Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Lan
flüchtige Zeichnungen, aber mit richtiger Anlage des
Colorits herausgäbe. Eine solche Folge von Blättern
würde für angehende Landschaftmahler höchst nüz-
lich seyn; denn daraus könnten sie am besten, den
großen Einflus des einfallenden Lichts kennen lernen.

Was über das besondere der Zeichnung und des
ausgeführten Colorits anzumerken ist, könnte in
einer einzigen Regel vorgetragen werden; aber das
beste Genie hat das ganze Leben eines Menschen
nöthig, um alles zu lernen, was diese einzige Regel
fodert. Jn Zeichnung und Farbe, muß alles so
natürlich seyn, daß das Aug völlig getänscht wird,
und nicht eine gemahlte, sondern würkliche Land-
schaft zu sehen glaubt; man muß Wärme und
Kälte, frische, erquikende, und schwüle niederdrü-
kende Luft, zu empfinden glauben; man muß den
rieselnden Bach, oder den rauschenden Strohm,
nicht nur würklich zu sehen, sondern auch zu hören
glauben; das Harte des steinigten Bodens, und
das Weiche des Mooses einigermaaßen von Ferne
fühlen; kurz jeder Gegenstand muß nach Maaßge-
bung seiner Entfernung und Erleuchtung so gezeich-
net und gemahlt seyn, daß nicht nur das Aug ihn
erkennet, sondern auch den übrigen Sinnen die Ver-
sicherung giebt, sie würden ihn so, wie in der Na-
tur empfinden. Dieses ist der höchste Grad der voll-
kommenen Bearbeitung, den selbst die größten Mei-
ster, nicht allemal erreicht haben. Dazu wird außer dem
Genie ein ausnehmend fleißiges Studiren erfodert.

Vor allen zum Studiren gehörigen Dingen,
muß der Landschaftmahler die Perspektiv so voll-
kommen, wie der Rechenmeister sein Einmaleins
besizen. Es ist höchlich zu bedauern, daß auch
gute Künstler, die aus den Landschaften ihr Haupt-
werk machen, dieses Studium verabsäumen, ohne
welches schlechterdings keine Landschaft vollkommen
seyn kann. Die würkliche Zeichnung nach der Na-
tur macht die Kenntnis der Perspektiv nicht über-
flüßig. Es geschieht höchst selten, daß eine Landschaft
ganz, ohne daß etwas wegzulassen, oder hinzuzusezen
wäre, dem Mahler dienen könnte; dazu aber muß
er nothwendig die Perspektiv verstehen, und wenn
er auch nur einen Baum hinsezen wollte. Und wäre
sein Augenmaaß noch so richtig, so wird er im Nach-
zeichnen der Natur gewiß Fehler begehen, bald in
der Richtung der Linien, bald in der Größe: in die-
sem Fall aber, wird die Täuschung nie vollkommen
seyn. Denn obgleich der, welcher die gemahlte
[Spaltenumbruch]

Lan
Landschaft siehet, nichts von der Perspekriv ver-
steht, ob er gleich die Fehler nicht erkennet, so fühlt
er sie; so wie der, welcher nichts von der Harmonie
der Töne weiß, empfindet, was ein reiner oder un-
reiner Ton ist. Die genaue Beobachtung der Per-
spektiv ist so wichtig, daß sie allein beynahe hinrei-
chend ist, die Täuschung zu bewürken. Jch habe
perspektivische Zeichnungen gesehen, die durch bloße
Umrisse, ohne Licht und Schatten, ohne Farben,
mir beynahe die Natur selbst empfinden ließen. Die
Verabsäumung dieses so wichtigen Theils der Kunst,
wär izt um so viel weniger zu verzeihen, da man nun,
besonders nach dem was Hr. Lambert zu Erleichte-
rung der Perspektiv gethan hat, (*) in wenigen
Monaten, die ganze Kunst lernen kann.

