Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch]
Wuu Wulst. (Baukunst.) Ein großes, oder auch nur mittelmäßiges Glied, Wunderbar. (Dichtkunst.) Jst eigentlich nach dem gemeinen Sprachgebrauch Einige Kunstrichter scheinen dieses Wunderbare Wir würden außer diesem auch noch das zum Wun Lauf der Natur haben, nicht geradezu aufhebet,aber sie sehr weit übertrifft. Denn so außerordent- lich und ungewöhnlich auch die Dinge sind, die man uns erzählt, oder beschreibt, so sezen sie uns nicht in Bewundrung, wann wir gar keine Wahr- heit, oder natürliche Möglichkeit darin entdeken. Die Aufschneidereyen, dergleichen in Lucians wahr- hafter Geschichte vorkommen, und die unsern Be- griffen ganz wiedersprechenden Erdichtungen in Hol- bergs unterirrdischen Reisen, werden schweerlich von jemand zu dem Wunderbaren gezählt werden, wo- durch der epische Dichter seinen Stoff erhöhen könnte. Wir bemerken gleich, daß sie völlig willkührlich, und gar nicht im Ernste gemeint sind. Es kostet der Einbildungskraft nichts, dergleichen Außerordent- liche Dinge zu erfinden, die gar keine Beziehung, oder Verbindung mit der würklichen Welt haben. Aber höchst außerordentliche Nachrichten, oder Dichtungen, die noch Realität, oder Wahrheit zum Grund haben, die sich mit der würklichen Natur vortragen, aber unsre Erwartungen sehr weit über- treffen, die bey allem Außerordentlichen, das sie haben, möglich und einigermaaßen wahrscheinlich sind, sezen uns in Bewundrung. Wunderbar wäre für Unwissende, eine wahrhafte Beschreibung der unermeßlichen Größe und höchst ordentlichen Einrich- tung des Weltgebäudes, die den großen Begriffen gemäß wäre, die die Astronomen davon haben. Wunderbar, wiewol aus natürlichen und vorhan- denen Ursachen begreiflich, ist die Sündfluth, wie sie in der Noachide beschrieben ist. Wunderbar wär auch für die Einwohner eines ebenen und an- muthigen Landes, die wahrhafteste Schilderung der Länder, die aus aufgethürmten Alpen bestehen. Eben darum, weil das ächte Wunderbare, so und U u u u u u u 3
[Spaltenumbruch]
Wuu Wulſt. (Baukunſt.) Ein großes, oder auch nur mittelmaͤßiges Glied, Wunderbar. (Dichtkunſt.) Jſt eigentlich nach dem gemeinen Sprachgebrauch Einige Kunſtrichter ſcheinen dieſes Wunderbare Wir wuͤrden außer dieſem auch noch das zum Wun Lauf der Natur haben, nicht geradezu aufhebet,aber ſie ſehr weit uͤbertrifft. Denn ſo außerordent- lich und ungewoͤhnlich auch die Dinge ſind, die man uns erzaͤhlt, oder beſchreibt, ſo ſezen ſie uns nicht in Bewundrung, wann wir gar keine Wahr- heit, oder natuͤrliche Moͤglichkeit darin entdeken. Die Aufſchneidereyen, dergleichen in Lucians wahr- hafter Geſchichte vorkommen, und die unſern Be- griffen ganz wiederſprechenden Erdichtungen in Hol- bergs unterirrdiſchen Reiſen, werden ſchweerlich von jemand zu dem Wunderbaren gezaͤhlt werden, wo- durch der epiſche Dichter ſeinen Stoff erhoͤhen koͤnnte. Wir bemerken gleich, daß ſie voͤllig willkuͤhrlich, und gar nicht im Ernſte gemeint ſind. Es koſtet der Einbildungskraft nichts, dergleichen Außerordent- liche Dinge zu erfinden, die gar keine Beziehung, oder Verbindung mit der wuͤrklichen Welt haben. Aber hoͤchſt außerordentliche Nachrichten, oder Dichtungen, die noch Realitaͤt, oder Wahrheit zum Grund haben, die ſich mit der wuͤrklichen Natur vortragen, aber unſre Erwartungen ſehr weit uͤber- treffen, die bey allem Außerordentlichen, das ſie haben, moͤglich und einigermaaßen wahrſcheinlich ſind, ſezen uns in Bewundrung. Wunderbar waͤre fuͤr Unwiſſende, eine wahrhafte Beſchreibung der unermeßlichen Groͤße und hoͤchſt ordentlichen Einrich- tung des Weltgebaͤudes, die den großen Begriffen gemaͤß waͤre, die die Aſtronomen davon haben. Wunderbar, wiewol aus natuͤrlichen und vorhan- denen Urſachen begreiflich, iſt die Suͤndfluth, wie ſie in der Noachide beſchrieben iſt. Wunderbar waͤr auch fuͤr die Einwohner eines ebenen und an- muthigen Landes, die wahrhafteſte Schilderung der Laͤnder, die aus aufgethuͤrmten Alpen beſtehen. Eben darum, weil das aͤchte Wunderbare, ſo und U u u u u u u 3
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Wuu
Wun
Wulſt.
(Baukunſt.)
Ein großes, oder auch nur mittelmaͤßiges Glied,
das nach einem unterwerts lauffenden Viertelskreis
gebauchet iſt. Seine Ausladung wird insgemein ⅔
der Hoͤhe genommen. Die Figur des Wulſts iſt im
Artikel Glieder nachzuſehen. Jnsgemein wird er
von einem Band und einem Riemen eingeſchloſſen.
Wunderbar.
(Dichtkunſt.)
Jſt eigentlich nach dem gemeinen Sprachgebrauch
alles, was Bewundrung erwekt, oder verdienet.
