von Geschmeid und Schmuk strozet, da wird die natürliche Schönheit verdunkelt.
Ein fürtreflicher Kunstrichter scheinet die Verzie- rungen in den Werken der Beredsamkeit für Dinge zu halten, die man mehr dem gemeinen Liebhaber als dem Kenner zu gefallen, anbringt (+). Wahre Kenner sehen überall auf das Wesentliche der Dinge, und finden das größte Wolgefallen an Vollkom- menheit; wer aber nicht Gefühl genug hat durch die wesentliche Vollkommenheit der Dinge gerührt zu werden, ergözet sich an angehängten Zierrathen. So viel scheinet gewiß zu seyn, daß die größten Künst- ler in jeder Art auch die größte Sparsamkeit in Ver- zierungen zeigen. An den griechischen Gebäuden, die aus der guten Zeit der Kunst übrig geblieben sind, findet man nur wenig Verzierungen; äußerst verschwendet sind sie aber an den so genannten gothi- schen Gebäuden der mittlern Zeiten, die man durch Schönheit und Pracht unterscheiden wollte.
Es ist kaum ein Theil der Kunst der mehr Ge- schmak und Beurtheilung erfodert, als dieser. Der Künstler thut wol, der es sich zur Maxime macht, in Ansehung der Verzierungen lieber zu wenig, als zu viel zu thun, da der gänzliche Mangel der Ver- zierungen kein Werk mangelhaft macht, die Ueber- häufung derselben aber, es gewiß verstellt.
Es giebt Werke der Kunst, die kaum irgend eine Art der Verzierung zulassen. Wo starke, oder tiefe Rührung des Herzens gesucht wird, folglich in pa- thetischen und zärtlichen Gegenständen, scheinen sie gar nicht statt zu haben. Man kann überhaupt dieses zur Grundregel der Verzierungen sezen, daß ein Werk um so viel weniger Zierrat verträgt, je mehr wesentliche ästhetische Kraft es besizt. Man findet in den Philippischen Reden des Demosthenes, und in den Catilinarischen und Philippischen des Ci- cero nichts von Schmuk, den der römische Redner sonst, wo er weniger ernsthaft war, vielleicht nur zu viel liebte. Jn blos unterhaltenden Werken, und überall, wo der Jnhalt, oder die Materie an sich weniger wichtig, weniger ernsthaft ist, können die Verzierungen zu Vermehrung der Annehmlich- keit viel beytragen.
Der Künstler, dem es ein wahrer Ernst ist zu unterrichten, oder zu rühren, denkt nicht an Ver- [Spaltenumbruch]
Ver
zierungen, die dazu nichts beytragen können; aber der, der belustigen will, muß, wenn sein Stoff dazu nicht hinreichend ist, seine Zuflucht zu Verzierungen nehmen. Die griechischen Fabeln, die dem Aesopus zugeschrieben werden, und die lateinischen des Phä- drus, sind fast durchaus ohne alle Verzierung; weil es den Verfassern im Ernst um Unterricht zu thun war: hingegen siehet man aus den häufigen Ver- zierungen in den Fabeln des La Fontaine, daß er mehr gesucht hat zu belustigen, als zu unterrichten.
Der Künstler hat aber nicht blos zu beurtheilen, wo sich Verzierungen schiken, sondern auch wie sie beschaffen seyn sollen. Quintilian hat in wenig Worten gesagt, was sich hierüber sagen läßt. Orna- tus virilis, fortis, sanctus sit: nec effeminatam le- vitatem, nec fuco eminentem colorem amet; san- guine et viribus niteat. Die Verzierungen sollen männlich, kräftig und keusch seyn; sie sollen nicht weibischen Leichtsinn verrathen, auch nicht bloßen Schimmer geben, sondern wahre ästhetische Kraft und Bedeutung haben.
Die meisten in der reinen griechischen Baukunst gebräuchlichen Verzierungen, können als Beyspiehle zur Erläuterung dieser Foderungen angeführt wer- den. Man begreift beynahe bey allen, wie sie ent- standen, oder warum sie da sind, wie wir größten- theils in den Artikeln darüber angemerkt haben: (*) und meist überall dienen sie das Ansehen der Festig- keit zu vermehren. Also sind sie nicht leichtsinniger Weise, oder aus bloßem Eigensinn angebracht; fast überall sind sie einfach und von faßlicher Form, also nicht ausschweiffend oder üppig; haben eine Bedeu- tung, in dem sie entweder zum Tragen, oder Unter- stüzen dienen, wie die Kragsteine, oder zum festern Verbinden, wie die Schlußsteine und die durchlau- fenden Bänder und Gesimse, oder sonst schikliche Nebenbegriffe erweken, wie die Trophäen, Festonen und dergleichen. Nirgend sind sie bloßer Schim- mer, der ohne bestimmten Zwek, blos das Aug an sich lokt: nirgend verbergen sie die natürliche Form und einfache Gestalt der wesentlichen Theile, an de- nen sie angebracht sind.
