Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Versuch. Ueber die Natur
baren Anfänge von den übrigen zurückkommen. Es
ist genug, an die Figur der Rose und an ihre Farbe zu
gedenken, um uns zugleich zu erinnern, daß ihr Geruch
von dem Geruch einer andern gegenwärtigen Blume un-
terschieden sey, weil mit der reproducirten Gestalt auch
ein merkbarer Ansatz verbunden ist, die associirte Em-
pfindung des Geruchs wieder zu erwecken. Bis auf die-
sen Anfang oder Ansatz zur Wiederkehr des ehemaligen
Zustandes lassen wir es kommen. So bald aber dieser
bis dahin bemerkbar wird, als es unsre Absicht erfordert;
so bemühen wir uns nicht, die Einbildung noch lebhaf-
ter zu machen.

Bey Menschen mit allen fünf Sinnen haben die
Gesichtsvorstellungen diesen beschriebenen Vorzug; aber
die Rangordnung der übrigen, so ferne sie von der Ein-
richtung der Natur abhängt, ist schwerer zu bestimmen.
Es ist bekannt, wie sehr einige Blinde an die Reproduk-
tion der Gefühlsempfindungen sich gewöhnt haben, und wie
fertig sie darinn geworden sind. Der Sehende wird es
nicht, weil er nicht genöthiget ist, so vielen Fleiß dar-
auf zu verwenden. Aber so weit als die leichtere oder
schwerere Reproducibilität von der Gewohnheit abhän-
get, so weit ist solche auch veränderlich und nicht bey al-
len Menschen von der nemlichen Größe. Der Tonkünst-
ler faßt und behält es leichter, feiner und vollständiger,
wie der Canarienvogel singet, als der Maler, der sei-
ne Farbe und Gestalt genauer und deutlicher bemerket.
Ein Koch und ein Kellermeister und der Mann mit ei-
nem delicaten Gaum haben wahrscheinlicher Weise leb-
haftere und völligere Wiedervorstellungen von den Em-
pfindungen des Geschmacks, als andre Menschen, die
nach dem Genuß der Speise es bald zu vergessen pflegen,
wie sie geschmecket haben.

VII.

I. Verſuch. Ueber die Natur
baren Anfaͤnge von den uͤbrigen zuruͤckkommen. Es
iſt genug, an die Figur der Roſe und an ihre Farbe zu
gedenken, um uns zugleich zu erinnern, daß ihr Geruch
von dem Geruch einer andern gegenwaͤrtigen Blume un-
terſchieden ſey, weil mit der reproducirten Geſtalt auch
ein merkbarer Anſatz verbunden iſt, die aſſociirte Em-
pfindung des Geruchs wieder zu erwecken. Bis auf die-
ſen Anfang oder Anſatz zur Wiederkehr des ehemaligen
Zuſtandes laſſen wir es kommen. So bald aber dieſer
bis dahin bemerkbar wird, als es unſre Abſicht erfordert;
ſo bemuͤhen wir uns nicht, die Einbildung noch lebhaf-
ter zu machen.

Bey Menſchen mit allen fuͤnf Sinnen haben die
Geſichtsvorſtellungen dieſen beſchriebenen Vorzug; aber
die Rangordnung der uͤbrigen, ſo ferne ſie von der Ein-
richtung der Natur abhaͤngt, iſt ſchwerer zu beſtimmen.
Es iſt bekannt, wie ſehr einige Blinde an die Reproduk-
tion der Gefuͤhlsempfindungen ſich gewoͤhnt haben, und wie
fertig ſie darinn geworden ſind. Der Sehende wird es
nicht, weil er nicht genoͤthiget iſt, ſo vielen Fleiß dar-
auf zu verwenden. Aber ſo weit als die leichtere oder
ſchwerere Reproducibilitaͤt von der Gewohnheit abhaͤn-
get, ſo weit iſt ſolche auch veraͤnderlich und nicht bey al-
len Menſchen von der nemlichen Groͤße. Der Tonkuͤnſt-
ler faßt und behaͤlt es leichter, feiner und vollſtaͤndiger,
wie der Canarienvogel ſinget, als der Maler, der ſei-
ne Farbe und Geſtalt genauer und deutlicher bemerket.
Ein Koch und ein Kellermeiſter und der Mann mit ei-
nem delicaten Gaum haben wahrſcheinlicher Weiſe leb-
haftere und voͤlligere Wiedervorſtellungen von den Em-
pfindungen des Geſchmacks, als andre Menſchen, die
nach dem Genuß der Speiſe es bald zu vergeſſen pflegen,
wie ſie geſchmecket haben.

