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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Vor
Die Schweere oder Leichtigkeit wird größten-
theils aus der Taktart des Stüks bestimmt. Je
größer die Notengattungen der Taktart sind, je
schweerer ist der Vortrag, und je leichter, je kleiner
sie sind. Dieses ist bereits an einem andern Ort
hinlänglich gezeiget worden. (*) Wir merken hier
nur noch an, daß man auch auf die Bewegung
und Notengattungen des Stüks sehen muß, um
dem Vortrag den gehörigen Grad der Schweere
oder Leichtigkeit zu geben. Der 3/8 Takt z. B. hat
einen leichten Vortrag, ist aber ein Stük in dieser
Taktart mit adagio bezeichnet, und mit Zwey und
dreyßigtheilen angefüllt, denn ist der Vortrag des-
selben schweerer, als er ohne dem seyn würde,
aber nicht so schweer, als wenn dasselbe Stük im
3/4 Takt gesezt wäre. Ferner muß man aus der Be-
schaffenheit oder dem Zusammenhang der Melodie
solche Stellen oder Phrasen bemerken, die vorzüg-
lich schweer oder leicht vorgetragen seyn wollen; da-
durch wird der Ausdruk verstärkt und dem Ganzen
eine angenehme Schattirung gegeben. Nur in
strengen Fugen und Kirchenstüken fällt diese Schat-
tirung weg, weil sie sich nicht wol mit der Würde
und der Erhabenheit des Ausdruks derselben verträgt.
Jn solchen Stüken wird jede Note, nachdem die
Taktart ist, gleich fest und nachdrüklich angegeben.
Ueberhaupt wird jede Taktart in der Kirche schwee-
rer vorgetragen, als in der Cammer, oder auf
dem Theater; auch kommen die ganz leichten Takt-
arten in guten Kirchenstüken nicht vor.
3) Die gehörige Stärke und Schwäche. Ein
Mensch, der niedergeschlagen ist, wenn er auch
die nachdrüklichsten Sachen sagt, spricht in einem
schwächern Ton, als ein anderer, der fröhlich
oder zornig ist; hievon ist jedermann überzeugt.
Da die Musik nun hauptsächlich die Schilderung
der verschiedenen Gemüthsbewegungen zum End-
zweck hat, so ist der gehörige Grad der Stärke
oder Schwäche, worin ein Stük vorgetragen wird,
ein Haupttheil des Ausdruks im Vortrage. Die
Zeichen p. f. und einige andere, die zur Bezeich-
nung des Starken und Schwachen dienen, reichen
so wenig wie die Worte, die die Bewegung bezeich-
nen, hin, alle Grade derselben zu bezeichnen: sie
stehen oft nur da, damit nicht ganz grobe Unschik-
lichkeiten begangen werden möchten, indem man
stark spielte, wo der Ausdruk Schwäche verlangt,
oder schwach, wo man stärker spiehlen sollte; sie
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würden, wenn sie würklich hinreichend wären, oft
unter allen Noten eines Stüks gesezt werden müs-
sen. Dem Sänger, werden sie selten vorgeschrie-
ben, weil von ihm verlangt wird, daß er den
Grad der Stärke und Schwäche aus den Worten
und der darüber gelegten Melodie erkennen soll.

Jedes Stük verlangt im Vortrag einen ihm eige-
nen Grad der Stärke oder Schwäche im Ganzen,
auf den sich die Zeichen p. f. etc. beziehen: dieser muß
aus der Beschaffenheit seines Charakters und Aus-
druks erkannt werden; und eine mehr oder we-
niger merkliche Abänderung desselben in seinen Thei-
len, die aus der Beschaffenheit des Gesanges er-
kannt wird. Einige Stüke wollen durchgängig
nur mezzo forte vorgetragen seyn; andere hinge-
gegen fortissimo. Wo hiewieder gefehlet wird,
verliert der Ausdruk einen großen Theil seiner
Kraft. Es ist falsch, wenn man glaubt, daß die
Stüke, die schweer vorgetragen, auch stark, und die
leichten schwach vorgetragen werden müssen. Um
den Grad der Stärke oder Schwäche des ganzen
Stüks zu treffen, muß man den Ausdruk, der in
ihm liegt, aus den Noten lesen können, oder es
einigemal in verschiedener Stärke oder Schwäche
durchspiehlen, und auf die Verschiedenheit merken,
die diese Abänderungen in dem Ausdruk zuwege
bringen, bis man den Grad getroffen hat, der ihm
zukömmt. Aber die höchste Vollkommenheit des
Ausdruks beruht auf die schiklichsten Abänderungen
des Stärkern und Schwächern in den Theilen eines
Stüks. Oft verlangt der Ausdruk schon bey einer
einzigen Note eine solche Abänderung. Ein geschik-
ter Sänger oder Violinist preßt uns oft durch einen
einzigen ausgehaltenen Ton, blos durch das allmäh-
lige Zu- und Abnehmen seiner Stärke und Schwä-
che, Thränen aus den Augen: Wie vielmehr müs-
sen wir nicht hingerissen werden, wenn er jeder Pe-
riode, jedem Saz und jeder Note desselben, durch
die richtigsten Schattirungen des Piano und Forte,
sein eigenes Licht oder Schatten giebt, wodurch
Wahrheit und Leben auf alles verbreitet wird, jeder
Theil des Stüks sich von den übrigen unterscheidet,
und alle zur Erhöhung des Ausdruks im Ganzen
beytragen? Dann glauben wir eine überirrdische
Sprache zu hören, und verlieren uns ganz in Ent-
züken. Diese Austheilung des Lichts und Schat-
ten im Vortrag ist nur das Werk solcher Virtuosen,
die die musikalische Sprache und den Ausdruk des

Vor-
(*) S.