Jn Ansehung der freyen Zeichnung, stehen nicht
wenige in dem Vorurtheil, daß der Landschaftmahler
eben kein Raphael seyn dürfe. Aber diese beden-
ken nicht, was für ein durchdringendes Aug, was
für eine Meisterhand erfodert werde, von so unzäh-
ligen Gegenständen, als die leblose Natur allein
darbiethet, jedem seine eigenthümliche Form und
seinen Charakter zu geben; besonders, da dieses
eigenthümliche meistentheils aus solchen Modisicatio-
nen der Form besteht, die sich blos empfinden, aber
nie deutlich erkennen lassen. Was gehöret nicht
dazu, nur jedem Vaume den eigentlichen Charakter
seiner Art zu geben, daß man ihn auch in der Ferne
erkennet? Aber der Landschaftmahler arbeitet selten,
ohne sittliche Handlung vorzustellen: je mehr er da
von Raphaels Talenten hat, je glüklicher wird er
seyn. Selten bringet er uns seine Figuren so nahe
ans Auge, daß wir den Charakter und die gegen-
wärtigen Gedanken der Personen in ihren Gesichtern
lesen könnten: aber desto schwerer wird es ihm eben
dieses durch Stellung und Gebehrden anzuzeigen.
Rur ein vorzügliches Genie kann dieses erreichen; da
hier keine Regel und kein Ausmessen der Verhältnisse
statt haben kann: aber das Genie muß durch uner-
müdetes Studium und tägliche Zeichnung aller Gat-
tung natürlicher Formen, recht ausgebildet werden.

Von allen Geheimnissen des Colorits, därf dem
Landschaftmahler keines unbekannt seyn; weil erst
dadurch jeder Theil der Landschaft sein wahres Leben
bekommt. Wichtiger ist hier, als in allen andern
Gattungen der beste Ton, und die vollkommenste
Harmonie der Farben. Jede Jahreszeit und selbst
jede Tageszeit hat ihren eigenen Ton, der ungemein

viel
(*) S.
Perspektiv.
Zweyter Theil. Oo oo

[Spaltenumbruch]

Lan
fluͤchtige Zeichnungen, aber mit richtiger Anlage des
Colorits herausgaͤbe. Eine ſolche Folge von Blaͤttern
wuͤrde fuͤr angehende Landſchaftmahler hoͤchſt nuͤz-
lich ſeyn; denn daraus koͤnnten ſie am beſten, den
großen Einflus des einfallenden Lichts kennen lernen.

Was uͤber das beſondere der Zeichnung und des
ausgefuͤhrten Colorits anzumerken iſt, koͤnnte in
einer einzigen Regel vorgetragen werden; aber das
beſte Genie hat das ganze Leben eines Menſchen
noͤthig, um alles zu lernen, was dieſe einzige Regel
fodert. Jn Zeichnung und Farbe, muß alles ſo
natuͤrlich ſeyn, daß das Aug voͤllig getaͤnſcht wird,
und nicht eine gemahlte, ſondern wuͤrkliche Land-
ſchaft zu ſehen glaubt; man muß Waͤrme und
Kaͤlte, friſche, erquikende, und ſchwuͤle niederdruͤ-
kende Luft, zu empfinden glauben; man muß den
rieſelnden Bach, oder den rauſchenden Strohm,
nicht nur wuͤrklich zu ſehen, ſondern auch zu hoͤren
glauben; das Harte des ſteinigten Bodens, und
das Weiche des Mooſes einigermaaßen von Ferne
fuͤhlen; kurz jeder Gegenſtand muß nach Maaßge-
bung ſeiner Entfernung und Erleuchtung ſo gezeich-
net und gemahlt ſeyn, daß nicht nur das Aug ihn
erkennet, ſondern auch den uͤbrigen Sinnen die Ver-
ſicherung giebt, ſie wuͤrden ihn ſo, wie in der Na-
tur empfinden. Dieſes iſt der hoͤchſte Grad der voll-
kommenen Bearbeitung, den ſelbſt die groͤßten Mei-
ſter, nicht allemal erreicht haben. Dazu wird außer dem
Genie ein ausnehmend fleißiges Studiren erfodert.