Hingegen siehet man in den spätheren Gebäuden der Alten, die unter den Nachfolgern der ersten Kayser aufgeführt worden, Verzierungen, die nichts
von
(+)Cultu et ornatu se commendat ipse, qui dicit, et in ceteris judicium doctorum, in hoc vero etiam popularem [Spaltenumbruch]
laudem petit. Quintil. Inst. L. VIII. c. 3.
(*) S. Gesims; Sparren- kopf, Krag- stein u. s. w.
Zweyter Theil. P p p p p p p
[Spaltenumbruch]
Ver
von Geſchmeid und Schmuk ſtrozet, da wird die natuͤrliche Schoͤnheit verdunkelt.
Ein fuͤrtreflicher Kunſtrichter ſcheinet die Verzie- rungen in den Werken der Beredſamkeit fuͤr Dinge zu halten, die man mehr dem gemeinen Liebhaber als dem Kenner zu gefallen, anbringt (†). Wahre Kenner ſehen uͤberall auf das Weſentliche der Dinge, und finden das groͤßte Wolgefallen an Vollkom- menheit; wer aber nicht Gefuͤhl genug hat durch die weſentliche Vollkommenheit der Dinge geruͤhrt zu werden, ergoͤzet ſich an angehaͤngten Zierrathen. So viel ſcheinet gewiß zu ſeyn, daß die groͤßten Kuͤnſt- ler in jeder Art auch die groͤßte Sparſamkeit in Ver- zierungen zeigen. An den griechiſchen Gebaͤuden, die aus der guten Zeit der Kunſt uͤbrig geblieben ſind, findet man nur wenig Verzierungen; aͤußerſt verſchwendet ſind ſie aber an den ſo genannten gothi- ſchen Gebaͤuden der mittlern Zeiten, die man durch Schoͤnheit und Pracht unterſcheiden wollte.
Es iſt kaum ein Theil der Kunſt der mehr Ge- ſchmak und Beurtheilung erfodert, als dieſer. Der Kuͤnſtler thut wol, der es ſich zur Maxime macht, in Anſehung der Verzierungen lieber zu wenig, als zu viel zu thun, da der gaͤnzliche Mangel der Ver- zierungen kein Werk mangelhaft macht, die Ueber- haͤufung derſelben aber, es gewiß verſtellt.
Es giebt Werke der Kunſt, die kaum irgend eine Art der Verzierung zulaſſen. Wo ſtarke, oder tiefe Ruͤhrung des Herzens geſucht wird, folglich in pa- thetiſchen und zaͤrtlichen Gegenſtaͤnden, ſcheinen ſie gar nicht ſtatt zu haben. Man kann uͤberhaupt dieſes zur Grundregel der Verzierungen ſezen, daß ein Werk um ſo viel weniger Zierrat vertraͤgt, je mehr weſentliche aͤſthetiſche Kraft es beſizt. Man findet in den Philippiſchen Reden des Demoſthenes, und in den Catilinariſchen und Philippiſchen des Ci- cero nichts von Schmuk, den der roͤmiſche Redner ſonſt, wo er weniger ernſthaft war, vielleicht nur zu viel liebte. Jn blos unterhaltenden Werken, und uͤberall, wo der Jnhalt, oder die Materie an ſich weniger wichtig, weniger ernſthaft iſt, koͤnnen die Verzierungen zu Vermehrung der Annehmlich- keit viel beytragen.
Der Kuͤnſtler, dem es ein wahrer Ernſt iſt zu unterrichten, oder zu ruͤhren, denkt nicht an Ver- [Spaltenumbruch]
Ver
zierungen, die dazu nichts beytragen koͤnnen; aber der, der beluſtigen will, muß, wenn ſein Stoff dazu nicht hinreichend iſt, ſeine Zuflucht zu Verzierungen nehmen. Die griechiſchen Fabeln, die dem Aeſopus zugeſchrieben werden, und die lateiniſchen des Phaͤ- drus, ſind faſt durchaus ohne alle Verzierung; weil es den Verfaſſern im Ernſt um Unterricht zu thun war: hingegen ſiehet man aus den haͤufigen Ver- zierungen in den Fabeln des La Fontaine, daß er mehr geſucht hat zu beluſtigen, als zu unterrichten.
