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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]
Wol
Wolklang.
(Redende Künste.)

Es ist schon an mehrern Stellen dieses Werks an-
gemerkt worden, daß das Gehör weit lebhafter und
nachdrüklicher empfindet, als das Gesicht; daß an-
genehme und wiedrige Töne stärker auf uns wür-
ken, als dergleichen Farben und Figur. Hierauf
gründet sich die Nothwendigkeit den Werken der re-
denden Künste Wolklang zu geben. Schon die ge-
meine Rede des täglichen Umganges verliehret einen
großen Theil ihrer Kraft, wenn sie nicht wenigstens
mit einer gewissen Leichtigkeit fließt, und sie wird
sehr unangenehm und wiedrig, wenn sie alles Wol-
klanges beraubt ist. Wo das Ohr sich beleidiget
fühlt, da merkt man nicht auf den Sinn der Rede.
Man kann, angenehnie, so gar wichtige Sachen
sagen, und doch, wenn es in einem holperigen Aus-
druk geschieht, damit dem Gehör, das gar sehr em-
pfindlich ist, beschwerlich fallen (+). Der Wolklang
räumt nicht nur jeden Anstoß des Gehöres, der die
Aufmerksamkeit auf den Sinn der Rede stöhren
würde, aus dem Wege, sondern verursachet, daß
man die Rede mit Lust höret, und daß die empfind-
same Lage des Gemüthes, die den Eindruk sehr be-
fördert, unterstüzt und verstärkt wird. Dieses
haben wir bereits an andern Stellen dieses Werks
außer Zweifel gesezt. (*)

Der Wolklang ist demnach in Werken des Ge-
schmaks nicht blos als eine Annehmlichkeit, sondern
als ein zur Unterstüzung der in der Rede liegenden
Kraft anzusehen. Es ist bekannt genug, daß Vor-
stellungen und Gedanken von mittelmäßiger Kraft
durch einen höchstwolklingenden Ton, besonders
durch ein gutes Sylbenmaaß, sehr große Rührung
hervorbringen können. Wenn Haller sagt:

O selig! wen sein gut Geschike
Bewahrt vor großem Ruhm und Glüke,
Der, was die Welt erhebt, verlacht.

so macht der Wolklang des Ausdruks, daß die Ge-
danken desto lebhafter rühren, und leicht im Ge-
dächtnis bleiben; daß der, der dieselben Gedanken
[Spaltenumbruch]

Wol
schon oft mag gehört, oder selbst gehabt haben, ohne
sonderlich davon gerührt zu werden, izt ihre volle
Kraft empfindet. Mancher Vers des Homers, des-
sen Jnhalt wenig Aufmerksamkeit würde nach sich
gezogen haben, ist durch den Wolklang zu Würde
eines Denkspruchs oder gar eines wichtigen Sprüch-
worts erhoben worden.

Was ein schönes und lebhaftes Colorit in der
Mahlerey, das ist der Wolklang für die Werke der
redenden Künste. Für das Gedicht insbesonder ist
er so wesentlich, daß der Mangel desselben allein es
von dem Gebieth der Poesie ausschließt. Jst er
nicht die erste und wichtigste Eigenschaft der Werke
der Beredsamkeit und Dichtkunst, so ist er doch eine
nothwendige; denn die besten Gedanken können,
durch übel klingenden Ausdruk ihre Kraft verliehren.

Darum ist es sehr wichtig, daß Redner und Dich-
ter besondern und ernstlichen Fleis darauf wenden,
ihre Werke wolklingend zu machen.

Ohne große Weitläuftigkeit, und ohne sehr schweer-
fällig zu werden, läßt sich nicht alles, was zur Er-
reichung des Wolklanges gehört, anzeigen (++).
Wir müssen uns nur auf das allgemeineste und
wichtigste dieser Materie einschränken. Das meiste
hängt ohne dem mehr von einem feinen Gehör und
einer fleißigen Uebung im Hören, als von theoreti-
schen Kenntnissen ab. Deswegen giebt auch Quin-
tilian dem angehenden Redner den Rath, sich fleißig
im mündlichen Vortrag zu üben, und andern auf-
merksam zuzuhören. Man glaubt ofte nicht übel-
klingend geschrieben zu haben, bis man versucht,
das geschriebene gut vorzutragen. Da zeiget sich
dann gar ofte, daß man nur zu sehr gefehlt habe.