Vor allen zum Studiren gehoͤrigen Dingen,
muß der Landſchaftmahler die Perſpektiv ſo voll-
kommen, wie der Rechenmeiſter ſein Einmaleins
beſizen. Es iſt hoͤchlich zu bedauern, daß auch
gute Kuͤnſtler, die aus den Landſchaften ihr Haupt-
werk machen, dieſes Studium verabſaͤumen, ohne
welches ſchlechterdings keine Landſchaft vollkommen
ſeyn kann. Die wuͤrkliche Zeichnung nach der Na-
tur macht die Kenntnis der Perſpektiv nicht uͤber-
fluͤßig. Es geſchieht hoͤchſt ſelten, daß eine Landſchaft
ganz, ohne daß etwas wegzulaſſen, oder hinzuzuſezen
waͤre, dem Mahler dienen koͤnnte; dazu aber muß
er nothwendig die Perſpektiv verſtehen, und wenn
er auch nur einen Baum hinſezen wollte. Und waͤre
ſein Augenmaaß noch ſo richtig, ſo wird er im Nach-
zeichnen der Natur gewiß Fehler begehen, bald in
der Richtung der Linien, bald in der Groͤße: in die-
ſem Fall aber, wird die Taͤuſchung nie vollkommen
ſeyn. Denn obgleich der, welcher die gemahlte
[Spaltenumbruch]

Lan
Landſchaft ſiehet, nichts von der Perſpekriv ver-
ſteht, ob er gleich die Fehler nicht erkennet, ſo fuͤhlt
er ſie; ſo wie der, welcher nichts von der Harmonie
der Toͤne weiß, empfindet, was ein reiner oder un-
reiner Ton iſt. Die genaue Beobachtung der Per-
ſpektiv iſt ſo wichtig, daß ſie allein beynahe hinrei-
chend iſt, die Taͤuſchung zu bewuͤrken. Jch habe
perſpektiviſche Zeichnungen geſehen, die durch bloße
Umriſſe, ohne Licht und Schatten, ohne Farben,
mir beynahe die Natur ſelbſt empfinden ließen. Die
Verabſaͤumung dieſes ſo wichtigen Theils der Kunſt,
waͤr izt um ſo viel weniger zu verzeihen, da man nun,
beſonders nach dem was Hr. Lambert zu Erleichte-
rung der Perſpektiv gethan hat, (*) in wenigen
Monaten, die ganze Kunſt lernen kann.

Jn Anſehung der freyen Zeichnung, ſtehen nicht
wenige in dem Vorurtheil, daß der Landſchaftmahler
eben kein Raphael ſeyn duͤrfe. Aber dieſe beden-
ken nicht, was fuͤr ein durchdringendes Aug, was
fuͤr eine Meiſterhand erfodert werde, von ſo unzaͤh-
ligen Gegenſtaͤnden, als die lebloſe Natur allein
darbiethet, jedem ſeine eigenthuͤmliche Form und
ſeinen Charakter zu geben; beſonders, da dieſes
eigenthuͤmliche meiſtentheils aus ſolchen Modiſicatio-
nen der Form beſteht, die ſich blos empfinden, aber
nie deutlich erkennen laſſen. Was gehoͤret nicht
dazu, nur jedem Vaume den eigentlichen Charakter
ſeiner Art zu geben, daß man ihn auch in der Ferne
erkennet? Aber der Landſchaftmahler arbeitet ſelten,
ohne ſittliche Handlung vorzuſtellen: je mehr er da
von Raphaels Talenten hat, je gluͤklicher wird er
ſeyn. Selten bringet er uns ſeine Figuren ſo nahe
ans Auge, daß wir den Charakter und die gegen-
waͤrtigen Gedanken der Perſonen in ihren Geſichtern
leſen koͤnnten: aber deſto ſchwerer wird es ihm eben
dieſes durch Stellung und Gebehrden anzuzeigen.
Rur ein vorzuͤgliches Genie kann dieſes erreichen; da
hier keine Regel und kein Ausmeſſen der Verhaͤltniſſe
ſtatt haben kann: aber das Genie muß durch uner-
muͤdetes Studium und taͤgliche Zeichnung aller Gat-
tung natuͤrlicher Formen, recht ausgebildet werden.

