Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

über Empfindungen u. Empfindnisse.
Schmerz mindern oder unterdrücken, oder ihm seinen
Stachel nehmen. Posidonius mußte die Gichtschmerzen
als wahre physische Schmerzen fühlen, und Epictet sei-
nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis-
heit, und stoischen Eigensinn gestärkte Seele, daß das
Gefühl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwärtigen
Gefühls eingeschlossen; und von der Phantasie, von dem
Herzen, dem Triebe und Bestrebungen, wodurch die Un-
ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em-
pfindung kann zur Vorstellung gemacht und mit der
Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird sie gewis-
sermaßen aus der Seele zurückgeschoben, und als ein
Gegenstand der Beobachtung vor ihr hingestellet. Ue-
berdieß kann die innere Selbstthätigkeit der Seele mäch-
tige Quellen entgegengesetzter Empfindungen eröfnen,
um jene Schmerzen zu überströmen; und endlich, kön-
nen selbst die Empfindungskräfte gestärket werden, so
daß die Disproportion zwischen ihnen und zwischen den
auf sie wirkenden Objekten und also auch der wahre phy-
sische Schmerz, selbst das Gefühl als Gefühl in etwas
verändert wird. Alle diese Wirkungen, die man in he-
roischen Seelen antrift, und die entgegengesetzten, die
man bey schwachen, und kleinmüthigen Personen ge-
wahr wird, erklären sich nun so zu sagen von selbst aus
der angegebenen Beziehung, in der die Empfindnisse
auf die bloßen Empfindungen der Gegenstände stehen.



VI. Wei-

uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
Schmerz mindern oder unterdruͤcken, oder ihm ſeinen
Stachel nehmen. Poſidonius mußte die Gichtſchmerzen
als wahre phyſiſche Schmerzen fuͤhlen, und Epictet ſei-
nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis-
heit, und ſtoiſchen Eigenſinn geſtaͤrkte Seele, daß das
Gefuͤhl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwaͤrtigen
Gefuͤhls eingeſchloſſen; und von der Phantaſie, von dem
Herzen, dem Triebe und Beſtrebungen, wodurch die Un-
ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em-
pfindung kann zur Vorſtellung gemacht und mit der
Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird ſie gewiſ-
ſermaßen aus der Seele zuruͤckgeſchoben, und als ein
Gegenſtand der Beobachtung vor ihr hingeſtellet. Ue-
berdieß kann die innere Selbſtthaͤtigkeit der Seele maͤch-
tige Quellen entgegengeſetzter Empfindungen eroͤfnen,
um jene Schmerzen zu uͤberſtroͤmen; und endlich, koͤn-
nen ſelbſt die Empfindungskraͤfte geſtaͤrket werden, ſo
daß die Disproportion zwiſchen ihnen und zwiſchen den
auf ſie wirkenden Objekten und alſo auch der wahre phy-
ſiſche Schmerz, ſelbſt das Gefuͤhl als Gefuͤhl in etwas
veraͤndert wird. Alle dieſe Wirkungen, die man in he-
roiſchen Seelen antrift, und die entgegengeſetzten, die
man bey ſchwachen, und kleinmuͤthigen Perſonen ge-
wahr wird, erklaͤren ſich nun ſo zu ſagen von ſelbſt aus
der angegebenen Beziehung, in der die Empfindniſſe
auf die bloßen Empfindungen der Gegenſtaͤnde ſtehen.