VII.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0104" n="44"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Natur</hi></fw><lb/>
baren Anfa&#x0364;nge von den u&#x0364;brigen zuru&#x0364;ckkommen. Es<lb/>
i&#x017F;t genug, an die Figur der Ro&#x017F;e und an ihre Farbe zu<lb/>
gedenken, um uns zugleich zu erinnern, daß ihr Geruch<lb/>
von dem Geruch einer andern gegenwa&#x0364;rtigen Blume un-<lb/>
ter&#x017F;chieden &#x017F;ey, weil mit der reproducirten Ge&#x017F;talt auch<lb/>
ein merkbarer An&#x017F;atz verbunden i&#x017F;t, die a&#x017F;&#x017F;ociirte Em-<lb/>
pfindung des Geruchs wieder zu erwecken. Bis auf die-<lb/>
&#x017F;en Anfang oder An&#x017F;atz zur Wiederkehr des ehemaligen<lb/>
Zu&#x017F;tandes la&#x017F;&#x017F;en wir es kommen. So bald aber die&#x017F;er<lb/>
bis dahin bemerkbar wird, als es un&#x017F;re Ab&#x017F;icht erfordert;<lb/>
&#x017F;o bemu&#x0364;hen wir uns nicht, die Einbildung noch lebhaf-<lb/>
ter zu machen.</p><lb/>
          <p>Bey Men&#x017F;chen mit allen fu&#x0364;nf Sinnen haben die<lb/>
Ge&#x017F;ichtsvor&#x017F;tellungen die&#x017F;en be&#x017F;chriebenen Vorzug; aber<lb/>
die Rangordnung der u&#x0364;brigen, &#x017F;o ferne &#x017F;ie von der Ein-<lb/>
richtung der Natur abha&#x0364;ngt, i&#x017F;t &#x017F;chwerer zu be&#x017F;timmen.<lb/>
Es i&#x017F;t bekannt, wie &#x017F;ehr einige Blinde an die Reproduk-<lb/>
tion der Gefu&#x0364;hlsempfindungen &#x017F;ich gewo&#x0364;hnt haben, und wie<lb/>
fertig &#x017F;ie darinn geworden &#x017F;ind. Der Sehende wird es<lb/>
nicht, weil er nicht geno&#x0364;thiget i&#x017F;t, &#x017F;o vielen Fleiß dar-<lb/>
auf zu verwenden. Aber &#x017F;o weit als die leichtere oder<lb/>
&#x017F;chwerere Reproducibilita&#x0364;t von der Gewohnheit abha&#x0364;n-<lb/>
get, &#x017F;o weit i&#x017F;t &#x017F;olche auch vera&#x0364;nderlich und nicht bey al-<lb/>
len Men&#x017F;chen von der nemlichen Gro&#x0364;ße. Der Tonku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
ler faßt und beha&#x0364;lt es leichter, feiner und voll&#x017F;ta&#x0364;ndiger,<lb/>
wie der Canarienvogel &#x017F;inget, als der Maler, der &#x017F;ei-<lb/>
ne Farbe und Ge&#x017F;talt genauer und deutlicher bemerket.<lb/>
Ein Koch und ein Kellermei&#x017F;ter und der Mann mit ei-<lb/>
nem delicaten Gaum haben wahr&#x017F;cheinlicher Wei&#x017F;e leb-<lb/>
haftere und vo&#x0364;lligere Wiedervor&#x017F;tellungen von den Em-<lb/>
pfindungen des Ge&#x017F;chmacks, als andre Men&#x017F;chen, die<lb/>
nach dem Genuß der Spei&#x017F;e es bald zu verge&#x017F;&#x017F;en pflegen,<lb/>
wie &#x017F;ie ge&#x017F;chmecket haben.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">VII.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0104] I. Verſuch. Ueber die Natur baren Anfaͤnge von den uͤbrigen zuruͤckkommen. Es iſt genug, an die Figur der Roſe und an ihre Farbe zu gedenken, um uns zugleich zu erinnern, daß ihr Geruch von dem Geruch einer andern gegenwaͤrtigen Blume un- terſchieden ſey, weil mit der reproducirten Geſtalt auch ein merkbarer Anſatz verbunden iſt, die aſſociirte Em- pfindung des Geruchs wieder zu erwecken. Bis auf die- ſen Anfang oder Anſatz zur Wiederkehr des ehemaligen Zuſtandes laſſen wir es kommen. So bald aber dieſer bis dahin bemerkbar wird, als es unſre Abſicht erfordert; ſo bemuͤhen wir uns nicht, die Einbildung noch lebhaf- ter zu machen. Bey Menſchen mit allen fuͤnf Sinnen haben die Geſichtsvorſtellungen dieſen beſchriebenen Vorzug; aber die Rangordnung der uͤbrigen, ſo ferne ſie von der Ein- richtung der Natur abhaͤngt, iſt ſchwerer zu beſtimmen. Es iſt bekannt, wie ſehr einige Blinde an die Reproduk- tion der Gefuͤhlsempfindungen ſich gewoͤhnt haben, und wie fertig ſie darinn geworden ſind. Der Sehende wird es nicht, weil er nicht genoͤthiget iſt, ſo vielen Fleiß dar- auf zu verwenden. Aber ſo weit als die leichtere oder ſchwerere Reproducibilitaͤt von der Gewohnheit abhaͤn- get, ſo weit iſt ſolche auch veraͤnderlich und nicht bey al- len Menſchen von der nemlichen Groͤße. Der Tonkuͤnſt- ler faßt und behaͤlt es leichter, feiner und vollſtaͤndiger, wie der Canarienvogel ſinget, als der Maler, der ſei- ne Farbe und Geſtalt genauer und deutlicher bemerket. Ein Koch und ein Kellermeiſter und der Mann mit ei- nem delicaten Gaum haben wahrſcheinlicher Weiſe leb- haftere und voͤlligere Wiedervorſtellungen von den Em- pfindungen des Geſchmacks, als andre Menſchen, die nach dem Genuß der Speiſe es bald zu vergeſſen pflegen, wie ſie geſchmecket haben. VII.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/104
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/104>, abgerufen am 22.11.2024.