Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Läch Lag
zuüben, daß man die Geseze gegen sie gar nicht
brauchen kann. Diese können nur mit der Geisel
des Spötters gezüchtiget werden; es ist die einzige
Art sich an ihnen zu rächen. Bessern kann man
sich nicht dadurch; dieses ist auch nicht die Absicht
des Spötters, er will ihnen nur wehe thun; und
er thut wol daran. Denn kann doch noch das gute
daraus erfolgen, daß der Bösewicht in allgemeine
Verachtung kommt, die ihm in fernerer Ausübung
seiner Boßheit doch große Hindernisse in dem Weg
legen kann. Wer in allgemeiner Verachtung steht,
ist selten fürchterlich.

Wer unternihmt einen großen Missethäter, dem
man durch die Geseze nicht beykommen kann, ver-
ächtlich zu machen, hat auch nicht nöthig in seinen
Spöttereyen so sehr sorgfältig zu seyn. Auch der
Pöbel muß seiner spotten; folglich ist alles, was ihn
beschimpfen kann, gut gegen ihn. Können feinere
Köpfe nicht lachen, wann Tartüffe sich in seiner
verliebten Tollheit so grob hintergehen läßt; so se-
hen sie es doch gerne, daß der Pöbel darüber lacht.
Auch die unwahrscheinlichste Narrheit, der man ihn
beschuldiget, kann gute Würkung thun. Aristo-
phanes beschuldiget den Sokrates in seinen Wolken
so viel grober Narrheiten, daß kein Verständiger
darüber wird gelacht haben; aber manchem einfäl-
tigen Manne mag der Philosoph dadurch verächtlich
worden seyn.

Die sogenannte alte Comödie in Athen, gab den
Dichtern Gelegenheit das Lächerliche zu diesem Ge-
brauch anzuwenden. Vielleicht war nie ein Mensch
in dieser Art Spötterey geschickter, als Aristopha-
nes. Unsre heutigen Staatsverfassungen haben
diesen Gebrauch entweder völlig, oder doch größten-
theils gehemmet. Hievon aber wird an einem an-
dern Orte gesprochen werden. (*)

Lage der Sachen.
(Schöne Künste.)

Durch die Lage der Sachen, die man auch mit
dem französischen Wort Situation ausdrükt, ver-
steht man die Beschaffenheit aller zu einer Hand-
lung oder Begebenheit gehörigen Dinge, in einem
gewissen Zeitpunkt der Handlung, in welchem man
das Gegenwärtige, als eine Würkung dessen, das
vorhergegangen und als eine Ursache dessen, das
[Spaltenumbruch]

Lag
noch erfolgen soll, ansiehet. Wenn wir uns den
Augenblik vorstellen, da Cäsar von Brutus und sei-
nen Mitverschwornen soll umgebracht werden; in
diesem Augenblik aber die Handlung als stille ste-
hend betrachten, um jedes einzele, das dazu gehört
zu bemerken; die gegenwärtigen Personen, ihre
Gedanken und Empfindungen, den Ort und andre
Umstände, und dieses alles auf einmal, wie in ei-
nem Grundris vor uns haben, so fassen wir die
gegenwärtige Lage der Sachen.

Jn diesen Umständen stellt man sich etwas, das
geschehen soll, vor, und hat auf einmal viel Dinge,
die man als mitwürkend, oder als leidend ansieht
vor Augen; die Neugierde wird gereizt; man er-
wartet mit Aufmerksamkeit den Erfolg von so vielen
auf einmal zusammenkommenden mit- oder gegen
einander würkenden Dingen. Jst die Handlung
an sich selbst wichtig, und izt auf einen merkwürdi-
digen Zeitpunkt gekommen, so besinden wir alsdenn
uns selbst, als Zuschauer, in einem merkwürdigen
Zustande, voll Neugierde, Würksamkeit und Erwar-
tung. Ein solcher Zustand hat ungemein reizendes
für lebhafte Gemüther, und es scheinet, daß wir
das Vergnügen unsrer Existenz nie vollkommener
genießen, als in solchen Umständen. Welcher
Mensch könnte in einem solchen Falle ohne den bit-
tersten Verdruß sich in der Nothwendigkeit befinden,
sein Aug von der Scene wegzuwenden, ehe seine
Neugierde über die Erwartungen dessen, was ge-
schehen soll, befriediget ist?