Von allen Geheimniſſen des Colorits, daͤrf dem
Landſchaftmahler keines unbekannt ſeyn; weil erſt
dadurch jeder Theil der Landſchaft ſein wahres Leben
bekommt. Wichtiger iſt hier, als in allen andern
Gattungen der beſte Ton, und die vollkommenſte
Harmonie der Farben. Jede Jahreszeit und ſelbſt
jede Tageszeit hat ihren eigenen Ton, der ungemein

viel
(*) S.
Perſpektiv.
Zweyter Theil. Oo oo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0092" n="675[657]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Lan</hi></fw><lb/>
flu&#x0364;chtige Zeichnungen, aber mit richtiger Anlage des<lb/>
Colorits herausga&#x0364;be. Eine &#x017F;olche Folge von Bla&#x0364;ttern<lb/>
wu&#x0364;rde fu&#x0364;r angehende Land&#x017F;chaftmahler ho&#x0364;ch&#x017F;t nu&#x0364;z-<lb/>
lich &#x017F;eyn; denn daraus ko&#x0364;nnten &#x017F;ie am be&#x017F;ten, den<lb/>
großen Einflus des einfallenden Lichts kennen lernen.</p><lb/>
          <p>Was u&#x0364;ber das be&#x017F;ondere der Zeichnung und des<lb/>
ausgefu&#x0364;hrten Colorits anzumerken i&#x017F;t, ko&#x0364;nnte in<lb/>
einer einzigen Regel vorgetragen werden; aber das<lb/>
be&#x017F;te Genie hat das ganze Leben eines Men&#x017F;chen<lb/>
no&#x0364;thig, um alles zu lernen, was die&#x017F;e einzige Regel<lb/>
fodert. Jn Zeichnung und Farbe, muß alles &#x017F;o<lb/>
natu&#x0364;rlich &#x017F;eyn, daß das Aug vo&#x0364;llig geta&#x0364;n&#x017F;cht wird,<lb/>
und nicht eine gemahlte, &#x017F;ondern wu&#x0364;rkliche Land-<lb/>
&#x017F;chaft zu &#x017F;ehen glaubt; man muß Wa&#x0364;rme und<lb/>
Ka&#x0364;lte, fri&#x017F;che, erquikende, und &#x017F;chwu&#x0364;le niederdru&#x0364;-<lb/>
kende Luft, zu empfinden glauben; man muß den<lb/>
rie&#x017F;elnden Bach, oder den rau&#x017F;chenden Strohm,<lb/>
nicht nur wu&#x0364;rklich zu &#x017F;ehen, &#x017F;ondern auch zu ho&#x0364;ren<lb/>
glauben; das Harte des &#x017F;teinigten Bodens, und<lb/>
das Weiche des Moo&#x017F;es einigermaaßen von Ferne<lb/>
fu&#x0364;hlen; kurz jeder Gegen&#x017F;tand muß nach Maaßge-<lb/>
bung &#x017F;einer Entfernung und Erleuchtung &#x017F;o gezeich-<lb/>
net und gemahlt &#x017F;eyn, daß nicht nur das Aug ihn<lb/>
erkennet, &#x017F;ondern auch den u&#x0364;brigen Sinnen die Ver-<lb/>
&#x017F;icherung giebt, &#x017F;ie wu&#x0364;rden ihn &#x017F;o, wie in der Na-<lb/>
tur empfinden. Die&#x017F;es i&#x017F;t der ho&#x0364;ch&#x017F;te Grad der voll-<lb/>
kommenen Bearbeitung, den &#x017F;elb&#x017F;t die gro&#x0364;ßten Mei-<lb/>
&#x017F;ter, nicht allemal erreicht haben. Dazu wird außer dem<lb/>
Genie ein ausnehmend fleißiges Studiren erfodert.</p><lb/>
          <p>Vor allen zum Studiren geho&#x0364;rigen Dingen,<lb/>
muß der Land&#x017F;chaftmahler die Per&#x017F;pektiv &#x017F;o voll-<lb/>
kommen, wie der Rechenmei&#x017F;ter &#x017F;ein <hi rendition="#fr">Einmaleins</hi><lb/>
be&#x017F;izen. Es i&#x017F;t ho&#x0364;chlich zu bedauern, daß auch<lb/>
gute Ku&#x0364;n&#x017F;tler, die aus den Land&#x017F;chaften ihr Haupt-<lb/>
werk machen, die&#x017F;es Studium verab&#x017F;a&#x0364;umen, ohne<lb/>
welches &#x017F;chlechterdings keine Land&#x017F;chaft vollkommen<lb/>
&#x017F;eyn kann. Die wu&#x0364;rkliche Zeichnung nach der Na-<lb/>