Doch ſcheinet das Wunderbare, das insgemein fuͤr
den hoͤchſten poetiſchen Stoff gehalten wird, und
was man in der hohen Epopoͤe anzutreffen gewohnt
iſt, von einer beſondern und vorzuͤglichen Art zu ſeyn.
Wir bewundern alles, was unſre Erwartung und
unſre Begriffe, oder das gemeine Maaß, nach wel-
chem wir die Dinge ſchaͤzen, oder fuͤr die Aufmerk-
ſamken abwaͤgen, merklich uͤbertrift. Jedes unge-
woͤhnliche Talent; jede Tugend und jedes Laſter, deſ-
ſen Groͤße weit uͤber die gemeinen Schranken geht
kurz jedes Außerordentliche in der koͤrperlichen oder
ſittlichen Welt, erwekt Bewundrung; aber deswe-
gen wird nicht jedes Außerordentliche zu dem Wun-
derbaren gerechnet, wovon hier die Red iſt.
Einige Kunſtrichter ſcheinen dieſes Wunderbare
blos in dem Uebernatuͤrlichen zu ſezen, das durch
wuͤrkliche Wunderwerke der Allmacht geſchieht.
Aber dadurch ſchraͤnken ſie dieſen Begriff zu eng ein.
Auch natuͤrliche Dinge, koͤnnen ſo außerordentlich
und ſo ſehr uͤber unſre Erwartungen ſeyn, daß man
ſie zum Wunderbaren rechnet. Miltons Himmel
und Hoͤlle, und die unermeßlichen aͤtheriſchen Welt-
gegenden, die Klopſtoks reiche Phantaſie erſchaf-
fen hat, ſcheinen zu dem aͤchten Wunderbaren zu
gehoͤren.
Wir wuͤrden außer dieſem auch noch das zum
Wunderbaren rechnen, was uns Gegenſtaͤnde ſchil-
dert, die zu der wuͤrklichen Welt, oder Natur gehoͤren,
oder zu gehoͤren ſcheinen, aber ſo voͤllig unerwartet
und auſſerordentlich ſind, daß ſie uns die Natur in
einer zwar nicht wiederſprechenden, aber voͤllig neuen,
außerordentlichen und hoͤheren Geſtalt zeigen, und
dadurch die Bewundrung hervorbringen, von der wir
in einem eigenen Artikel geſprochen haben. Was
zwar die Begriffe, die wir von der Welt und dem
Lauf der Natur haben, nicht geradezu aufhebet,
aber ſie ſehr weit uͤbertrifft. Denn ſo außerordent-
lich und ungewoͤhnlich auch die Dinge ſind, die
man uns erzaͤhlt, oder beſchreibt, ſo ſezen ſie uns
nicht in Bewundrung, wann wir gar keine Wahr-
heit, oder natuͤrliche Moͤglichkeit darin entdeken.
Die Aufſchneidereyen, dergleichen in Lucians wahr-
hafter Geſchichte vorkommen, und die unſern Be-
griffen ganz wiederſprechenden Erdichtungen in Hol-
bergs unterirrdiſchen Reiſen, werden ſchweerlich von
jemand zu dem Wunderbaren gezaͤhlt werden, wo-
durch der epiſche Dichter ſeinen Stoff erhoͤhen koͤnnte.
Wir bemerken gleich, daß ſie voͤllig willkuͤhrlich, und
gar nicht im Ernſte gemeint ſind. Es koſtet der
Einbildungskraft nichts, dergleichen Außerordent-
liche Dinge zu erfinden, die gar keine Beziehung,
oder Verbindung mit der wuͤrklichen Welt haben.
Aber hoͤchſt außerordentliche Nachrichten, oder
Dichtungen, die noch Realitaͤt, oder Wahrheit zum
Grund haben, die ſich mit der wuͤrklichen Natur
vortragen, aber unſre Erwartungen ſehr weit uͤber-
treffen, die bey allem Außerordentlichen, das ſie
haben, moͤglich und einigermaaßen wahrſcheinlich
ſind, ſezen uns in Bewundrung. Wunderbar waͤre
fuͤr Unwiſſende, eine wahrhafte Beſchreibung der
unermeßlichen Groͤße und hoͤchſt ordentlichen Einrich-
tung des Weltgebaͤudes, die den großen Begriffen
gemaͤß waͤre, die die Aſtronomen davon haben.
Wunderbar, wiewol aus natuͤrlichen und vorhan-
denen Urſachen begreiflich, iſt die Suͤndfluth, wie
ſie in der Noachide beſchrieben iſt. Wunderbar
waͤr auch fuͤr die Einwohner eines ebenen und an-
muthigen Landes, die wahrhafteſte Schilderung der
Laͤnder, die aus aufgethuͤrmten Alpen beſtehen.
Eben darum, weil das aͤchte Wunderbare, ſo
außerordentlich es iſt, ſich noch mit unſern Begriffen
vertragen, und noch Wahrſcheinlichkeit behalten
muß, iſt es ſchweer zu erweichen, obgleich jede wilde
Phantaſie an außerordentlichen Vorſtellungen reich
iſt. Die Einbildungskraft allein iſt zur Erfindung
des Wunderbaren nicht hinreichend, ſie muß von
Kenntnis der wuͤrklichen, koͤrperlichen und ſitrlichen
Welt, und von guter Urtheilskraft unterſtuͤzt wer-
den, ſonſt werden ihre außerordentlichen Vorſtel-
lungen ſchimaͤriſch, ausſchweiffend und abgeſchmakt.
Wie ausgebreiteter die Kenntnis iſt, die der Dich-
ter von der wuͤrklichen Natur hat, ſo viel leichter
wird ihm, wenn es ihm ſonſt nicht an Erſindung
und
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