Deswegen ist in dem Umfange der schönen Künste
nichts, das uns so sehr gefällt, als merkwürdige
Lagen der Sachen bey wichtigen Handlungen oder
Begebenheiten. Dergleichen auszudenken, und
deutlich vor Augen zu legen, ist einer der wichtigsten
Talente des Künstlers. Man siehet leicht, daß das
Merkwürdige einer Lage in dem nahe scheinenden
und unvermeidlichen Ausbruch solcher Dinge bestehe,
die lebhafte Leidenschaften erweken. Das, was wir
vor uns sehen, sezt uns in Erwartung, die mit
Furcht, oder Hofnung, mit Verlangen, oder Ban-
gigkeit begleitet ist. Je mehr Leidenschaften dabey
rege werden, je mehr intreßirt die Lage der Sachen.
Schon Dinge, deren Erfolg uns gleichgültig ist,
können sich in einer Lage befinden, die uns blos aus
Neugierd sehr intreßirt. Man wünscht zu sehen,
wie die Sachen, die wir verwikelt, gegen einander
streitend, sehen, aus einander gehen werden.

Die
(*) S.
Satyre.
N n n n 2

[Spaltenumbruch]

Laͤch Lag
zuuͤben, daß man die Geſeze gegen ſie gar nicht
brauchen kann. Dieſe koͤnnen nur mit der Geiſel
des Spoͤtters gezuͤchtiget werden; es iſt die einzige
Art ſich an ihnen zu raͤchen. Beſſern kann man
ſich nicht dadurch; dieſes iſt auch nicht die Abſicht
des Spoͤtters, er will ihnen nur wehe thun; und
er thut wol daran. Denn kann doch noch das gute
daraus erfolgen, daß der Boͤſewicht in allgemeine
Verachtung kommt, die ihm in fernerer Ausuͤbung
ſeiner Boßheit doch große Hinderniſſe in dem Weg
legen kann. Wer in allgemeiner Verachtung ſteht,
iſt ſelten fuͤrchterlich.

Wer unternihmt einen großen Miſſethaͤter, dem
man durch die Geſeze nicht beykommen kann, ver-
aͤchtlich zu machen, hat auch nicht noͤthig in ſeinen
Spoͤttereyen ſo ſehr ſorgfaͤltig zu ſeyn. Auch der
Poͤbel muß ſeiner ſpotten; folglich iſt alles, was ihn
beſchimpfen kann, gut gegen ihn. Koͤnnen feinere
Koͤpfe nicht lachen, wann Tartuͤffe ſich in ſeiner
verliebten Tollheit ſo grob hintergehen laͤßt; ſo ſe-
hen ſie es doch gerne, daß der Poͤbel daruͤber lacht.
Auch die unwahrſcheinlichſte Narrheit, der man ihn
beſchuldiget, kann gute Wuͤrkung thun. Ariſto-
phanes beſchuldiget den Sokrates in ſeinen Wolken
ſo viel grober Narrheiten, daß kein Verſtaͤndiger
daruͤber wird gelacht haben; aber manchem einfaͤl-
tigen Manne mag der Philoſoph dadurch veraͤchtlich
worden ſeyn.