Der Wolklang hängt, wie Cicero wol angemerkt
hat, vom Klang und dem Numerus ab. (+++) Den
Klang geben die einzelen Sylben und die aus die-
sen zusammengesezten Wörter, die an sich mehr
oder weniger wolklingend sind; und ihre Stellung.
Denn dieselbe Sylbe und dasselbe Wort klingt voller,
besser, nachdrüklicher, nachdem seine Stellung ne-
ben den übrigen ihm Nachdruk oder Flüchtigkeit

giebt,
(+) Quamvis enim suaves, gravesque sententiae, ta-
men, si inconditis verbis efferuntur, offendent aures,
quarum est judicium superbissimum. Cic. Orat.
(*) S.
Klang,
Ton,
Rhyth-
mus Me-
trisch.
(++) [Spaltenumbruch]
De verbis componendis, syllabis, propemodum di-
numerandis et dimetiondis loquemur, quae etiam si funt ne-
[Spaltenumbruch] cessaria, tamen fiunt magnificentius, quam dicuntur. Cic.
in Orat.
(+++) Duae sunt res, quae permulceant aures, sonus et
numerus. l. c.
[Spaltenumbruch]
Wol
Wolklang.
(Redende Kuͤnſte.)

Es iſt ſchon an mehrern Stellen dieſes Werks an-
gemerkt worden, daß das Gehoͤr weit lebhafter und
nachdruͤklicher empfindet, als das Geſicht; daß an-
genehme und wiedrige Toͤne ſtaͤrker auf uns wuͤr-
ken, als dergleichen Farben und Figur. Hierauf
gruͤndet ſich die Nothwendigkeit den Werken der re-
denden Kuͤnſte Wolklang zu geben. Schon die ge-
meine Rede des taͤglichen Umganges verliehret einen
großen Theil ihrer Kraft, wenn ſie nicht wenigſtens
mit einer gewiſſen Leichtigkeit fließt, und ſie wird
ſehr unangenehm und wiedrig, wenn ſie alles Wol-
klanges beraubt iſt. Wo das Ohr ſich beleidiget
fuͤhlt, da merkt man nicht auf den Sinn der Rede.
Man kann, angenehnie, ſo gar wichtige Sachen
ſagen, und doch, wenn es in einem holperigen Aus-
druk geſchieht, damit dem Gehoͤr, das gar ſehr em-
pfindlich iſt, beſchwerlich fallen (†). Der Wolklang
raͤumt nicht nur jeden Anſtoß des Gehoͤres, der die
Aufmerkſamkeit auf den Sinn der Rede ſtoͤhren
wuͤrde, aus dem Wege, ſondern verurſachet, daß
man die Rede mit Luſt hoͤret, und daß die empfind-
ſame Lage des Gemuͤthes, die den Eindruk ſehr be-
foͤrdert, unterſtuͤzt und verſtaͤrkt wird. Dieſes
haben wir bereits an andern Stellen dieſes Werks
außer Zweifel geſezt. (*)

Der Wolklang iſt demnach in Werken des Ge-
ſchmaks nicht blos als eine Annehmlichkeit, ſondern
als ein zur Unterſtuͤzung der in der Rede liegenden
Kraft anzuſehen. Es iſt bekannt genug, daß Vor-
ſtellungen und Gedanken von mittelmaͤßiger Kraft
durch einen hoͤchſtwolklingenden Ton, beſonders
durch ein gutes Sylbenmaaß, ſehr große Ruͤhrung
hervorbringen koͤnnen. Wenn Haller ſagt:

O ſelig! wen ſein gut Geſchike
Bewahrt vor großem Ruhm und Gluͤke,
Der, was die Welt erhebt, verlacht.

ſo macht der Wolklang des Ausdruks, daß die Ge-
danken deſto lebhafter ruͤhren, und leicht im Ge-
daͤchtnis bleiben; daß der, der dieſelben Gedanken
[Spaltenumbruch]

Wol
ſchon oft mag gehoͤrt, oder ſelbſt gehabt haben, ohne
ſonderlich davon geruͤhrt zu werden, izt ihre volle
Kraft empfindet. Mancher Vers des Homers, deſ-
ſen Jnhalt wenig Aufmerkſamkeit wuͤrde nach ſich
gezogen haben, iſt durch den Wolklang zu Wuͤrde
eines Denkſpruchs oder gar eines wichtigen Spruͤch-
worts erhoben worden.

