Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.
Sätze zu Allgemeinsätzen der Erfahrung erho-
ben werden. Jede dieser Operationen hat
ihre Hindernisse. Es giebt bey dem innern
Sinn, wenn nicht mehrere, doch ergiebigere
Quellen zu Blendwerken, als bey dem äußern;
wogegen ich kein Mittel weiß, das wirksam
genug wäre, um sich dafür zu verwahren, als
die Wiederholung derselbigen Beobachtung,
sowohl unter gleichen, als unter verschiedenen
Umständen, und jedesmal mit dem festen Ent-
schluß vorgenommen, das, was wirkliche Em-
pfindung ist, von dem, was hinzu gedichtet
wird, auszufühlen, und jenes stark gewahr
zu nehmen. Wer dieß nicht kann, ist zum
Beobachter der Seele nicht aufgelegt.

Das schlimmste ist, daß man sich am mei-
sten vor der Seelenkraft in Acht zu nehmen
hat, die sonsten die besten Dienste thun kann,
und auch wirklich thun muß, wenn der Blick
in uns selbst etwas eindringen soll. Es ist die
Phantasie, und noch näher die selbstthätige
Dichtkraft, deren Eingebungen nur zu leicht
mit Beobachtungen, und mit Begriffen aus
Beobachtungen verwechselt werden. Jndem
der Verstand das wirklich Vorhandene oder
Gefühlte gewahrnimmt, bemerket, und nach-
her eins mit dem andern vergleichet, so wirket
die selbstthätige Phantasie zur Seite, löset
Bilder auf, und vermischt sie wieder, und
webet fremde Jdeen hinein, die in der Em-
pfindung nicht enthalten waren. Alsdenn ent-
stehet eine Vorstellung in uns, die eine getreue

Abbil-
I. Band. b

Vorrede.
Saͤtze zu Allgemeinſaͤtzen der Erfahrung erho-
ben werden. Jede dieſer Operationen hat
ihre Hinderniſſe. Es giebt bey dem innern
Sinn, wenn nicht mehrere, doch ergiebigere
Quellen zu Blendwerken, als bey dem aͤußern;
wogegen ich kein Mittel weiß, das wirkſam
genug waͤre, um ſich dafuͤr zu verwahren, als
die Wiederholung derſelbigen Beobachtung,
ſowohl unter gleichen, als unter verſchiedenen
Umſtaͤnden, und jedesmal mit dem feſten Ent-
ſchluß vorgenommen, das, was wirkliche Em-
pfindung iſt, von dem, was hinzu gedichtet
wird, auszufuͤhlen, und jenes ſtark gewahr
zu nehmen. Wer dieß nicht kann, iſt zum
Beobachter der Seele nicht aufgelegt.

Das ſchlimmſte iſt, daß man ſich am mei-
ſten vor der Seelenkraft in Acht zu nehmen
hat, die ſonſten die beſten Dienſte thun kann,
und auch wirklich thun muß, wenn der Blick
in uns ſelbſt etwas eindringen ſoll. Es iſt die
Phantaſie, und noch naͤher die ſelbſtthaͤtige
Dichtkraft, deren Eingebungen nur zu leicht
mit Beobachtungen, und mit Begriffen aus
Beobachtungen verwechſelt werden. Jndem
der Verſtand das wirklich Vorhandene oder
Gefuͤhlte gewahrnimmt, bemerket, und nach-
her eins mit dem andern vergleichet, ſo wirket
die ſelbſtthaͤtige Phantaſie zur Seite, loͤſet
Bilder auf, und vermiſcht ſie wieder, und
webet fremde Jdeen hinein, die in der Em-
pfindung nicht enthalten waren. Alsdenn ent-
ſtehet eine Vorſtellung in uns, die eine getreue