tur macht die Kenntnis der Per&#x017F;pektiv nicht u&#x0364;ber-<lb/>
flu&#x0364;ßig. Es ge&#x017F;chieht ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;elten, daß eine Land&#x017F;chaft<lb/>
ganz, ohne daß etwas wegzula&#x017F;&#x017F;en, oder hinzuzu&#x017F;ezen<lb/>
wa&#x0364;re, dem Mahler dienen ko&#x0364;nnte; dazu aber muß<lb/>
er nothwendig die Per&#x017F;pektiv ver&#x017F;tehen, und wenn<lb/>
er auch nur einen Baum hin&#x017F;ezen wollte. Und wa&#x0364;re<lb/>
&#x017F;ein Augenmaaß noch &#x017F;o richtig, &#x017F;o wird er im Nach-<lb/>
zeichnen der Natur gewiß Fehler begehen, bald in<lb/>
der Richtung der Linien, bald in der Gro&#x0364;ße: in die-<lb/>
&#x017F;em Fall aber, wird die Ta&#x0364;u&#x017F;chung nie vollkommen<lb/>
&#x017F;eyn. Denn obgleich der, welcher die gemahlte<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Lan</hi></fw><lb/>
Land&#x017F;chaft &#x017F;iehet, nichts von der Per&#x017F;pekriv ver-<lb/>
&#x017F;teht, ob er gleich die Fehler nicht erkennet, &#x017F;o fu&#x0364;hlt<lb/>
er &#x017F;ie; &#x017F;o wie der, welcher nichts von der Harmonie<lb/>
der To&#x0364;ne weiß, empfindet, was ein reiner oder un-<lb/>
reiner Ton i&#x017F;t. Die genaue Beobachtung der Per-<lb/>
&#x017F;pektiv i&#x017F;t &#x017F;o wichtig, daß &#x017F;ie allein beynahe hinrei-<lb/>
chend i&#x017F;t, die Ta&#x0364;u&#x017F;chung zu bewu&#x0364;rken. Jch habe<lb/>
per&#x017F;pektivi&#x017F;che Zeichnungen ge&#x017F;ehen, die durch bloße<lb/>
Umri&#x017F;&#x017F;e, ohne Licht und Schatten, ohne Farben,<lb/>
mir beynahe die Natur &#x017F;elb&#x017F;t empfinden ließen. Die<lb/>
Verab&#x017F;a&#x0364;umung die&#x017F;es &#x017F;o wichtigen Theils der Kun&#x017F;t,<lb/>
wa&#x0364;r izt um &#x017F;o viel weniger zu verzeihen, da man nun,<lb/>
be&#x017F;onders nach dem was Hr. Lambert zu Erleichte-<lb/>
rung der Per&#x017F;pektiv gethan hat, <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Per&#x017F;pektiv.</note> in wenigen<lb/>
Monaten, die ganze Kun&#x017F;t lernen kann.</p><lb/>
          <p>Jn An&#x017F;ehung der freyen Zeichnung, &#x017F;tehen nicht<lb/>
wenige in dem Vorurtheil, daß der Land&#x017F;chaftmahler<lb/>
eben kein Raphael &#x017F;eyn du&#x0364;rfe. Aber die&#x017F;e beden-<lb/>
ken nicht, was fu&#x0364;r ein durchdringendes Aug, was<lb/>
fu&#x0364;r eine Mei&#x017F;terhand erfodert werde, von &#x017F;o unza&#x0364;h-<lb/>
ligen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden, als die leblo&#x017F;e Natur allein<lb/>
darbiethet, jedem &#x017F;eine eigenthu&#x0364;mliche Form und<lb/>
&#x017F;einen Charakter zu geben; be&#x017F;onders, da die&#x017F;es<lb/>
eigenthu&#x0364;mliche mei&#x017F;tentheils aus &#x017F;olchen Modi&#x017F;icatio-<lb/>
nen der Form be&#x017F;teht, die &#x017F;ich blos empfinden, aber<lb/>
nie deutlich erkennen la&#x017F;&#x017F;en. Was geho&#x0364;ret nicht<lb/>
dazu, nur jedem Vaume den eigentlichen Charakter<lb/>
&#x017F;einer Art zu geben, daß man ihn auch in der Ferne<lb/>
erkennet? Aber der Land&#x017F;chaftmahler arbeitet &#x017F;elten,<lb/>
ohne &#x017F;ittliche Handlung vorzu&#x017F;tellen: je mehr er da<lb/>
von Raphaels Talenten hat, je glu&#x0364;klicher wird er<lb/>
&#x017F;eyn. Selten bringet er uns &#x017F;eine Figuren &#x017F;o nahe<lb/>