Was ein ſchoͤnes und lebhaftes Colorit in der
Mahlerey, das iſt der Wolklang fuͤr die Werke der
redenden Kuͤnſte. Fuͤr das Gedicht insbeſonder iſt
er ſo weſentlich, daß der Mangel deſſelben allein es
von dem Gebieth der Poeſie ausſchließt. Jſt er
nicht die erſte und wichtigſte Eigenſchaft der Werke
der Beredſamkeit und Dichtkunſt, ſo iſt er doch eine
nothwendige; denn die beſten Gedanken koͤnnen,
durch uͤbel klingenden Ausdruk ihre Kraft verliehren.

Darum iſt es ſehr wichtig, daß Redner und Dich-
ter beſondern und ernſtlichen Fleis darauf wenden,
ihre Werke wolklingend zu machen.

Ohne große Weitlaͤuftigkeit, und ohne ſehr ſchweer-
faͤllig zu werden, laͤßt ſich nicht alles, was zur Er-
reichung des Wolklanges gehoͤrt, anzeigen (††).
Wir muͤſſen uns nur auf das allgemeineſte und
wichtigſte dieſer Materie einſchraͤnken. Das meiſte
haͤngt ohne dem mehr von einem feinen Gehoͤr und
einer fleißigen Uebung im Hoͤren, als von theoreti-
ſchen Kenntniſſen ab. Deswegen giebt auch Quin-
tilian dem angehenden Redner den Rath, ſich fleißig
im muͤndlichen Vortrag zu uͤben, und andern auf-
merkſam zuzuhoͤren. Man glaubt ofte nicht uͤbel-
klingend geſchrieben zu haben, bis man verſucht,
das geſchriebene gut vorzutragen. Da zeiget ſich
dann gar ofte, daß man nur zu ſehr gefehlt habe.

Der Wolklang haͤngt, wie Cicero wol angemerkt
hat, vom Klang und dem Numerus ab. (†††) Den
Klang geben die einzelen Sylben und die aus die-
ſen zuſammengeſezten Woͤrter, die an ſich mehr
oder weniger wolklingend ſind; und ihre Stellung.
Denn dieſelbe Sylbe und daſſelbe Wort klingt voller,
beſſer, nachdruͤklicher, nachdem ſeine Stellung ne-
ben den uͤbrigen ihm Nachdruk oder Fluͤchtigkeit

