſtellung iſt, und je mehr ſie der erſten Empfindungsvorſtellung an Staͤrke und Leb- haftigkeit gleich kommt. Es koͤnnen zufaͤllige Urſachen einige Veraͤnderungen hierinn hervorbringen, die beym erſten Anſchein fuͤr Ausnahmen gehalten werden moͤchten. Aber wer ſie genauer betrachtet, findet, daß ſie es nicht ſind. Es kann allerdings eine Affektion, die mit einer Empfindung verbunden war, in der Phantaſie bey der Wiedervorſtellung wegfallen, und die letztere gleichguͤl- tig werden, da es jene nicht war. Eben ſo kann ſich eine fremde Affektion mit der Vorſtellung einer Sache verbinden, die vorher in der Empfindung nicht vor- handen geweſen iſt. Man liebet den jetzo, da man ihn verloren hat, den man haßte, da er gegenwaͤrtig war, und umgekehrt. Eine Leidenſchaft, die das Gemuͤth beherrſchet, unterdruͤcket die entgegenſtehenden ſchwaͤchern Empfindniſſe, und wird dadurch, wenn dieſe ihr nach- geben, noch ſtaͤrker entflammet, wie das Feuer auf dem Heerd eines Schmiedes durch aufgeſpruͤtztes Waſſer. Alsdenn kann die Erinnerung an angenehme Gegenſtaͤn- de ſchmerzhaft werden; aber nur auf einige Zeit und nur Beziehungsweiſe. Es koͤnnen auch unangenehme Jdeen ein Vergnuͤgen verurſachen, wenn ſie mit der gegenwaͤr- tigen Leidenſchaft uͤbereinſtimmen, in ſo ferne ſie dem der- maligen Hang der Seele gemaͤß ſind. Ein Betruͤbter fin- det Nahrung in der Betruͤbniß. Es
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
Dazu erhellet dieſes auch unmittelbar aus den Beobach-
tungen. Woher die Luſt, die mit der Wiedervorſtel-
lung einer ſchoͤnen ehedem geſehenen Gegend verbunden
iſt? woher das Ergoͤzende in der Erinnerung an die
Muſik, die das Ohr vorher ergoͤzte, jetzo aber nicht ge-
genwaͤrtig iſt? Es iſt offenbar, daß ſie aus den Em-
pfindungen her ſey. Die Gegenſtaͤnde ſind angenehm
und unangenehm in der Phantaſie, die es in der Em-
pfindung geweſen ſind, und ſind es deſto mehr, je voller
und lebhafter die Wiedervorſtellung iſt, und je mehr ſie
der erſten Empfindungsvorſtellung an Staͤrke und Leb-
haftigkeit gleich kommt. Es koͤnnen zufaͤllige Urſachen
einige Veraͤnderungen hierinn hervorbringen, die beym
erſten Anſchein fuͤr Ausnahmen gehalten werden moͤchten.
Aber wer ſie genauer betrachtet, findet, daß ſie es nicht
ſind. Es kann allerdings eine Affektion, die mit einer
Empfindung verbunden war, in der Phantaſie bey der
Wiedervorſtellung wegfallen, und die letztere gleichguͤl-
tig werden, da es jene nicht war. Eben ſo kann ſich
eine fremde Affektion mit der Vorſtellung einer Sache
verbinden, die vorher in der Empfindung nicht vor-
handen geweſen iſt. Man liebet den jetzo, da man ihn
verloren hat, den man haßte, da er gegenwaͤrtig war,
und umgekehrt. Eine Leidenſchaft, die das Gemuͤth
beherrſchet, unterdruͤcket die entgegenſtehenden ſchwaͤchern
Empfindniſſe, und wird dadurch, wenn dieſe ihr nach-
geben, noch ſtaͤrker entflammet, wie das Feuer auf dem
Heerd eines Schmiedes durch aufgeſpruͤtztes Waſſer.
Alsdenn kann die Erinnerung an angenehme Gegenſtaͤn-
de ſchmerzhaft werden; aber nur auf einige Zeit und nur
Beziehungsweiſe. Es koͤnnen auch unangenehme Jdeen
ein Vergnuͤgen verurſachen, wenn ſie mit der gegenwaͤr-
tigen Leidenſchaft uͤbereinſtimmen, in ſo ferne ſie dem der-
maligen Hang der Seele gemaͤß ſind. Ein Betruͤbter fin-
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