ans Auge, daß wir den Charakter und die gegen-<lb/>
wa&#x0364;rtigen Gedanken der Per&#x017F;onen in ihren Ge&#x017F;ichtern<lb/>
le&#x017F;en ko&#x0364;nnten: aber de&#x017F;to &#x017F;chwerer wird es ihm eben<lb/>
die&#x017F;es durch Stellung und Gebehrden anzuzeigen.<lb/>
Rur ein vorzu&#x0364;gliches Genie kann die&#x017F;es erreichen; da<lb/>
hier keine Regel und kein Ausme&#x017F;&#x017F;en der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x017F;tatt haben kann: aber das Genie muß durch uner-<lb/>
mu&#x0364;detes Studium und ta&#x0364;gliche Zeichnung aller Gat-<lb/>
tung natu&#x0364;rlicher Formen, recht ausgebildet werden.</p><lb/>
          <p>Von allen Geheimni&#x017F;&#x017F;en des Colorits, da&#x0364;rf dem<lb/>
Land&#x017F;chaftmahler keines unbekannt &#x017F;eyn; weil er&#x017F;t<lb/>
dadurch jeder Theil der Land&#x017F;chaft &#x017F;ein wahres Leben<lb/>
bekommt. Wichtiger i&#x017F;t hier, als in allen andern<lb/>
Gattungen der be&#x017F;te Ton, und die vollkommen&#x017F;te<lb/>
Harmonie der Farben. Jede Jahreszeit und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
jede Tageszeit hat ihren eigenen Ton, der ungemein<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Zweyter Theil.</hi> Oo oo</fw><fw place="bottom" type="catch">viel</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[675[657]/0092] Lan Lan fluͤchtige Zeichnungen, aber mit richtiger Anlage des Colorits herausgaͤbe. Eine ſolche Folge von Blaͤttern wuͤrde fuͤr angehende Landſchaftmahler hoͤchſt nuͤz- lich ſeyn; denn daraus koͤnnten ſie am beſten, den großen Einflus des einfallenden Lichts kennen lernen. Was uͤber das beſondere der Zeichnung und des ausgefuͤhrten Colorits anzumerken iſt, koͤnnte in einer einzigen Regel vorgetragen werden; aber das beſte Genie hat das ganze Leben eines Menſchen noͤthig, um alles zu lernen, was dieſe einzige Regel fodert. Jn Zeichnung und Farbe, muß alles ſo natuͤrlich ſeyn, daß das Aug voͤllig getaͤnſcht wird, und nicht eine gemahlte, ſondern wuͤrkliche Land- ſchaft zu ſehen glaubt; man muß Waͤrme und Kaͤlte, friſche, erquikende, und ſchwuͤle niederdruͤ- kende Luft, zu empfinden glauben; man muß den rieſelnden Bach, oder den rauſchenden Strohm, nicht nur wuͤrklich zu ſehen, ſondern auch zu hoͤren glauben; das Harte des ſteinigten Bodens, und das Weiche des Mooſes einigermaaßen von Ferne fuͤhlen; kurz jeder Gegenſtand muß nach Maaßge- bung ſeiner Entfernung und Erleuchtung ſo gezeich- net und gemahlt ſeyn, daß nicht nur das Aug ihn erkennet, ſondern auch den uͤbrigen Sinnen die Ver- ſicherung giebt, ſie wuͤrden ihn ſo, wie in der Na- tur empfinden. Dieſes iſt der hoͤchſte Grad der voll- kommenen Bearbeitung, den ſelbſt die groͤßten Mei- ſter, nicht allemal erreicht haben. Dazu wird außer dem Genie ein ausnehmend fleißiges Studiren erfodert. Vor allen zum Studiren gehoͤrigen Dingen, muß der Landſchaftmahler die Perſpektiv ſo voll- kommen, wie der Rechenmeiſter ſein Einmaleins beſizen. Es iſt hoͤchlich zu bedauern, daß auch gute Kuͤnſtler, die aus den Landſchaften ihr Haupt- werk machen, dieſes Studium verabſaͤumen, ohne welches ſchlechterdings keine Landſchaft vollkommen ſeyn kann. Die wuͤrkliche Zeichnung nach