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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kür

Die Kürze, welche blos im Ausdruk liegt, scheinet
am schweeresten zu erreichen; denn die, welche von
dem Reichthum, oder der vortheilhaften Wendung
der Gedanken herkommt, hängt von dem Genie ab,
und erfodert keine Kunst. Dieser Reichthum ist
ererbt, der andre muß erst durch Sparsamkeit er-
worben werden. Es gehört nicht wenig Kunst da-
zu, eine gegebene Anzahl der Begriffe durch die
kleineste Zahl der Wörter auszudrüken, ohne andre
Hülfsmittel, als die Weglassung des Ueberflüßigen.
Hier ist alles Kunst. Wenn man sagen will; es
sey unmöglich, den Charakter eines noch unmündigen
Menschen zu kennen; weil er sich noch nicht entwi-
kelt hat; weil die Blödigkeit dieses Alters ihn noch
zurükhält, nach eigenen Trieben zu handeln; weil
er noch manches darum unterläßt, weil seine Vor-
gesetzten es verboten haben; so scheinet es beynahe
unmöglich alle diese Begriffe, in weniger Worte zu-
sammen zu fassen. Doch hat Terenz gerade dieses
weit kürzer ausgedrukt. "Wie willst du die Sin-
nesart erkennen, so lange Jugend, Furcht und der
Hoffmeister sie zurüke halten?"

Qui scire posses aut ingenium noscere,
Dum aetas, metus, magister, prohibent?
(*)

Diese Kürze kann nicht wol anders, als durch ru-
hige Bearbeitung eines weitläuftigern Entwurfs
der Gedanken erreicht werden. Wenn man das,
was zur Sache dienet, zusammengetragen hat; so
ist zu Erreichung der möglichsten Kürze nothwendig,
daß jeder einzele Gedanke besonders bearbeitet, und
auf die wenigsten Begriffe gebracht werde. Cicero
hatte in seinen Vorstellungen gegen die Austheilung
der Aecker deutlich bewiesen, daß die Decemviri da-
durch sich des ganzen Staats bemächtigen, und
nach Gutdünken würden handeln können: hierauf
läßt er den Rullus, der das Gesetz von der Aus-
theilung vorgeschlagen hatte, erwiedern; sie seyen
weit entfernt einen solchen Mißbrauch ihres Anse-
hens zu machen.
Gegen diese Versicherung hatte
der Redner eine dreyfache Einwendung zu machen.
1) Es sey immer ungewiß, ob sie ihre Macht nicht
mißbrauchen werden, und 2) so gar wahrscheinlich,
daß es geschehen würde; sollte es aber nicht ge-
schehen, so würde es doch 3) unschiklich seyn, die
Wolfarth und Ruhe des Staates als eine Wolthat
von ihnen zu empfangen, da doch beydes, ohne sie,
durch eine kluge Regierung könne erhalten werden.
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Kür
Diese drey Verstellungen hat Cicero gewiß nicht ohne
verweilendes Nachdenken, in diese Kürze zusammen-
gebracht. "Erstlich ist es ungewiß; zweytens fürchte
ich doch, daß es geschehen möchte; und warum sollte
ich endlich zugeben, daß wir unsre Wolfarth, mehr
eurer Gütigkeit, als unsre eigenen klugen Veranstal-
tungen, zu danken haben?" Der lateinische Aus-
druk ist noch viel kürzer: Primum nescio: deinde ti-
meo: postremo non committam, ut vestro beneficio
potius, quam nostro consilio salvi esse possimus.
(*)

Eine solche Kürze ist fürnehmlich da nothwendig,
wo man mehrere Vorstellungen, welche zugleich
würken sollen, zu thun hat; denn je näher man
sie zusammendränget, desto gewisser thun sie ihre
Würkung. Sie kommt entweder von der Sprache
selbst, oder von dem Verstande des Redenden her.
Eine Sprache verträgt sie mehr, als eine andre.
Jm Lateinischen und Griechischen, verstattet der
häufige Gebrauch des Participien mehr Kürze, als
die meisten neuern Sprachen haben. Da die Spra-
chen, so lange sie lebend bleiben sich immer verän-
dern, so sollte man die glüklichen Neuerungen der
besten Schriftsteller, die der Kürze günstig sind, sorg-
fältig bemerken, um sie allmählig in der Sprache
gangbar zu machen. Das meiste ist in diesem Stük
von den Dichtern zu erwarten; weil sie am öftersten
in der Nothwendigkeit sind, der Sprach neue Wen-
dung zu geben. Dieser Nuzen der Dichtkunst ist
allein schon wichtig genug, daß man das äußerste zu
ihrer Beförderung anwenden sollte. Es liegt hinläng-
lich am Tage, daß die deutsche Sprache durch die
Neuerungen der Dichter zur Kürze tüchtiger worden
ist, als sie vorher war. Doch will dieses nicht sagen,
daß jeder poetische Ausdruk seiner Kürze halber, so-
gleich in die gemeine Rede soll aufgenommen werden.