Der Kuͤnſtler hat aber nicht blos zu beurtheilen, wo ſich Verzierungen ſchiken, ſondern auch wie ſie beſchaffen ſeyn ſollen. Quintilian hat in wenig Worten geſagt, was ſich hieruͤber ſagen laͤßt. Orna- tus virilis, fortis, ſanctus ſit: nec effeminatam le- vitatem, nec fuco eminentem colorem amet; ſan- guine et viribus niteat. Die Verzierungen ſollen maͤnnlich, kraͤftig und keuſch ſeyn; ſie ſollen nicht weibiſchen Leichtſinn verrathen, auch nicht bloßen Schimmer geben, ſondern wahre aͤſthetiſche Kraft und Bedeutung haben.
Die meiſten in der reinen griechiſchen Baukunſt gebraͤuchlichen Verzierungen, koͤnnen als Beyſpiehle zur Erlaͤuterung dieſer Foderungen angefuͤhrt wer- den. Man begreift beynahe bey allen, wie ſie ent- ſtanden, oder warum ſie da ſind, wie wir groͤßten- theils in den Artikeln daruͤber angemerkt haben: (*) und meiſt uͤberall dienen ſie das Anſehen der Feſtig- keit zu vermehren. Alſo ſind ſie nicht leichtſinniger Weiſe, oder aus bloßem Eigenſinn angebracht; faſt uͤberall ſind ſie einfach und von faßlicher Form, alſo nicht ausſchweiffend oder uͤppig; haben eine Bedeu- tung, in dem ſie entweder zum Tragen, oder Unter- ſtuͤzen dienen, wie die Kragſteine, oder zum feſtern Verbinden, wie die Schlußſteine und die durchlau- fenden Baͤnder und Geſimſe, oder ſonſt ſchikliche Nebenbegriffe erweken, wie die Trophaͤen, Feſtonen und dergleichen. Nirgend ſind ſie bloßer Schim- mer, der ohne beſtimmten Zwek, blos das Aug an ſich lokt: nirgend verbergen ſie die natuͤrliche Form und einfache Geſtalt der weſentlichen Theile, an de- nen ſie angebracht ſind.
Hingegen ſiehet man in den ſpaͤtheren Gebaͤuden der Alten, die unter den Nachfolgern der erſten Kayſer aufgefuͤhrt worden, Verzierungen, die nichts
von
(†)Cultu et ornatu ſe commendat ipſe, qui dicit, et in ceteris judicium doctorum, in hoc vero etiam popularem [Spaltenumbruch]
laudem petit. Quintil. Inſt. L. VIII. c. 3.
(*) S. Geſims; Sparren- kopf, Krag- ſtein u. ſ. w.
Zweyter Theil. P p p p p p p
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[1235[1217]/0664]
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von Geſchmeid und Schmuk ſtrozet, da wird die
natuͤrliche Schoͤnheit verdunkelt.
Ein fuͤrtreflicher Kunſtrichter ſcheinet die Verzie-
rungen in den Werken der Beredſamkeit fuͤr Dinge
zu halten, die man mehr dem gemeinen Liebhaber
als dem Kenner zu gefallen, anbringt (†). Wahre
Kenner ſehen uͤberall auf das Weſentliche der Dinge,
und finden das groͤßte Wolgefallen an Vollkom-
menheit; wer aber nicht Gefuͤhl genug hat durch
die weſentliche Vollkommenheit der Dinge geruͤhrt
zu werden, ergoͤzet ſich an angehaͤngten Zierrathen.
So viel ſcheinet gewiß zu ſeyn, daß die groͤßten Kuͤnſt-
ler in jeder Art auch die groͤßte Sparſamkeit in Ver-
zierungen zeigen. An den griechiſchen Gebaͤuden,
die aus der guten Zeit der Kunſt uͤbrig geblieben
ſind, findet man nur wenig Verzierungen; aͤußerſt
verſchwendet ſind ſie aber an den ſo genannten gothi-
ſchen Gebaͤuden der mittlern Zeiten, die man durch
Schoͤnheit und Pracht unterſcheiden wollte.
Es iſt kaum ein Theil der Kunſt der mehr Ge-
ſchmak und Beurtheilung erfodert, als dieſer. Der
Kuͤnſtler thut wol, der es ſich zur Maxime macht,
in Anſehung der Verzierungen lieber zu wenig, als
zu viel zu thun, da der gaͤnzliche Mangel der Ver-
zierungen kein Werk mangelhaft macht, die Ueber-
haͤufung derſelben aber, es gewiß verſtellt.