Die ſogenannte alte Comoͤdie in Athen, gab den
Dichtern Gelegenheit das Laͤcherliche zu dieſem Ge-
brauch anzuwenden. Vielleicht war nie ein Menſch
in dieſer Art Spoͤtterey geſchickter, als Ariſtopha-
nes. Unſre heutigen Staatsverfaſſungen haben
dieſen Gebrauch entweder voͤllig, oder doch groͤßten-
theils gehemmet. Hievon aber wird an einem an-
dern Orte geſprochen werden. (*)

Lage der Sachen.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Durch die Lage der Sachen, die man auch mit
dem franzoͤſiſchen Wort Situation ausdruͤkt, ver-
ſteht man die Beſchaffenheit aller zu einer Hand-
lung oder Begebenheit gehoͤrigen Dinge, in einem
gewiſſen Zeitpunkt der Handlung, in welchem man
das Gegenwaͤrtige, als eine Wuͤrkung deſſen, das
vorhergegangen und als eine Urſache deſſen, das
[Spaltenumbruch]

Lag
noch erfolgen ſoll, anſiehet. Wenn wir uns den
Augenblik vorſtellen, da Caͤſar von Brutus und ſei-
nen Mitverſchwornen ſoll umgebracht werden; in
dieſem Augenblik aber die Handlung als ſtille ſte-
hend betrachten, um jedes einzele, das dazu gehoͤrt
zu bemerken; die gegenwaͤrtigen Perſonen, ihre
Gedanken und Empfindungen, den Ort und andre
Umſtaͤnde, und dieſes alles auf einmal, wie in ei-
nem Grundris vor uns haben, ſo faſſen wir die
gegenwaͤrtige Lage der Sachen.

Jn dieſen Umſtaͤnden ſtellt man ſich etwas, das
geſchehen ſoll, vor, und hat auf einmal viel Dinge,
die man als mitwuͤrkend, oder als leidend anſieht
vor Augen; die Neugierde wird gereizt; man er-
wartet mit Aufmerkſamkeit den Erfolg von ſo vielen
auf einmal zuſammenkommenden mit- oder gegen
einander wuͤrkenden Dingen. Jſt die Handlung
an ſich ſelbſt wichtig, und izt auf einen merkwuͤrdi-
digen Zeitpunkt gekommen, ſo beſinden wir alsdenn
uns ſelbſt, als Zuſchauer, in einem merkwuͤrdigen
Zuſtande, voll Neugierde, Wuͤrkſamkeit und Erwar-
tung. Ein ſolcher Zuſtand hat ungemein reizendes
fuͤr lebhafte Gemuͤther, und es ſcheinet, daß wir
das Vergnuͤgen unſrer Exiſtenz nie vollkommener
genießen, als in ſolchen Umſtaͤnden. Welcher
Menſch koͤnnte in einem ſolchen Falle ohne den bit-
terſten Verdruß ſich in der Nothwendigkeit befinden,
ſein Aug von der Scene wegzuwenden, ehe ſeine
Neugierde uͤber die Erwartungen deſſen, was ge-
ſchehen ſoll, befriediget iſt?

Deswegen iſt in dem Umfange der ſchoͤnen Kuͤnſte
nichts, das uns ſo ſehr gefaͤllt, als merkwuͤrdige
Lagen der Sachen bey wichtigen Handlungen oder
Begebenheiten. Dergleichen auszudenken, und
deutlich vor Augen zu legen, iſt einer der wichtigſten
Talente des Kuͤnſtlers. Man ſiehet leicht, daß das
Merkwuͤrdige einer Lage in dem nahe ſcheinenden
und unvermeidlichen Ausbruch ſolcher Dinge beſtehe,
die lebhafte Leidenſchaften erweken. Das, was wir
vor uns ſehen, ſezt uns in Erwartung, die mit
Furcht, oder Hofnung, mit Verlangen, oder Ban-
gigkeit begleitet iſt. Je mehr Leidenſchaften dabey
rege werden, je mehr intreßirt die Lage der Sachen.
Schon Dinge, deren Erfolg uns gleichguͤltig iſt,
koͤnnen ſich in einer Lage befinden, die uns blos aus
Neugierd ſehr intreßirt. Man wuͤnſcht zu ſehen,
wie die Sachen, die wir verwikelt, gegen einander
ſtreitend, ſehen, aus einander gehen werden.