Takt.
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Vor
Die Schweere oder Leichtigkeit wird groͤßten-
theils aus der Taktart des Stuͤks beſtimmt. Je
groͤßer die Notengattungen der Taktart ſind, je
ſchweerer iſt der Vortrag, und je leichter, je kleiner
ſie ſind. Dieſes iſt bereits an einem andern Ort
hinlaͤnglich gezeiget worden. (*) Wir merken hier
nur noch an, daß man auch auf die Bewegung
und Notengattungen des Stuͤks ſehen muß, um
dem Vortrag den gehoͤrigen Grad der Schweere
oder Leichtigkeit zu geben. Der ⅜ Takt z. B. hat
einen leichten Vortrag, iſt aber ein Stuͤk in dieſer
Taktart mit adagio bezeichnet, und mit Zwey und
dreyßigtheilen angefuͤllt, denn iſt der Vortrag deſ-
ſelben ſchweerer, als er ohne dem ſeyn wuͤrde,
aber nicht ſo ſchweer, als wenn daſſelbe Stuͤk im
¾ Takt geſezt waͤre. Ferner muß man aus der Be-
ſchaffenheit oder dem Zuſammenhang der Melodie
ſolche Stellen oder Phraſen bemerken, die vorzuͤg-
lich ſchweer oder leicht vorgetragen ſeyn wollen; da-
durch wird der Ausdruk verſtaͤrkt und dem Ganzen
eine angenehme Schattirung gegeben. Nur in
ſtrengen Fugen und Kirchenſtuͤken faͤllt dieſe Schat-
tirung weg, weil ſie ſich nicht wol mit der Wuͤrde
und der Erhabenheit des Ausdruks derſelben vertraͤgt.
Jn ſolchen Stuͤken wird jede Note, nachdem die
Taktart iſt, gleich feſt und nachdruͤklich angegeben.
Ueberhaupt wird jede Taktart in der Kirche ſchwee-
rer vorgetragen, als in der Cammer, oder auf
dem Theater; auch kommen die ganz leichten Takt-
arten in guten Kirchenſtuͤken nicht vor.
3) Die gehoͤrige Staͤrke und Schwaͤche. Ein
Menſch, der niedergeſchlagen iſt, wenn er auch
die nachdruͤklichſten Sachen ſagt, ſpricht in einem
ſchwaͤchern Ton, als ein anderer, der froͤhlich
oder zornig iſt; hievon iſt jedermann uͤberzeugt.
Da die Muſik nun hauptſaͤchlich die Schilderung
der verſchiedenen Gemuͤthsbewegungen zum End-
zweck hat, ſo iſt der gehoͤrige Grad der Staͤrke
oder Schwaͤche, worin ein Stuͤk vorgetragen wird,
ein Haupttheil des Ausdruks im Vortrage. Die
Zeichen p. f. und einige andere, die zur Bezeich-
nung des Starken und Schwachen dienen, reichen
ſo wenig wie die Worte, die die Bewegung bezeich-
nen, hin, alle Grade derſelben zu bezeichnen: ſie
ſtehen oft nur da, damit nicht ganz grobe Unſchik-
lichkeiten begangen werden moͤchten, indem man
ſtark ſpielte, wo der Ausdruk Schwaͤche verlangt,
oder ſchwach, wo man ſtaͤrker ſpiehlen ſollte; ſie
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Vor
wuͤrden, wenn ſie wuͤrklich hinreichend waͤren, oft
unter allen Noten eines Stuͤks geſezt werden muͤſ-
ſen. Dem Saͤnger, werden ſie ſelten vorgeſchrie-
ben, weil von ihm verlangt wird, daß er den
Grad der Staͤrke und Schwaͤche aus den Worten
und der daruͤber gelegten Melodie erkennen ſoll.