der Na- tur macht die Kenntnis der Perſpektiv nicht uͤber- fluͤßig. Es geſchieht hoͤchſt ſelten, daß eine Landſchaft ganz, ohne daß etwas wegzulaſſen, oder hinzuzuſezen waͤre, dem Mahler dienen koͤnnte; dazu aber muß er nothwendig die Perſpektiv verſtehen, und wenn er auch nur einen Baum hinſezen wollte. Und waͤre ſein Augenmaaß noch ſo richtig, ſo wird er im Nach- zeichnen der Natur gewiß Fehler begehen, bald in der Richtung der Linien, bald in der Groͤße: in die- ſem Fall aber, wird die Taͤuſchung nie vollkommen ſeyn. Denn obgleich der, welcher die gemahlte Landſchaft ſiehet, nichts von der Perſpekriv ver- ſteht, ob er gleich die Fehler nicht erkennet, ſo fuͤhlt er ſie; ſo wie der, welcher nichts von der Harmonie der Toͤne weiß, empfindet, was ein reiner oder un- reiner Ton iſt. Die genaue Beobachtung der Per- ſpektiv iſt ſo wichtig, daß ſie allein beynahe hinrei- chend iſt, die Taͤuſchung zu bewuͤrken. Jch habe perſpektiviſche Zeichnungen geſehen, die durch bloße Umriſſe, ohne Licht und Schatten, ohne Farben, mir beynahe die Natur ſelbſt empfinden ließen. Die Verabſaͤumung dieſes ſo wichtigen Theils der Kunſt, waͤr izt um ſo viel weniger zu verzeihen, da man nun, beſonders nach dem was Hr. Lambert zu Erleichte- rung der Perſpektiv gethan hat, (*) in wenigen Monaten, die ganze Kunſt lernen kann. Jn Anſehung der freyen Zeichnung, ſtehen nicht wenige in dem Vorurtheil, daß der Landſchaftmahler eben kein Raphael ſeyn duͤrfe. Aber dieſe beden- ken nicht, was fuͤr ein durchdringendes Aug, was fuͤr eine Meiſterhand erfodert werde, von ſo unzaͤh- ligen Gegenſtaͤnden, als die lebloſe Natur allein darbiethet, jedem ſeine eigenthuͤmliche Form und ſeinen Charakter zu geben; beſonders, da dieſes eigenthuͤmliche meiſtentheils aus ſolchen Modiſicatio- nen der Form beſteht, die ſich blos empfinden, aber nie deutlich erkennen laſſen. Was gehoͤret nicht dazu, nur jedem Vaume den eigentlichen Charakter ſeiner Art zu geben, daß man ihn auch in der Ferne erkennet? Aber der Landſchaftmahler arbeitet ſelten, ohne ſittliche Handlung vorzuſtellen: je mehr er da von Raphaels Talenten hat, je gluͤklicher wird er ſeyn. Selten bringet er uns ſeine Figuren ſo nahe ans Auge, daß wir den Charakter und die gegen- waͤrtigen Gedanken der Perſonen in ihren Geſichtern leſen koͤnnten: aber deſto ſchwerer wird es ihm eben dieſes durch Stellung und Gebehrden anzuzeigen. Rur ein vorzuͤgliches Genie kann dieſes erreichen; da hier keine Regel und kein Ausmeſſen der Verhaͤltniſſe ſtatt haben kann: aber das Genie muß durch uner- muͤdetes Studium und taͤgliche Zeichnung aller Gat- tung natuͤrlicher Formen, recht ausgebildet werden. Von allen Geheimniſſen des Colorits, daͤrf dem Landſchaftmahler keines unbekannt ſeyn; weil erſt dadurch jeder Theil der Landſchaft ſein wahres Leben bekommt. Wichtiger iſt hier, als in allen andern Gattungen der beſte Ton, und die vollkommenſte Harmonie der Farben. Jede Jahreszeit und ſelbſt jede Tageszeit hat ihren eigenen Ton, der ungemein viel (*) S. Perſpektiv. Zweyter Theil. Oo oo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/92
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 675[657]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/92>, abgerufen am 25.11.2024.