Die
(*) S.
Satyre.
N n n n 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0086" n="651"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">La&#x0364;ch Lag</hi></fw><lb/>
zuu&#x0364;ben, daß man die Ge&#x017F;eze gegen &#x017F;ie gar nicht<lb/>
brauchen kann. Die&#x017F;e ko&#x0364;nnen nur mit der Gei&#x017F;el<lb/>
des Spo&#x0364;tters gezu&#x0364;chtiget werden; es i&#x017F;t die einzige<lb/>
Art &#x017F;ich an ihnen zu ra&#x0364;chen. Be&#x017F;&#x017F;ern kann man<lb/>
&#x017F;ich nicht dadurch; die&#x017F;es i&#x017F;t auch nicht die Ab&#x017F;icht<lb/>
des Spo&#x0364;tters, er will ihnen nur wehe thun; und<lb/>
er thut wol daran. Denn kann doch noch das gute<lb/>
daraus erfolgen, daß der Bo&#x0364;&#x017F;ewicht in allgemeine<lb/>
Verachtung kommt, die ihm in fernerer Ausu&#x0364;bung<lb/>
&#x017F;einer Boßheit doch große Hinderni&#x017F;&#x017F;e in dem Weg<lb/>
legen kann. Wer in allgemeiner Verachtung &#x017F;teht,<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;elten fu&#x0364;rchterlich.</p><lb/>
          <p>Wer unternihmt einen großen Mi&#x017F;&#x017F;etha&#x0364;ter, dem<lb/>
man durch die Ge&#x017F;eze nicht beykommen kann, ver-<lb/>
a&#x0364;chtlich zu machen, hat auch nicht no&#x0364;thig in &#x017F;einen<lb/>
Spo&#x0364;ttereyen &#x017F;o &#x017F;ehr &#x017F;orgfa&#x0364;ltig zu &#x017F;eyn. Auch der<lb/>
Po&#x0364;bel muß &#x017F;einer &#x017F;potten; folglich i&#x017F;t alles, was ihn<lb/>
be&#x017F;chimpfen kann, gut gegen ihn. Ko&#x0364;nnen feinere<lb/>
Ko&#x0364;pfe nicht lachen, wann Tartu&#x0364;ffe &#x017F;ich in &#x017F;einer<lb/>
verliebten Tollheit &#x017F;o grob hintergehen la&#x0364;ßt; &#x017F;o &#x017F;e-<lb/>
hen &#x017F;ie es doch gerne, daß der Po&#x0364;bel daru&#x0364;ber lacht.<lb/>
Auch die unwahr&#x017F;cheinlich&#x017F;te Narrheit, der man ihn<lb/>
be&#x017F;chuldiget, kann gute Wu&#x0364;rkung thun. Ari&#x017F;to-<lb/>
phanes be&#x017F;chuldiget den Sokrates in &#x017F;einen Wolken<lb/>
&#x017F;o viel grober Narrheiten, daß kein Ver&#x017F;ta&#x0364;ndiger<lb/>
daru&#x0364;ber wird gelacht haben; aber manchem einfa&#x0364;l-<lb/>
tigen Manne mag der Philo&#x017F;oph dadurch vera&#x0364;chtlich<lb/>
worden &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Die &#x017F;ogenannte alte Como&#x0364;die in Athen, gab den<lb/>
Dichtern Gelegenheit das La&#x0364;cherliche zu die&#x017F;em Ge-<lb/>
brauch anzuwenden. Vielleicht war nie ein Men&#x017F;ch<lb/>
in die&#x017F;er Art Spo&#x0364;tterey ge&#x017F;chickter, als Ari&#x017F;topha-<lb/>
nes. Un&#x017F;re heutigen Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ungen haben<lb/>
die&#x017F;en Gebrauch entweder vo&#x0364;llig, oder doch gro&#x0364;ßten-<lb/>
theils gehemmet. Hievon aber wird an einem an-<lb/>
dern Orte ge&#x017F;prochen werden. <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Satyre.</note></p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Lage der Sachen.</hi><lb/>