VI. Wei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0279" n="219"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">u&#x0364;ber Empfindungen u. Empfindni&#x017F;&#x017F;e.</hi></fw><lb/>
Schmerz mindern oder unterdru&#x0364;cken, oder ihm &#x017F;einen<lb/>
Stachel nehmen. Po&#x017F;idonius mußte die Gicht&#x017F;chmerzen<lb/>
als wahre phy&#x017F;i&#x017F;che Schmerzen fu&#x0364;hlen, und Epictet &#x017F;ei-<lb/>
nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis-<lb/>
heit, und &#x017F;toi&#x017F;chen Eigen&#x017F;inn ge&#x017F;ta&#x0364;rkte Seele, daß das<lb/>
Gefu&#x0364;hl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwa&#x0364;rtigen<lb/>
Gefu&#x0364;hls einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en; und von der Phanta&#x017F;ie, von dem<lb/>
Herzen, dem Triebe und Be&#x017F;trebungen, wodurch die Un-<lb/>
ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em-<lb/>
pfindung kann zur Vor&#x017F;tellung gemacht und mit der<lb/>
Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird &#x017F;ie gewi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ermaßen aus der Seele zuru&#x0364;ckge&#x017F;choben, und als ein<lb/>
Gegen&#x017F;tand der Beobachtung vor ihr hinge&#x017F;tellet. Ue-<lb/>
berdieß kann die innere Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit der Seele ma&#x0364;ch-<lb/>
tige Quellen entgegenge&#x017F;etzter Empfindungen ero&#x0364;fnen,<lb/>
um jene Schmerzen zu u&#x0364;ber&#x017F;tro&#x0364;men; und endlich, ko&#x0364;n-<lb/>
nen &#x017F;elb&#x017F;t die Empfindungskra&#x0364;fte ge&#x017F;ta&#x0364;rket werden, &#x017F;o<lb/>
daß die Disproportion zwi&#x017F;chen ihnen und zwi&#x017F;chen den<lb/>
auf &#x017F;ie wirkenden Objekten und al&#x017F;o auch der wahre phy-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;che Schmerz, &#x017F;elb&#x017F;t das Gefu&#x0364;hl als Gefu&#x0364;hl in etwas<lb/>
vera&#x0364;ndert wird. Alle die&#x017F;e Wirkungen, die man in he-<lb/>
roi&#x017F;chen Seelen antrift, und die entgegenge&#x017F;etzten, die<lb/>
man bey &#x017F;chwachen, und kleinmu&#x0364;thigen Per&#x017F;onen ge-<lb/>
wahr wird, erkla&#x0364;ren &#x017F;ich nun &#x017F;o zu &#x017F;agen von &#x017F;elb&#x017F;t aus<lb/>
der angegebenen Beziehung, in der die Empfindni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
auf die bloßen Empfindungen der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;tehen.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Wei-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0279] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. Schmerz mindern oder unterdruͤcken, oder ihm ſeinen Stachel nehmen. Poſidonius mußte die Gichtſchmerzen als wahre phyſiſche Schmerzen fuͤhlen, und Epictet ſei- nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis- heit, und ſtoiſchen Eigenſinn geſtaͤrkte Seele, daß das Gefuͤhl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwaͤrtigen Gefuͤhls eingeſchloſſen; und von der Phantaſie, von dem Herzen, dem Triebe und Beſtrebungen, wodurch die Un- ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em- pfindung kann zur Vorſtellung gemacht und mit der Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird ſie gewiſ- ſermaßen aus der Seele zuruͤckgeſchoben, und als ein Gegenſtand der Beobachtung vor ihr hingeſtellet. Ue- berdieß kann die innere Selbſtthaͤtigkeit der Seele maͤch- tige Quellen entgegengeſetzter Empfindungen eroͤfnen, um jene Schmerzen zu uͤberſtroͤmen; und endlich, koͤn- nen ſelbſt die Empfindungskraͤfte geſtaͤrket werden, ſo daß die Disproportion zwiſchen ihnen und zwiſchen den auf ſie wirkenden Objekten und alſo auch der wahre phy- ſiſche Schmerz, ſelbſt das Gefuͤhl als Gefuͤhl in etwas veraͤndert wird. Alle dieſe Wirkungen, die man in he- roiſchen Seelen antrift, und die entgegengeſetzten, die man bey ſchwachen, und kleinmuͤthigen Perſonen ge- wahr wird, erklaͤren ſich nun ſo zu ſagen von ſelbſt aus der angegebenen Beziehung, in der die Empfindniſſe auf die bloßen Empfindungen der Gegenſtaͤnde ſtehen. VI. Wei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/279
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/279>, abgerufen am 10.06.2024.