Abbil-
I. Band. b
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0021" n="XVII"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vorrede</hi>.</hi></fw><lb/>
Sa&#x0364;tze zu Allgemein&#x017F;a&#x0364;tzen der Erfahrung erho-<lb/>
ben werden. Jede die&#x017F;er Operationen hat<lb/>
ihre Hinderni&#x017F;&#x017F;e. Es giebt bey dem innern<lb/>
Sinn, wenn nicht mehrere, doch ergiebigere<lb/>
Quellen zu Blendwerken, als bey dem a&#x0364;ußern;<lb/>
wogegen ich kein Mittel weiß, das wirk&#x017F;am<lb/>
genug wa&#x0364;re, um &#x017F;ich dafu&#x0364;r zu verwahren, als<lb/>
die Wiederholung der&#x017F;elbigen Beobachtung,<lb/>
&#x017F;owohl unter gleichen, als unter ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nden, und jedesmal mit dem fe&#x017F;ten Ent-<lb/>
&#x017F;chluß vorgenommen, das, was wirkliche Em-<lb/>
pfindung i&#x017F;t, von dem, was hinzu gedichtet<lb/>
wird, auszufu&#x0364;hlen, und jenes &#x017F;tark gewahr<lb/>
zu nehmen. Wer dieß nicht kann, i&#x017F;t zum<lb/>
Beobachter der Seele nicht aufgelegt.</p><lb/>
        <p>Das &#x017F;chlimm&#x017F;te i&#x017F;t, daß man &#x017F;ich am mei-<lb/>
&#x017F;ten vor der Seelenkraft in Acht zu nehmen<lb/>
hat, die &#x017F;on&#x017F;ten die be&#x017F;ten Dien&#x017F;te thun kann,<lb/>
und auch wirklich thun muß, wenn der Blick<lb/>
in uns &#x017F;elb&#x017F;t etwas eindringen &#x017F;oll. Es i&#x017F;t die<lb/>
Phanta&#x017F;ie, und noch na&#x0364;her die &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige<lb/>
Dichtkraft, deren Eingebungen nur zu leicht<lb/>
mit Beobachtungen, und mit Begriffen aus<lb/>
Beobachtungen verwech&#x017F;elt werden. Jndem<lb/>
der Ver&#x017F;tand das wirklich Vorhandene oder<lb/>
Gefu&#x0364;hlte gewahrnimmt, bemerket, und nach-<lb/>
her eins mit dem andern vergleichet, &#x017F;o wirket<lb/>
die &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige Phanta&#x017F;ie zur Seite, lo&#x0364;&#x017F;et<lb/>
Bilder auf, und vermi&#x017F;cht &#x017F;ie wieder, und<lb/>
webet fremde Jdeen hinein, die in der Em-<lb/>
pfindung nicht enthalten waren. Alsdenn ent-<lb/>
&#x017F;tehet eine Vor&#x017F;tellung in uns, die eine getreue<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Band.</hi> b</fw><fw place="bottom" type="catch">Abbil-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XVII/0021] Vorrede. Saͤtze zu Allgemeinſaͤtzen der Erfahrung erho- ben werden. Jede dieſer Operationen hat ihre Hinderniſſe. Es giebt bey dem innern Sinn, wenn nicht mehrere, doch ergiebigere Quellen zu Blendwerken, als bey dem aͤußern; wogegen ich kein Mittel weiß, das wirkſam genug waͤre, um ſich dafuͤr zu verwahren, als die Wiederholung derſelbigen Beobachtung, ſowohl unter gleichen, als unter verſchiedenen Umſtaͤnden, und jedesmal mit dem feſten Ent- ſchluß vorgenommen, das, was wirkliche Em- pfindung iſt, von dem, was hinzu gedichtet wird, auszufuͤhlen, und jenes ſtark gewahr zu nehmen. Wer dieß nicht kann, iſt zum Beobachter der Seele nicht aufgelegt. Das ſchlimmſte iſt, daß man ſich am mei- ſten vor der Seelenkraft in Acht zu nehmen hat, die ſonſten die beſten Dienſte thun kann, und auch wirklich thun muß, wenn der Blick in uns ſelbſt etwas eindringen ſoll. Es iſt die Phantaſie, und noch naͤher die ſelbſtthaͤtige Dichtkraft, deren Eingebungen nur zu leicht mit Beobachtungen, und mit Begriffen aus Beobachtungen verwechſelt werden. Jndem der Verſtand das wirklich Vorhandene oder Gefuͤhlte gewahrnimmt, bemerket, und nach- her eins mit dem andern vergleichet, ſo wirket die ſelbſtthaͤtige Phantaſie zur Seite, loͤſet Bilder auf, und vermiſcht ſie wieder, und webet fremde Jdeen hinein, die in der Em- pfindung nicht enthalten waren. Alsdenn ent- ſtehet eine Vorſtellung in uns, die eine getreue Abbil- I. Band. b

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/21
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. XVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/21>, abgerufen am 06.05.2024.