(Scho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>urch die Lage der Sachen, die man auch mit<lb/>
dem franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Wort <hi rendition="#fr">Situation</hi> ausdru&#x0364;kt, ver-<lb/>
&#x017F;teht man die Be&#x017F;chaffenheit aller zu einer Hand-<lb/>
lung oder Begebenheit geho&#x0364;rigen Dinge, in einem<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Zeitpunkt der Handlung, in welchem man<lb/>
das Gegenwa&#x0364;rtige, als eine Wu&#x0364;rkung de&#x017F;&#x017F;en, das<lb/>
vorhergegangen und als eine Ur&#x017F;ache de&#x017F;&#x017F;en, das<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Lag</hi></fw><lb/>
noch erfolgen &#x017F;oll, an&#x017F;iehet. Wenn wir uns den<lb/>
Augenblik vor&#x017F;tellen, da Ca&#x0364;&#x017F;ar von Brutus und &#x017F;ei-<lb/>
nen Mitver&#x017F;chwornen &#x017F;oll umgebracht werden; in<lb/>
die&#x017F;em Augenblik aber die Handlung als &#x017F;tille &#x017F;te-<lb/>
hend betrachten, um jedes einzele, das dazu geho&#x0364;rt<lb/>
zu bemerken; die gegenwa&#x0364;rtigen Per&#x017F;onen, ihre<lb/>
Gedanken und Empfindungen, den Ort und andre<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde, und die&#x017F;es alles auf einmal, wie in ei-<lb/>
nem Grundris vor uns haben, &#x017F;o fa&#x017F;&#x017F;en wir die<lb/>
gegenwa&#x0364;rtige Lage der Sachen.</p><lb/>
          <p>Jn die&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden &#x017F;tellt man &#x017F;ich etwas, das<lb/>
ge&#x017F;chehen &#x017F;oll, vor, und hat auf einmal viel Dinge,<lb/>
die man als mitwu&#x0364;rkend, oder als leidend an&#x017F;ieht<lb/>
vor Augen; die Neugierde wird gereizt; man er-<lb/>
wartet mit Aufmerk&#x017F;amkeit den Erfolg von &#x017F;o vielen<lb/>
auf einmal zu&#x017F;ammenkommenden mit- oder gegen<lb/>
einander wu&#x0364;rkenden Dingen. J&#x017F;t die Handlung<lb/>
an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wichtig, und izt auf einen merkwu&#x0364;rdi-<lb/>
digen Zeitpunkt gekommen, &#x017F;o be&#x017F;inden wir alsdenn<lb/>
uns &#x017F;elb&#x017F;t, als Zu&#x017F;chauer, in einem merkwu&#x0364;rdigen<lb/>
Zu&#x017F;tande, voll Neugierde, Wu&#x0364;rk&#x017F;amkeit und Erwar-<lb/>
tung. Ein &#x017F;olcher Zu&#x017F;tand hat ungemein reizendes<lb/>
fu&#x0364;r lebhafte Gemu&#x0364;ther, und es &#x017F;cheinet, daß wir<lb/>
das Vergnu&#x0364;gen un&#x017F;rer Exi&#x017F;tenz nie vollkommener<lb/>
genießen, als in &#x017F;olchen Um&#x017F;ta&#x0364;nden. Welcher<lb/>
Men&#x017F;ch ko&#x0364;nnte in einem &#x017F;olchen Falle ohne den bit-<lb/>
ter&#x017F;ten Verdruß &#x017F;ich in der Nothwendigkeit befinden,<lb/>
&#x017F;ein Aug von der Scene wegzuwenden, ehe &#x017F;eine<lb/>
Neugierde u&#x0364;ber die Erwartungen de&#x017F;&#x017F;en, was ge-<lb/>
&#x017F;chehen &#x017F;oll, befriediget i&#x017F;t?</p><lb/>
          <p>Deswegen i&#x017F;t in dem Umfange der &#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
