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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungen.
größere Leichtigkeit, womit die Selbstkraft der Seele
das, was sie dabey zu bewirken hat, hervorbringen kann.

Die Vorstellungen des Gesichts haben große
Vorzüge vor den Vorstellungen aus den übrigen äußern
Sinnen, wodurch vielleicht einige Philosophen in ihren
Untersuchungen über den menschlichen Verstand verleitet
worden sind, gegen die letztern ungerecht zu seyn. Die
Griechen benannten die Vorstellungen, wenn man sie
als Zeichen ihrer Gegenstände gebrauchet, Jdeen vom
Sehen, und es ist gewöhnlich zu glauben, man habe
nur alsdenn erst eine Vorstellung von einer Sache, wenn
man so ein Bild davon in sich hat, als man erhält,
wenn man sie sehen kann. Die übrigen Vorstellungen
scheinen von dem Wesentlichen der Jdeen und Bilder
von Gegenständen wenig oder nichts an sich zu haben.
Nun ist es zwar offenbar, daß der Vorzug der Gesichts-
vorstellungen in mancher Hinsicht allein sehr groß ist;
das Gesicht ist der Sinn des Verstandes. Aber diese
Vorzüge bestehen doch nur in Graden, und nicht im
Wesentlichen, in so ferne sie nemlich Vorstellungen für
uus sind. Denn die Vorstellungen des Geruchs und
des Geschmacks sind in eben dem Sinn Vorstellungen,
wie es die Bilder des Gesichts sind, und haben diesel-
bige Natur als Vorstellungen; nur so vollkommne, so
auseinandergesetzte, so leicht reproducible, und dahero so
allgemeinbrauchbare Vorstellungen sind sie nicht.

Unter die Vorzüge des Gesichts gehöret zuvörderst
folgender, der zugleich ein Grund von mehrern andern
ist. Die Nachempfindungen dieses Sinnes bestehen
eine längere Zeit in uns, nachdem die sinnlichen Einwir-
kungen der äußern Gegenstände schon aufgehöret haben,
als die Nachempfindungen des Gehörs und des Gefühls.
Die einzele beobachtbare Eindrücke auf das Gefühl er-
halten sich kaum durch eine halb so lange Zeit, als die
Nachempfindungen des Gehörs, und diese letztern ver-

schwin-
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der Vorſtellungen.
groͤßere Leichtigkeit, womit die Selbſtkraft der Seele
das, was ſie dabey zu bewirken hat, hervorbringen kann.

Die Vorſtellungen des Geſichts haben große
Vorzuͤge vor den Vorſtellungen aus den uͤbrigen aͤußern
Sinnen, wodurch vielleicht einige Philoſophen in ihren
Unterſuchungen uͤber den menſchlichen Verſtand verleitet
worden ſind, gegen die letztern ungerecht zu ſeyn. Die
Griechen benannten die Vorſtellungen, wenn man ſie
als Zeichen ihrer Gegenſtaͤnde gebrauchet, Jdeen vom
Sehen, und es iſt gewoͤhnlich zu glauben, man habe
nur alsdenn erſt eine Vorſtellung von einer Sache, wenn
man ſo ein Bild davon in ſich hat, als man erhaͤlt,
wenn man ſie ſehen kann. Die uͤbrigen Vorſtellungen
ſcheinen von dem Weſentlichen der Jdeen und Bilder
von Gegenſtaͤnden wenig oder nichts an ſich zu haben.
Nun iſt es zwar offenbar, daß der Vorzug der Geſichts-
vorſtellungen in mancher Hinſicht allein ſehr groß iſt;
das Geſicht iſt der Sinn des Verſtandes. Aber dieſe
Vorzuͤge beſtehen doch nur in Graden, und nicht im
Weſentlichen, in ſo ferne ſie nemlich Vorſtellungen fuͤr
uus ſind. Denn die Vorſtellungen des Geruchs und
des Geſchmacks ſind in eben dem Sinn Vorſtellungen,
wie es die Bilder des Geſichts ſind, und haben dieſel-
bige Natur als Vorſtellungen; nur ſo vollkommne, ſo
auseinandergeſetzte, ſo leicht reproducible, und dahero ſo
allgemeinbrauchbare Vorſtellungen ſind ſie nicht.

Unter die Vorzuͤge des Geſichts gehoͤret zuvoͤrderſt
folgender, der zugleich ein Grund von mehrern andern
iſt. Die Nachempfindungen dieſes Sinnes beſtehen
eine laͤngere Zeit in uns, nachdem die ſinnlichen Einwir-
kungen der aͤußern Gegenſtaͤnde ſchon aufgehoͤret haben,
als die Nachempfindungen des Gehoͤrs und des Gefuͤhls.
Die einzele beobachtbare Eindruͤcke auf das Gefuͤhl er-
halten ſich kaum durch eine halb ſo lange Zeit, als die
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[41/0101] der Vorſtellungen. groͤßere Leichtigkeit, womit die Selbſtkraft der Seele das, was ſie dabey zu bewirken hat, hervorbringen kann. Die Vorſtellungen des Geſichts haben große Vorzuͤge vor den Vorſtellungen aus den uͤbrigen aͤußern Sinnen, wodurch vielleicht einige Philoſophen in ihren Unterſuchungen uͤber den menſchlichen Verſtand verleitet worden ſind, gegen die letztern ungerecht zu ſeyn. Die Griechen benannten die Vorſtellungen, wenn man ſie als Zeichen ihrer Gegenſtaͤnde gebrauchet, Jdeen vom Sehen, und es iſt gewoͤhnlich zu glauben, man habe nur alsdenn erſt eine Vorſtellung von einer Sache, wenn man ſo ein Bild davon in ſich hat, als man erhaͤlt, wenn man ſie ſehen kann. Die uͤbrigen Vorſtellungen ſcheinen von dem Weſentlichen der Jdeen und Bilder von Gegenſtaͤnden wenig oder nichts an ſich zu haben. Nun iſt es zwar offenbar, daß der Vorzug der Geſichts- vorſtellungen in mancher Hinſicht allein ſehr groß iſt; das Geſicht iſt der Sinn des Verſtandes. Aber dieſe Vorzuͤge beſtehen doch nur in Graden, und nicht im Weſentlichen, in ſo ferne ſie nemlich Vorſtellungen fuͤr uus ſind. Denn die Vorſtellungen des Geruchs und des Geſchmacks ſind in eben dem Sinn Vorſtellungen, wie es die Bilder des Geſichts ſind, und haben dieſel- bige Natur als Vorſtellungen; nur ſo vollkommne, ſo auseinandergeſetzte, ſo leicht reproducible, und dahero ſo allgemeinbrauchbare Vorſtellungen ſind ſie nicht. Unter die Vorzuͤge des Geſichts gehoͤret zuvoͤrderſt folgender, der zugleich ein Grund von mehrern andern iſt. Die Nachempfindungen dieſes Sinnes beſtehen eine laͤngere Zeit in uns, nachdem die ſinnlichen Einwir- kungen der aͤußern Gegenſtaͤnde ſchon aufgehoͤret haben, als die Nachempfindungen des Gehoͤrs und des Gefuͤhls. Die einzele beobachtbare Eindruͤcke auf das Gefuͤhl er- halten ſich kaum durch eine halb ſo lange Zeit, als die Nachempfindungen des Gehoͤrs, und dieſe letztern ver- ſchwin- C 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/101>, abgerufen am 21.11.2024.