Es giebt Werke der Kunſt, die kaum irgend eine
Art der Verzierung zulaſſen. Wo ſtarke, oder tiefe
Ruͤhrung des Herzens geſucht wird, folglich in pa-
thetiſchen und zaͤrtlichen Gegenſtaͤnden, ſcheinen ſie
gar nicht ſtatt zu haben. Man kann uͤberhaupt
dieſes zur Grundregel der Verzierungen ſezen, daß
ein Werk um ſo viel weniger Zierrat vertraͤgt, je
mehr weſentliche aͤſthetiſche Kraft es beſizt. Man
findet in den Philippiſchen Reden des Demoſthenes,
und in den Catilinariſchen und Philippiſchen des Ci-
cero nichts von Schmuk, den der roͤmiſche Redner
ſonſt, wo er weniger ernſthaft war, vielleicht nur
zu viel liebte. Jn blos unterhaltenden Werken,
und uͤberall, wo der Jnhalt, oder die Materie an
ſich weniger wichtig, weniger ernſthaft iſt, koͤnnen
die Verzierungen zu Vermehrung der Annehmlich-
keit viel beytragen.
Der Kuͤnſtler, dem es ein wahrer Ernſt iſt zu
unterrichten, oder zu ruͤhren, denkt nicht an Ver-
zierungen, die dazu nichts beytragen koͤnnen; aber
der, der beluſtigen will, muß, wenn ſein Stoff dazu
nicht hinreichend iſt, ſeine Zuflucht zu Verzierungen
nehmen. Die griechiſchen Fabeln, die dem Aeſopus
zugeſchrieben werden, und die lateiniſchen des Phaͤ-
drus, ſind faſt durchaus ohne alle Verzierung; weil
es den Verfaſſern im Ernſt um Unterricht zu thun
war: hingegen ſiehet man aus den haͤufigen Ver-
zierungen in den Fabeln des La Fontaine, daß er
mehr geſucht hat zu beluſtigen, als zu unterrichten.
Der Kuͤnſtler hat aber nicht blos zu beurtheilen,
wo ſich Verzierungen ſchiken, ſondern auch wie ſie
beſchaffen ſeyn ſollen. Quintilian hat in wenig
Worten geſagt, was ſich hieruͤber ſagen laͤßt. Orna-
tus virilis, fortis, ſanctus ſit: nec effeminatam le-
vitatem, nec fuco eminentem colorem amet; ſan-
guine et viribus niteat. Die Verzierungen ſollen
maͤnnlich, kraͤftig und keuſch ſeyn; ſie ſollen nicht
weibiſchen Leichtſinn verrathen, auch nicht bloßen
Schimmer geben, ſondern wahre aͤſthetiſche Kraft
und Bedeutung haben.
Die meiſten in der reinen griechiſchen Baukunſt
gebraͤuchlichen Verzierungen, koͤnnen als Beyſpiehle
zur Erlaͤuterung dieſer Foderungen angefuͤhrt wer-
den. Man begreift beynahe bey allen, wie ſie ent-
ſtanden, oder warum ſie da ſind, wie wir groͤßten-
theils in den Artikeln daruͤber angemerkt haben: (*)
und meiſt uͤberall dienen ſie das Anſehen der Feſtig-
keit zu vermehren. Alſo ſind ſie nicht leichtſinniger
Weiſe, oder aus bloßem Eigenſinn angebracht; faſt
uͤberall ſind ſie einfach und von faßlicher Form, alſo
nicht ausſchweiffend oder uͤppig; haben eine Bedeu-
tung, in dem ſie entweder zum Tragen, oder Unter-
ſtuͤzen dienen, wie die Kragſteine, oder zum feſtern
Verbinden, wie die Schlußſteine und die durchlau-
fenden Baͤnder und Geſimſe, oder ſonſt ſchikliche
Nebenbegriffe erweken, wie die Trophaͤen, Feſtonen
und dergleichen. Nirgend ſind ſie bloßer Schim-
mer, der ohne beſtimmten Zwek, blos das Aug an
ſich lokt: nirgend verbergen ſie die natuͤrliche Form
und einfache Geſtalt der weſentlichen Theile, an de-
nen ſie angebracht ſind.
Hingegen ſiehet man in den ſpaͤtheren Gebaͤuden
der Alten, die unter den Nachfolgern der erſten
Kayſer aufgefuͤhrt worden, Verzierungen, die nichts
von
(†) Cultu et ornatu ſe commendat ipſe, qui dicit, et
in ceteris judicium doctorum, in hoc vero etiam popularem
laudem petit. Quintil. Inſt. L. VIII. c. 3.
(*) S.
Geſims;
Sparren-
kopf, Krag-
ſtein u. ſ. w.
Zweyter Theil. P p p p p p p
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1235[1217]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/664>, abgerufen am 24.11.2024.
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