Aber auch bey der kürzesten Sprache, kommt
noch sehr viel auf den Verstand des Redners an.
Wer nicht gewohnt ist, überall die höchste Vollkom-
kommenheit zu suchen, die nur der Verstand sieht,
trift nicht immer die größte Kürze. Sie ist also
den Schriftstellern vorzüglich eigen, die ein zu höhern
Wissenschaften aufgelegtes Genie mit Geschmak ver-
binden. Darum übertrift Haller in gebundener
und ungebundener Rede, jeden andern Deutschen.
Schon in dieser Absicht allein, ist sein Usong ein
höchst schäzbares Werk, und kann zum Muster des
kurzen Ausdruks dienen.



(*) Te-
rent. Aud.
Art. I.
(*) Or. L
de Lege
Agraria.
M m m m 2
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Kuͤr

Die Kuͤrze, welche blos im Ausdruk liegt, ſcheinet
am ſchweereſten zu erreichen; denn die, welche von
dem Reichthum, oder der vortheilhaften Wendung
der Gedanken herkommt, haͤngt von dem Genie ab,
und erfodert keine Kunſt. Dieſer Reichthum iſt
ererbt, der andre muß erſt durch Sparſamkeit er-
worben werden. Es gehoͤrt nicht wenig Kunſt da-
zu, eine gegebene Anzahl der Begriffe durch die
kleineſte Zahl der Woͤrter auszudruͤken, ohne andre
Huͤlfsmittel, als die Weglaſſung des Ueberfluͤßigen.
Hier iſt alles Kunſt. Wenn man ſagen will; es
ſey unmoͤglich, den Charakter eines noch unmuͤndigen
Menſchen zu kennen; weil er ſich noch nicht entwi-
kelt hat; weil die Bloͤdigkeit dieſes Alters ihn noch
zuruͤkhaͤlt, nach eigenen Trieben zu handeln; weil
er noch manches darum unterlaͤßt, weil ſeine Vor-
geſetzten es verboten haben; ſo ſcheinet es beynahe
unmoͤglich alle dieſe Begriffe, in weniger Worte zu-
ſammen zu faſſen. Doch hat Terenz gerade dieſes
weit kuͤrzer ausgedrukt. „Wie willſt du die Sin-
nesart erkennen, ſo lange Jugend, Furcht und der
Hoffmeiſter ſie zuruͤke halten?“

Qui ſcire poſſes aut ingenium noſcere,
Dum ætas, metus, magiſter, prohibent?
(*)

Dieſe Kuͤrze kann nicht wol anders, als durch ru-
hige Bearbeitung eines weitlaͤuftigern Entwurfs
der Gedanken erreicht werden. Wenn man das,
was zur Sache dienet, zuſammengetragen hat; ſo
iſt zu Erreichung der moͤglichſten Kuͤrze nothwendig,
daß jeder einzele Gedanke beſonders bearbeitet, und
auf die wenigſten Begriffe gebracht werde. Cicero
hatte in ſeinen Vorſtellungen gegen die Austheilung
der Aecker deutlich bewieſen, daß die Decemviri da-
durch ſich des ganzen Staats bemaͤchtigen, und
nach Gutduͤnken wuͤrden handeln koͤnnen: hierauf
laͤßt er den Rullus, der das Geſetz von der Aus-
theilung vorgeſchlagen hatte, erwiedern; ſie ſeyen
weit entfernt einen ſolchen Mißbrauch ihres Anſe-
hens zu machen.
Gegen dieſe Verſicherung hatte
der Redner eine dreyfache Einwendung zu machen.
1) Es ſey immer ungewiß, ob ſie ihre Macht nicht
mißbrauchen werden, und 2) ſo gar wahrſcheinlich,
daß es geſchehen wuͤrde; ſollte es aber nicht ge-
ſchehen, ſo wuͤrde es doch 3) unſchiklich ſeyn, die
Wolfarth und Ruhe des Staates als eine Wolthat
von ihnen zu empfangen, da doch beydes, ohne ſie,
durch eine kluge Regierung koͤnne erhalten werden.
[Spaltenumbruch]

Kuͤr
Dieſe drey Verſtellungen hat Cicero gewiß nicht ohne
verweilendes Nachdenken, in dieſe Kuͤrze zuſammen-
gebracht. „Erſtlich iſt es ungewiß; zweytens fuͤrchte
ich doch, daß es geſchehen moͤchte; und warum ſollte
ich endlich zugeben, daß wir unſre Wolfarth, mehr
eurer Guͤtigkeit, als unſre eigenen klugen Veranſtal-
tungen, zu danken haben?“ Der lateiniſche Aus-
druk iſt noch viel kuͤrzer: Primum neſcio: deinde ti-
meo: poſtremo non committam, ut veſtro beneficio
potius, quam noſtro conſilio ſalvi eſſe poſſimus.
(*)