nichts, das uns &#x017F;o &#x017F;ehr gefa&#x0364;llt, als merkwu&#x0364;rdige<lb/>
Lagen der Sachen bey wichtigen Handlungen oder<lb/>
Begebenheiten. Dergleichen auszudenken, und<lb/>
deutlich vor Augen zu legen, i&#x017F;t einer der wichtig&#x017F;ten<lb/>
Talente des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers. Man &#x017F;iehet leicht, daß das<lb/>
Merkwu&#x0364;rdige einer Lage in dem nahe &#x017F;cheinenden<lb/>
und unvermeidlichen Ausbruch &#x017F;olcher Dinge be&#x017F;tehe,<lb/>
die lebhafte Leiden&#x017F;chaften erweken. Das, was wir<lb/>
vor uns &#x017F;ehen, &#x017F;ezt uns in Erwartung, die mit<lb/>
Furcht, oder Hofnung, mit Verlangen, oder Ban-<lb/>
gigkeit begleitet i&#x017F;t. Je mehr Leiden&#x017F;chaften dabey<lb/>
rege werden, je mehr intreßirt die Lage der Sachen.<lb/>
Schon Dinge, deren Erfolg uns gleichgu&#x0364;ltig i&#x017F;t,<lb/>
ko&#x0364;nnen &#x017F;ich in einer Lage befinden, die uns blos aus<lb/>
Neugierd &#x017F;ehr intreßirt. Man wu&#x0364;n&#x017F;cht zu &#x017F;ehen,<lb/>
wie die Sachen, die wir verwikelt, gegen einander<lb/>
&#x017F;treitend, &#x017F;ehen, aus einander gehen werden.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">N n n n 2</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[651/0086] Laͤch Lag Lag zuuͤben, daß man die Geſeze gegen ſie gar nicht brauchen kann. Dieſe koͤnnen nur mit der Geiſel des Spoͤtters gezuͤchtiget werden; es iſt die einzige Art ſich an ihnen zu raͤchen. Beſſern kann man ſich nicht dadurch; dieſes iſt auch nicht die Abſicht des Spoͤtters, er will ihnen nur wehe thun; und er thut wol daran. Denn kann doch noch das gute daraus erfolgen, daß der Boͤſewicht in allgemeine Verachtung kommt, die ihm in fernerer Ausuͤbung ſeiner Boßheit doch große Hinderniſſe in dem Weg legen kann. Wer in allgemeiner Verachtung ſteht, iſt ſelten fuͤrchterlich. Wer unternihmt einen großen Miſſethaͤter, dem man durch die Geſeze nicht beykommen kann, ver- aͤchtlich zu machen, hat auch nicht noͤthig in ſeinen Spoͤttereyen ſo ſehr ſorgfaͤltig zu ſeyn. Auch der Poͤbel muß ſeiner ſpotten; folglich iſt alles, was ihn beſchimpfen kann, gut gegen ihn. Koͤnnen feinere Koͤpfe nicht lachen, wann Tartuͤffe ſich in ſeiner verliebten Tollheit ſo grob hintergehen laͤßt; ſo ſe- hen ſie es doch gerne, daß der Poͤbel daruͤber lacht. Auch die unwahrſcheinlichſte Narrheit, der man ihn beſchuldiget, kann gute Wuͤrkung thun. Ariſto- phanes beſchuldiget den Sokrates in ſeinen Wolken ſo viel grober Narrheiten, daß kein Verſtaͤndiger daruͤber wird gelacht haben; aber manchem einfaͤl- tigen Manne mag der Philoſoph dadurch veraͤchtlich worden ſeyn. Die ſogenannte alte Comoͤdie in Athen, gab den Dichtern Gelegenheit das Laͤcherliche zu dieſem Ge- brauch anzuwenden. Vielleicht war nie ein Menſch in dieſer Art Spoͤtterey geſchickter, als Ariſtopha- nes. Unſre heutigen Staatsverfaſſungen haben dieſen Gebrauch entweder voͤllig, oder doch