Jedes Stuͤk verlangt im Vortrag einen ihm eige-
nen Grad der Staͤrke oder Schwaͤche im Ganzen,
auf den ſich die Zeichen p. f. ꝛc. beziehen: dieſer muß
aus der Beſchaffenheit ſeines Charakters und Aus-
druks erkannt werden; und eine mehr oder we-
niger merkliche Abaͤnderung deſſelben in ſeinen Thei-
len, die aus der Beſchaffenheit des Geſanges er-
kannt wird. Einige Stuͤke wollen durchgaͤngig
nur mezzo forte vorgetragen ſeyn; andere hinge-
gegen fortiſſimo. Wo hiewieder gefehlet wird,
verliert der Ausdruk einen großen Theil ſeiner
Kraft. Es iſt falſch, wenn man glaubt, daß die
Stuͤke, die ſchweer vorgetragen, auch ſtark, und die
leichten ſchwach vorgetragen werden muͤſſen. Um
den Grad der Staͤrke oder Schwaͤche des ganzen
Stuͤks zu treffen, muß man den Ausdruk, der in
ihm liegt, aus den Noten leſen koͤnnen, oder es
einigemal in verſchiedener Staͤrke oder Schwaͤche
durchſpiehlen, und auf die Verſchiedenheit merken,
die dieſe Abaͤnderungen in dem Ausdruk zuwege
bringen, bis man den Grad getroffen hat, der ihm
zukoͤmmt. Aber die hoͤchſte Vollkommenheit des
Ausdruks beruht auf die ſchiklichſten Abaͤnderungen
des Staͤrkern und Schwaͤchern in den Theilen eines
Stuͤks. Oft verlangt der Ausdruk ſchon bey einer
einzigen Note eine ſolche Abaͤnderung. Ein geſchik-
ter Saͤnger oder Violiniſt preßt uns oft durch einen
einzigen ausgehaltenen Ton, blos durch das allmaͤh-
lige Zu- und Abnehmen ſeiner Staͤrke und Schwaͤ-
che, Thraͤnen aus den Augen: Wie vielmehr muͤſ-
ſen wir nicht hingeriſſen werden, wenn er jeder Pe-
riode, jedem Saz und jeder Note deſſelben, durch
die richtigſten Schattirungen des Piano und Forte,
ſein eigenes Licht oder Schatten giebt, wodurch
Wahrheit und Leben auf alles verbreitet wird, jeder
Theil des Stuͤks ſich von den uͤbrigen unterſcheidet,
und alle zur Erhoͤhung des Ausdruks im Ganzen
beytragen? Dann glauben wir eine uͤberirrdiſche
Sprache zu hoͤren, und verlieren uns ganz in Ent-
zuͤken. Dieſe Austheilung des Lichts und Schat-
ten im Vortrag iſt nur das Werk ſolcher Virtuoſen,
die die muſikaliſche Sprache und den Ausdruk des

Vor-
(*) S.
Takt.
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[1254[1236]/0683] Vor Vor Die Schweere oder Leichtigkeit wird groͤßten- theils aus der Taktart des Stuͤks beſtimmt. Je groͤßer die Notengattungen der Taktart ſind, je ſchweerer iſt der Vortrag, und je leichter, je kleiner ſie ſind. Dieſes iſt bereits an einem andern Ort hinlaͤnglich gezeiget worden. (*) Wir merken hier nur noch an, daß man auch auf die Bewegung und Notengattungen des Stuͤks ſehen muß, um dem Vortrag den gehoͤrigen Grad der Schweere oder Leichtigkeit zu geben. Der ⅜ Takt z. B. hat einen leichten Vortrag, iſt aber ein Stuͤk in dieſer Taktart mit adagio bezeichnet, und mit Zwey und dreyßigtheilen angefuͤllt, denn iſt der Vortrag deſ- ſelben ſchweerer, als er ohne dem ſeyn wuͤrde, aber nicht ſo ſchweer, als wenn daſſelbe Stuͤk im ¾ Takt geſezt waͤre. Ferner muß man aus der Be- ſchaffenheit oder dem Zuſammenhang der Melodie ſolche Stellen oder Phraſen bemerken, die vorzuͤg- lich ſchweer oder leicht vorgetragen ſeyn wollen; da- durch wird der Ausdruk verſtaͤrkt und dem Ganzen eine angenehme Schattirung gegeben. Nur in ſtrengen Fugen und Kirchenſtuͤken faͤllt dieſe Schat- tirung weg, weil ſie ſich nicht wol mit der Wuͤrde und der Erhabenheit des Ausdruks derſelben vertraͤgt. Jn ſolchen Stuͤken wird jede Note, nachdem die Taktart iſt, gleich feſt und nachdruͤklich angegeben. Ueberhaupt wird jede Taktart in der Kirche ſchwee- rer vorgetragen, als