Eine ſolche Kuͤrze iſt fuͤrnehmlich da nothwendig,
wo man mehrere Vorſtellungen, welche zugleich
wuͤrken ſollen, zu thun hat; denn je naͤher man
ſie zuſammendraͤnget, deſto gewiſſer thun ſie ihre
Wuͤrkung. Sie kommt entweder von der Sprache
ſelbſt, oder von dem Verſtande des Redenden her.
Eine Sprache vertraͤgt ſie mehr, als eine andre.
Jm Lateiniſchen und Griechiſchen, verſtattet der
haͤufige Gebrauch des Participien mehr Kuͤrze, als
die meiſten neuern Sprachen haben. Da die Spra-
chen, ſo lange ſie lebend bleiben ſich immer veraͤn-
dern, ſo ſollte man die gluͤklichen Neuerungen der
beſten Schriftſteller, die der Kuͤrze guͤnſtig ſind, ſorg-
faͤltig bemerken, um ſie allmaͤhlig in der Sprache
gangbar zu machen. Das meiſte iſt in dieſem Stuͤk
von den Dichtern zu erwarten; weil ſie am oͤfterſten
in der Nothwendigkeit ſind, der Sprach neue Wen-
dung zu geben. Dieſer Nuzen der Dichtkunſt iſt
allein ſchon wichtig genug, daß man das aͤußerſte zu
ihrer Befoͤrderung anwenden ſollte. Es liegt hinlaͤng-
lich am Tage, daß die deutſche Sprache durch die
Neuerungen der Dichter zur Kuͤrze tuͤchtiger worden
iſt, als ſie vorher war. Doch will dieſes nicht ſagen,
daß jeder poetiſche Ausdruk ſeiner Kuͤrze halber, ſo-
gleich in die gemeine Rede ſoll aufgenommen werden.

Aber auch bey der kuͤrzeſten Sprache, kommt
noch ſehr viel auf den Verſtand des Redners an.
Wer nicht gewohnt iſt, uͤberall die hoͤchſte Vollkom-
kommenheit zu ſuchen, die nur der Verſtand ſieht,
trift nicht immer die groͤßte Kuͤrze. Sie iſt alſo
den Schriftſtellern vorzuͤglich eigen, die ein zu hoͤhern
Wiſſenſchaften aufgelegtes Genie mit Geſchmak ver-
binden. Darum uͤbertrift Haller in gebundener
und ungebundener Rede, jeden andern Deutſchen.
Schon in dieſer Abſicht allein, iſt ſein Uſong ein
hoͤchſt ſchaͤzbares Werk, und kann zum Muſter des
kurzen Ausdruks dienen.