groͤßten- theils gehemmet. Hievon aber wird an einem an- dern Orte geſprochen werden. (*) Lage der Sachen. (Schoͤne Kuͤnſte.) Durch die Lage der Sachen, die man auch mit dem franzoͤſiſchen Wort Situation ausdruͤkt, ver- ſteht man die Beſchaffenheit aller zu einer Hand- lung oder Begebenheit gehoͤrigen Dinge, in einem gewiſſen Zeitpunkt der Handlung, in welchem man das Gegenwaͤrtige, als eine Wuͤrkung deſſen, das vorhergegangen und als eine Urſache deſſen, das noch erfolgen ſoll, anſiehet. Wenn wir uns den Augenblik vorſtellen, da Caͤſar von Brutus und ſei- nen Mitverſchwornen ſoll umgebracht werden; in dieſem Augenblik aber die Handlung als ſtille ſte- hend betrachten, um jedes einzele, das dazu gehoͤrt zu bemerken; die gegenwaͤrtigen Perſonen, ihre Gedanken und Empfindungen, den Ort und andre Umſtaͤnde, und dieſes alles auf einmal, wie in ei- nem Grundris vor uns haben, ſo faſſen wir die gegenwaͤrtige Lage der Sachen. Jn dieſen Umſtaͤnden ſtellt man ſich etwas, das geſchehen ſoll, vor, und hat auf einmal viel Dinge, die man als mitwuͤrkend, oder als leidend anſieht vor Augen; die Neugierde wird gereizt; man er- wartet mit Aufmerkſamkeit den Erfolg von ſo vielen auf einmal zuſammenkommenden mit- oder gegen einander wuͤrkenden Dingen. Jſt die Handlung an ſich ſelbſt wichtig, und izt auf einen merkwuͤrdi- digen Zeitpunkt gekommen, ſo beſinden wir alsdenn uns ſelbſt, als Zuſchauer, in einem merkwuͤrdigen Zuſtande, voll Neugierde, Wuͤrkſamkeit und Erwar- tung. Ein ſolcher Zuſtand hat ungemein reizendes fuͤr lebhafte Gemuͤther, und es ſcheinet, daß wir das Vergnuͤgen unſrer Exiſtenz nie vollkommener genießen, als in ſolchen Umſtaͤnden. Welcher Menſch koͤnnte in einem ſolchen Falle ohne den bit- terſten Verdruß ſich in der Nothwendigkeit befinden, ſein Aug von der Scene wegzuwenden, ehe ſeine Neugierde uͤber die Erwartungen deſſen, was ge- ſchehen ſoll, befriediget iſt? Deswegen iſt in dem Umfange der ſchoͤnen Kuͤnſte nichts, das uns ſo ſehr gefaͤllt, als merkwuͤrdige Lagen der Sachen bey wichtigen Handlungen oder Begebenheiten. Dergleichen auszudenken, und deutlich vor Augen zu legen, iſt einer der wichtigſten Talente des Kuͤnſtlers. Man ſiehet leicht, daß das Merkwuͤrdige einer Lage in dem nahe ſcheinenden und unvermeidlichen Ausbruch ſolcher Dinge beſtehe, die lebhafte Leidenſchaften erweken. Das, was wir vor uns ſehen, ſezt uns in Erwartung, die mit Furcht, oder Hofnung, mit Verlangen, oder Ban- gigkeit begleitet iſt. Je mehr Leidenſchaften dabey rege werden, je mehr intreßirt die Lage der Sachen. Schon Dinge, deren Erfolg uns gleichguͤltig iſt, koͤnnen ſich in einer Lage befinden, die uns blos aus Neugierd ſehr intreßirt. Man wuͤnſcht zu ſehen, wie die Sachen, die wir verwikelt, gegen einander ſtreitend, ſehen, aus einander gehen werden. Die (*) S. Satyre. N n n n 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/86
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/86>, abgerufen am 25.11.2024.