in der Cammer, oder auf dem Theater; auch kommen die ganz leichten Takt- arten in guten Kirchenſtuͤken nicht vor. 3) Die gehoͤrige Staͤrke und Schwaͤche. Ein Menſch, der niedergeſchlagen iſt, wenn er auch die nachdruͤklichſten Sachen ſagt, ſpricht in einem ſchwaͤchern Ton, als ein anderer, der froͤhlich oder zornig iſt; hievon iſt jedermann uͤberzeugt. Da die Muſik nun hauptſaͤchlich die Schilderung der verſchiedenen Gemuͤthsbewegungen zum End- zweck hat, ſo iſt der gehoͤrige Grad der Staͤrke oder Schwaͤche, worin ein Stuͤk vorgetragen wird, ein Haupttheil des Ausdruks im Vortrage. Die Zeichen p. f. und einige andere, die zur Bezeich- nung des Starken und Schwachen dienen, reichen ſo wenig wie die Worte, die die Bewegung bezeich- nen, hin, alle Grade derſelben zu bezeichnen: ſie ſtehen oft nur da, damit nicht ganz grobe Unſchik- lichkeiten begangen werden moͤchten, indem man ſtark ſpielte, wo der Ausdruk Schwaͤche verlangt, oder ſchwach, wo man ſtaͤrker ſpiehlen ſollte; ſie wuͤrden, wenn ſie wuͤrklich hinreichend waͤren, oft unter allen Noten eines Stuͤks geſezt werden muͤſ- ſen. Dem Saͤnger, werden ſie ſelten vorgeſchrie- ben, weil von ihm verlangt wird, daß er den Grad der Staͤrke und Schwaͤche aus den Worten und der daruͤber gelegten Melodie erkennen ſoll. Jedes Stuͤk verlangt im Vortrag einen ihm eige- nen Grad der Staͤrke oder Schwaͤche im Ganzen, auf den ſich die Zeichen p. f. ꝛc. beziehen: dieſer muß aus der Beſchaffenheit ſeines Charakters und Aus- druks erkannt werden; und eine mehr oder we- niger merkliche Abaͤnderung deſſelben in ſeinen Thei- len, die aus der Beſchaffenheit des Geſanges er- kannt wird. Einige Stuͤke wollen durchgaͤngig nur mezzo forte vorgetragen ſeyn; andere hinge- gegen fortiſſimo. Wo hiewieder gefehlet wird, verliert der Ausdruk einen großen Theil ſeiner Kraft. Es iſt falſch, wenn man glaubt, daß die Stuͤke, die ſchweer vorgetragen, auch ſtark, und die leichten ſchwach vorgetragen werden muͤſſen. Um den Grad der Staͤrke oder Schwaͤche des ganzen Stuͤks zu treffen, muß man den Ausdruk, der in ihm liegt, aus den Noten leſen koͤnnen, oder es einigemal in verſchiedener Staͤrke oder Schwaͤche durchſpiehlen, und auf die Verſchiedenheit merken, die dieſe Abaͤnderungen in dem Ausdruk zuwege bringen, bis man den Grad getroffen hat, der ihm zukoͤmmt. Aber die hoͤchſte Vollkommenheit des Ausdruks beruht auf die ſchiklichſten Abaͤnderungen des Staͤrkern und Schwaͤchern in den Theilen eines Stuͤks. Oft verlangt der Ausdruk ſchon bey einer einzigen Note eine ſolche Abaͤnderung. Ein geſchik- ter Saͤnger oder Violiniſt preßt uns oft durch einen einzigen ausgehaltenen Ton, blos durch das allmaͤh- lige Zu- und Abnehmen ſeiner Staͤrke und Schwaͤ- che, Thraͤnen aus den Augen: Wie vielmehr muͤſ- ſen wir nicht hingeriſſen werden, wenn er jeder Pe- riode, jedem Saz und jeder Note deſſelben, durch die richtigſten Schattirungen des Piano und Forte, ſein eigenes Licht oder Schatten giebt, wodurch Wahrheit und Leben auf alles verbreitet wird, jeder Theil des Stuͤks ſich von den uͤbrigen unterſcheidet, und alle zur Erhoͤhung des Ausdruks im Ganzen beytragen? Dann glauben wir eine uͤberirrdiſche Sprache zu hoͤren, und verlieren uns ganz in Ent- zuͤken. Dieſe Austheilung des Lichts und Schat- ten im Vortrag iſt nur das Werk ſolcher Virtuoſen, die die muſikaliſche Sprache und den Ausdruk des Vor- (*) S. Takt.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1254[1236]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/683>, abgerufen am 20.05.2024.