Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840.276. Die Steinprobe. In der Stubnitz auf Rügen, nicht weit von dem Herthasee, findet man einen Stein, in welchem man deutlich die Spuren eines großen Fußes und eines ganz kleinen Kinderfußes abgedrückt sieht. Davon erzählt man sich Folgendes: Zur Zeit als noch der Dienst der Göttin Hertha auf der Insel bestand, war unter den Jungfrauen, die der Göttin zu ihrem Dienste geweihet waren, ein junges und sehr schönes Mädchen; diese, obgleich sie der Göttin ewige Jungfrauschaft hatte geloben müssen, hatte eine Liebschaft mit einem fremden jungen Ritter, mit dem sie allnächtlich heimliche Zusammenkünfte an den Ufern des heiligen Sees hielt. Sie hatte ihre Liebe aber nicht so geheim halten können, daß nicht dem Oberpriester der Göttin Kunde davon geworden wäre. Diesem wurde es hinterbracht, daß eine der Jungfrauen strafbarer Liebe pflege: nur welche es sey, konnte man ihm nicht sagen. Der Priester stellte alle Jungfrauen zur Rede; aber keine bekannte, auch die Schuldige nicht, obgleich sie die Folgen ihres verbotenen Umgangs schon verspürte und sich Mutter fühlte. Da rief er die Göttin an, daß sie ihm die Schuldige durch ein Wunder entdecken möge, und er führte nun sämmtliche Jungfrauen in den Wald zu einem großen Opfersteine. Dort befahl er ihnen, daß sie eine nach der andern mit nacktem Fuße auf den Stein treten mußten. Das thaten sie, und als die Schuldige den Stein betrat, da offenbarte sich plötzlich ihr Vergehen; denn nicht nur ihr eigner Fuß drückte in dem harten Steine sich ab, sondern auch der Fuß des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trug. Dies sind die Fußspuren, die man zum ewigen Wahrzeichen noch jetzt in dem Steine sieht. Der Priester soll darauf die Sünderin oben von der Stubbenkammer 276. Die Steinprobe. In der Stubnitz auf Rügen, nicht weit von dem Herthasee, findet man einen Stein, in welchem man deutlich die Spuren eines großen Fußes und eines ganz kleinen Kinderfußes abgedrückt sieht. Davon erzählt man sich Folgendes: Zur Zeit als noch der Dienst der Göttin Hertha auf der Insel bestand, war unter den Jungfrauen, die der Göttin zu ihrem Dienste geweihet waren, ein junges und sehr schönes Mädchen; diese, obgleich sie der Göttin ewige Jungfrauschaft hatte geloben müssen, hatte eine Liebschaft mit einem fremden jungen Ritter, mit dem sie allnächtlich heimliche Zusammenkünfte an den Ufern des heiligen Sees hielt. Sie hatte ihre Liebe aber nicht so geheim halten können, daß nicht dem Oberpriester der Göttin Kunde davon geworden wäre. Diesem wurde es hinterbracht, daß eine der Jungfrauen strafbarer Liebe pflege: nur welche es sey, konnte man ihm nicht sagen. Der Priester stellte alle Jungfrauen zur Rede; aber keine bekannte, auch die Schuldige nicht, obgleich sie die Folgen ihres verbotenen Umgangs schon verspürte und sich Mutter fühlte. Da rief er die Göttin an, daß sie ihm die Schuldige durch ein Wunder entdecken möge, und er führte nun sämmtliche Jungfrauen in den Wald zu einem großen Opfersteine. Dort befahl er ihnen, daß sie eine nach der andern mit nacktem Fuße auf den Stein treten mußten. Das thaten sie, und als die Schuldige den Stein betrat, da offenbarte sich plötzlich ihr Vergehen; denn nicht nur ihr eigner Fuß drückte in dem harten Steine sich ab, sondern auch der Fuß des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trug. Dies sind die Fußspuren, die man zum ewigen Wahrzeichen noch jetzt in dem Steine sieht. Der Priester soll darauf die Sünderin oben von der Stubbenkammer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0355" n="323"/> <div n="2"> <head>276. 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Der Priester stellte alle Jungfrauen zur Rede; aber keine bekannte, auch die Schuldige nicht, obgleich sie die Folgen ihres verbotenen Umgangs schon verspürte und sich Mutter fühlte. Da rief er die Göttin an, daß sie ihm die Schuldige durch ein Wunder entdecken möge, und er führte nun sämmtliche Jungfrauen in den Wald zu einem großen Opfersteine. Dort befahl er ihnen, daß sie eine nach der andern mit nacktem Fuße auf den Stein treten mußten. Das thaten sie, und als die Schuldige den Stein betrat, da offenbarte sich plötzlich ihr Vergehen; denn nicht nur ihr eigner Fuß drückte in dem harten Steine sich ab, sondern auch der Fuß des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trug. Dies sind die Fußspuren, die man zum ewigen Wahrzeichen noch jetzt in dem Steine sieht. Der Priester soll darauf die Sünderin oben von der Stubbenkammer </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [323/0355]
276. Die Steinprobe.
In der Stubnitz auf Rügen, nicht weit von dem Herthasee, findet man einen Stein, in welchem man deutlich die Spuren eines großen Fußes und eines ganz kleinen Kinderfußes abgedrückt sieht. Davon erzählt man sich Folgendes: Zur Zeit als noch der Dienst der Göttin Hertha auf der Insel bestand, war unter den Jungfrauen, die der Göttin zu ihrem Dienste geweihet waren, ein junges und sehr schönes Mädchen; diese, obgleich sie der Göttin ewige Jungfrauschaft hatte geloben müssen, hatte eine Liebschaft mit einem fremden jungen Ritter, mit dem sie allnächtlich heimliche Zusammenkünfte an den Ufern des heiligen Sees hielt. Sie hatte ihre Liebe aber nicht so geheim halten können, daß nicht dem Oberpriester der Göttin Kunde davon geworden wäre. Diesem wurde es hinterbracht, daß eine der Jungfrauen strafbarer Liebe pflege: nur welche es sey, konnte man ihm nicht sagen. Der Priester stellte alle Jungfrauen zur Rede; aber keine bekannte, auch die Schuldige nicht, obgleich sie die Folgen ihres verbotenen Umgangs schon verspürte und sich Mutter fühlte. Da rief er die Göttin an, daß sie ihm die Schuldige durch ein Wunder entdecken möge, und er führte nun sämmtliche Jungfrauen in den Wald zu einem großen Opfersteine. Dort befahl er ihnen, daß sie eine nach der andern mit nacktem Fuße auf den Stein treten mußten. Das thaten sie, und als die Schuldige den Stein betrat, da offenbarte sich plötzlich ihr Vergehen; denn nicht nur ihr eigner Fuß drückte in dem harten Steine sich ab, sondern auch der Fuß des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trug. Dies sind die Fußspuren, die man zum ewigen Wahrzeichen noch jetzt in dem Steine sieht. Der Priester soll darauf die Sünderin oben von der Stubbenkammer
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Zitationshilfe: | Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/temme_volkssagen_1840/355>, abgerufen am 16.07.2024. |