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Art. I.
(*) Or. L
de Lege
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[643/0078] Kuͤr Kuͤr Die Kuͤrze, welche blos im Ausdruk liegt, ſcheinet am ſchweereſten zu erreichen; denn die, welche von dem Reichthum, oder der vortheilhaften Wendung der Gedanken herkommt, haͤngt von dem Genie ab, und erfodert keine Kunſt. Dieſer Reichthum iſt ererbt, der andre muß erſt durch Sparſamkeit er- worben werden. Es gehoͤrt nicht wenig Kunſt da- zu, eine gegebene Anzahl der Begriffe durch die kleineſte Zahl der Woͤrter auszudruͤken, ohne andre Huͤlfsmittel, als die Weglaſſung des Ueberfluͤßigen. Hier iſt alles Kunſt. Wenn man ſagen will; es ſey unmoͤglich, den Charakter eines noch unmuͤndigen Menſchen zu kennen; weil er ſich noch nicht entwi- kelt hat; weil die Bloͤdigkeit dieſes Alters ihn noch zuruͤkhaͤlt, nach eigenen Trieben zu handeln; weil er noch manches darum unterlaͤßt, weil ſeine Vor- geſetzten es verboten haben; ſo ſcheinet es beynahe unmoͤglich alle dieſe Begriffe, in weniger Worte zu- ſammen zu faſſen. Doch hat Terenz gerade dieſes weit kuͤrzer ausgedrukt. „Wie willſt du die Sin- nesart erkennen, ſo lange Jugend, Furcht und der Hoffmeiſter ſie zuruͤke halten?“ Qui ſcire poſſes aut ingenium noſcere, Dum ætas, metus, magiſter, prohibent? (*) Dieſe Kuͤrze kann nicht wol anders, als durch ru- hige Bearbeitung eines weitlaͤuftigern Entwurfs der Gedanken erreicht werden. Wenn man das, was zur Sache dienet, zuſammengetragen hat; ſo iſt zu Erreichung der moͤglichſten Kuͤrze nothwendig, daß jeder einzele Gedanke beſonders bearbeitet, und auf die wenigſten Begriffe gebracht werde. Cicero hatte in ſeinen Vorſtellungen gegen die Austheilung der Aecker deutlich bewieſen, daß die Decemviri da- durch ſich des ganzen Staats bemaͤchtigen, und nach Gutduͤnken wuͤrden handeln koͤnnen: hierauf laͤßt er den Rullus, der das Geſetz von der Aus- theilung vorgeſchlagen hatte, erwiedern; ſie ſeyen weit entfernt einen ſolchen Mißbrauch ihres Anſe- hens zu machen. Gegen dieſe Verſicherung hatte der Redner eine dreyfache Einwendung zu machen. 1) Es ſey immer ungewiß, ob ſie ihre Macht nicht mißbrauchen werden, und 2) ſo gar wahrſcheinlich, daß es geſchehen wuͤrde; ſollte es aber nicht ge- ſchehen, ſo wuͤrde es doch 3) unſchiklich ſeyn, die Wolfarth und Ruhe des Staates als eine Wolthat von ihnen zu empfangen, da doch beydes, ohne ſie, durch eine kluge Regierung koͤnne erhalten werden. Dieſe drey Verſtellungen hat Cicero gewiß nicht ohne verweilendes Nachdenken, in dieſe Kuͤrze zuſammen- gebracht. „Erſtlich iſt es ungewiß; zweytens fuͤrchte ich doch, daß es geſchehen moͤchte; und warum ſollte ich endlich zugeben, daß wir unſre Wolfarth, mehr eurer Guͤtigkeit, als unſre eigenen klugen Veranſtal- tungen, zu danken haben?“ Der lateiniſche Aus- druk iſt noch viel kuͤrzer: Primum neſcio: deinde ti- meo: poſtremo non committam, ut veſtro beneficio potius, quam noſtro conſilio ſalvi eſſe poſſimus. (*) Eine ſolche Kuͤrze iſt fuͤrnehmlich da nothwendig, wo man mehrere Vorſtellungen, welche zugleich wuͤrken ſollen, zu thun hat; denn je naͤher man ſie zuſammendraͤnget, deſto gewiſſer thun ſie ihre Wuͤrkung. Sie kommt entweder von der Sprache ſelbſt, oder von dem Verſtande des Redenden her. Eine Sprache vertraͤgt ſie mehr, als eine andre. Jm Lateiniſchen und Griechiſchen, verſtattet der haͤufige Gebrauch des Participien mehr Kuͤrze, als die meiſten neuern Sprachen haben. Da die Spra- chen, ſo lange ſie lebend bleiben ſich immer veraͤn- dern, ſo ſollte man die gluͤklichen Neuerungen der beſten Schriftſteller, die der Kuͤrze guͤnſtig ſind, ſorg- faͤltig bemerken, um ſie allmaͤhlig in der Sprache gangbar zu machen. Das meiſte iſt in dieſem Stuͤk von den Dichtern zu erwarten; weil ſie am oͤfterſten in der Nothwendigkeit ſind, der Sprach neue Wen- dung zu geben. Dieſer Nuzen der Dichtkunſt iſt allein ſchon wichtig genug, daß man das aͤußerſte zu ihrer Befoͤrderung anwenden ſollte. Es liegt hinlaͤng- lich am Tage, daß die deutſche Sprache durch die Neuerungen der Dichter zur Kuͤrze tuͤchtiger worden iſt, als ſie vorher war. Doch will dieſes nicht ſagen, daß jeder poetiſche Ausdruk ſeiner Kuͤrze halber, ſo- gleich in die gemeine Rede ſoll aufgenommen werden. Aber auch bey der kuͤrzeſten Sprache, kommt noch ſehr viel auf den Verſtand des Redners an. Wer nicht gewohnt iſt, uͤberall die hoͤchſte Vollkom- kommenheit zu ſuchen, die nur der Verſtand ſieht, trift nicht immer die groͤßte Kuͤrze. Sie iſt alſo den Schriftſtellern vorzuͤglich eigen, die ein zu hoͤhern Wiſſenſchaften aufgelegtes Genie mit Geſchmak ver- binden. Darum uͤbertrift Haller in gebundener und ungebundener Rede, jeden andern Deutſchen. Schon in dieſer Abſicht allein, iſt ſein Uſong ein hoͤchſt ſchaͤzbares Werk, und kann zum Muſter des kurzen Ausdruks dienen. (*) Te- rent. Aud. Art. I. (*) Or. L de Lege Agraria. M m m m 2

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/78>, abgerufen am 25.11.2024.