giebt,
(†) Quamvis enim ſuaves, gravesque ſententiæ, ta-
men, ſi inconditis verbis efferuntur, offendent aures,
quarum eſt judicium ſuperbiſſimum. Cic. Orat.
(*) S.
Klang,
Ton,
Rhyth-
mus Me-
triſch.
(††) [Spaltenumbruch]
De verbis componendis, ſyllabis, propemodum di-
numerandis et dimetiondis loquemur, quæ etiam ſi funt ne-
[Spaltenumbruch] ceſſaria, tamen fiunt magnificentius, quam dicuntur. Cic.
in Orat.
(†††) Duæ ſunt res, quæ permulceant aures, ſonus et
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[1276[1258]/0705] Wol Wol Wolklang. (Redende Kuͤnſte.) Es iſt ſchon an mehrern Stellen dieſes Werks an- gemerkt worden, daß das Gehoͤr weit lebhafter und nachdruͤklicher empfindet, als das Geſicht; daß an- genehme und wiedrige Toͤne ſtaͤrker auf uns wuͤr- ken, als dergleichen Farben und Figur. Hierauf gruͤndet ſich die Nothwendigkeit den Werken der re- denden Kuͤnſte Wolklang zu geben. Schon die ge- meine Rede des taͤglichen Umganges verliehret einen großen Theil ihrer Kraft, wenn ſie nicht wenigſtens mit einer gewiſſen Leichtigkeit fließt, und ſie wird ſehr unangenehm und wiedrig, wenn ſie alles Wol- klanges beraubt iſt. Wo das Ohr ſich beleidiget fuͤhlt, da merkt man nicht auf den Sinn der Rede. Man kann, angenehnie, ſo gar wichtige Sachen ſagen, und doch, wenn es in einem holperigen Aus- druk geſchieht, damit dem Gehoͤr, das gar ſehr em- pfindlich iſt, beſchwerlich fallen (†). Der Wolklang raͤumt nicht nur jeden Anſtoß des Gehoͤres, der die Aufmerkſamkeit auf den Sinn der Rede ſtoͤhren wuͤrde, aus dem Wege, ſondern verurſachet, daß man die Rede mit Luſt hoͤret, und daß die empfind- ſame Lage des Gemuͤthes, die den Eindruk ſehr be- foͤrdert, unterſtuͤzt und verſtaͤrkt wird. Dieſes haben wir bereits an andern Stellen dieſes Werks außer Zweifel geſezt. (*) Der Wolklang iſt demnach in Werken des Ge- ſchmaks nicht blos als eine Annehmlichkeit, ſondern als ein zur Unterſtuͤzung der in der Rede liegenden Kraft anzuſehen. Es iſt bekannt genug, daß Vor- ſtellungen und Gedanken von mittelmaͤßiger Kraft durch einen hoͤchſtwolklingenden Ton, beſonders durch ein gutes Sylbenmaaß, ſehr große Ruͤhrung hervorbringen koͤnnen. Wenn Haller ſagt: O ſelig! wen ſein gut Geſchike Bewahrt vor großem Ruhm und Gluͤke, Der, was die Welt erhebt, verlacht. ſo macht der Wolklang des Ausdruks, daß die Ge- danken deſto lebhafter ruͤhren, und leicht im Ge- daͤchtnis bleiben; daß der, der dieſelben Gedanken ſchon oft mag gehoͤrt, oder ſelbſt gehabt haben, ohne ſonderlich davon geruͤhrt zu werden, izt ihre volle Kraft empfindet. Mancher Vers des Homers, deſ- ſen Jnhalt wenig Aufmerkſamkeit wuͤrde nach ſich gezogen haben, iſt durch den Wolklang zu Wuͤrde eines Denkſpruchs oder gar eines wichtigen Spruͤch- worts erhoben worden. Was ein ſchoͤnes und lebhaftes Colorit in der Mahlerey, das iſt der Wolklang fuͤr die Werke der redenden Kuͤnſte. Fuͤr das Gedicht insbeſonder iſt er ſo weſentlich, daß der Mangel deſſelben allein es von dem Gebieth der Poeſie ausſchließt. Jſt er nicht die erſte und wichtigſte Eigenſchaft der Werke der Beredſamkeit und Dichtkunſt, ſo iſt er doch eine nothwendige; denn die beſten Gedanken koͤnnen, durch uͤbel klingenden Ausdruk ihre Kraft verliehren. Darum iſt es ſehr wichtig, daß Redner und Dich- ter beſondern und ernſtlichen Fleis darauf wenden, ihre Werke wolklingend zu machen. Ohne große Weitlaͤuftigkeit, und ohne ſehr ſchweer- faͤllig zu werden, laͤßt ſich nicht alles, was zur Er- reichung des Wolklanges gehoͤrt, anzeigen (††). Wir muͤſſen uns nur auf das allgemeineſte und wichtigſte dieſer Materie einſchraͤnken. Das meiſte haͤngt ohne dem mehr von einem feinen Gehoͤr und einer fleißigen Uebung im Hoͤren, als von theoreti- ſchen Kenntniſſen ab. Deswegen giebt auch Quin- tilian dem angehenden Redner den Rath, ſich fleißig im muͤndlichen Vortrag zu uͤben, und andern auf- merkſam zuzuhoͤren. Man glaubt ofte nicht uͤbel- klingend geſchrieben zu haben, bis man verſucht, das geſchriebene gut vorzutragen. Da zeiget ſich dann gar ofte, daß man nur zu ſehr gefehlt habe. Der Wolklang haͤngt, wie Cicero wol angemerkt hat, vom Klang und dem Numerus ab. (†††) Den Klang geben die einzelen Sylben und die aus die- ſen zuſammengeſezten Woͤrter, die an ſich mehr oder weniger wolklingend ſind; und ihre Stellung. Denn dieſelbe Sylbe und daſſelbe Wort klingt voller, beſſer, nachdruͤklicher, nachdem ſeine Stellung ne- ben den uͤbrigen ihm Nachdruk oder Fluͤchtigkeit giebt, (†) Quamvis enim ſuaves, gravesque ſententiæ, ta- men, ſi inconditis verbis efferuntur, offendent aures, quarum eſt judicium ſuperbiſſimum. Cic. Orat. (*) S. Klang, Ton, Rhyth- mus Me- triſch. (††) De verbis componendis, ſyllabis, propemodum di- numerandis et dimetiondis loquemur, quæ etiam ſi funt ne- ceſſaria, tamen fiunt magnificentius, quam dicuntur. Cic. in Orat. (†††) Duæ ſunt res, quæ permulceant aures, ſonus et numerus. l. c.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1276[1258]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/705>, abgerufen am 25.11.2024.