Diese contrapunktischen Versezungen unterscheiden sich von den Nachahmungen aller Arten, z. B. in der 2. 3. 4. 5. 6. etc. darin, daß bey den lez- teren die zweyte Stimme gehen kann, wie sie will; da bey den coutrapunktischen Versezungen eine Stimme, wie bey allen Contrapunkten, unversezt bleiben muß, oder höchstens nur eine Octave ver- sezt wird.
Versezungen. (Redende Künste.)
Es giebt auch in ausgebildeten Sprachen, die schon fest gesezte Regeln der Wortfügung haben, allemal noch viel Redesäze, wo die Ordnung der Wörter ohne Veränderung des Sinnes, verändert werden kann. Haller sagt von der Jugend:
Der Wollust sanfte Glut wäcmt ihr die Adern auf, Kein Einfall von Vernunft hemmt ihrer Lüste Lauf.
Der Sinn dieser beyden Redesäze ist völlig derselbe, wenn die Worte so gestellt werden:
Die sanfte Glut der Wollust wärmt ihr die Adern auf Jhrer Lüste Lauf hemmt kein Einfall der Vernunft.
oder so:
Jhr wärmt die sanfte Glut der Wollust die Adern auf Den Lauf ihrer Lüste hemmt kein Einfall der Vernunft.
Veränderung der Ordnung der Worte, werden Ver- sezungen genennt. Es giebt aber Versezungen, die den Sinn ändern. Wenn der erste der angeführten Verse so versezt würde:
Wärmt der Wollust sanfte Glut ihr die Adern auf so würd es dem Saz seine absolut bejahende Bedeu- tung benehmen, und ihn zu einer Frag, oder zu einem bedingten Saze, Wenn ihr die Wollust etc. machen. Andere Versezungen aber ändern den Sinn nicht, sie geben ihm nur eine verschiedene Wen- dung. Derselbe Gedanken bekommt in dieser Stel- lung
Der Wollust sanfte Glut wärmt ihr die Adern auf eine andere Wendung, als in dieser:
Die Adern wärmt ihr die sanfte Glut der Wollust auf. Nach der ersten Wortfügung ist die Wollust, der Hauptbegriff, auf den es hier ankommt; und der Sinn ist so gewendet, daß man zuerst die Ursache, denn ihre Stärke, und zulezt ihre Würkung sich vor- stellen muß. Nach der andern wird die Würkung, als die Hauptsache zuerst vorgestellt, hernach ihre Ursach angezeiget.
[Spaltenumbruch]
Ver
Dergleichen Versezungen haben aber nur statt, in so fern sie den grammatischen Regeln der Wort- fügung nicht entgegen sind; denn wenn sie dieses wä- ren, so würden sie anstößig seyn. Man kann, ohne barbarisch zu reden, anstatt: Gestern ist er bey mir gewesen, nicht sagen: bey mir gestern ist er ge- wesen, wol aber, er ist gestern bey mir gewesen.
Ungrammatische Versezungen sind überall zu ver- meiden; weil sie in jeder Rede dem Ohr anstößig werden. Aus den Versezungen aber, die ohne Verwirrung des Sinnes, und ohne Beleidigung des Gehörs können vorgenommen werden, ziehen die redenden Künste so große und so mannigfaltige Vortheile, daß eine Sprache zur Beredsamkeit und Dichtkunst um so viel tauglicher ist, je mannigfal- tigere Versezungen sie zuläßt.
Es giebt Versezungen die blos den Wolklang be- fördern, einen Saz leicht und wolfließend, und eine ganze Periode wolklingend machen.
Auch wird oft ein Redesaz blos durch Versezung zum Vers, ohne sonst irgend einen andern Ton, oder eine andere Wendung anzunehmen. Es ist dem Sinne nach vollkommen gleichgültig zu sagen: Je- der bringt den Mutterwiz auf die Welt; der Schul- wiz wird nur durch Bücher gegeben, oder:
Den Mutterwiz bringt jeder auf die Welt, Der Schulwiz wird durch Bücher nur gegeben.
Andremale dienen sie zum Nachdruk und zur Lebhaf- tigkeit der Rede:
Was wahre Tugend ist, wird nie der Pöbel kennen. ist weit lebhafter, als dieses: Der Pöbel wird nie kennen, was wahre Tugend ist.
Bisweilen geben sie der Rede den feurigen, oder feyerlichen poetischen Ton, der uns mit großem Nachdruk rühret. Hagedorn sagt im Ton der edel- sten Begeisterung:
Verlohren ist der Tag und schändlich sind die Stunden Die, wenn wir fähig sind, Bedrängten beyzustehn, Beym Anblik ihres Harms uns unempfindlich sehn.
Ein großer Theil der Kraft würde diesem Saz ent- gehen, wenn man mit denselben Worte sagte: Der Tag ist verlohren, und die Stunden sind schänd- lich, die uns, wenn wir fähig sind u. s. w.
Blos in den Versezungen liegt so mannigfaltige und so wichtige ästhetische Kraft, daß es der Mühe werth wäre, die Beyspiehle davon zu sammeln. Denn anders ist es nicht wol möglich, weder die
ver-
[Spaltenumbruch]
Ver
Dieſe contrapunktiſchen Verſezungen unterſcheiden ſich von den Nachahmungen aller Arten, z. B. in der 2. 3. 4. 5. 6. ꝛc. darin, daß bey den lez- teren die zweyte Stimme gehen kann, wie ſie will; da bey den coutrapunktiſchen Verſezungen eine Stimme, wie bey allen Contrapunkten, unverſezt bleiben muß, oder hoͤchſtens nur eine Octave ver- ſezt wird.
Verſezungen. (Redende Kuͤnſte.)
Es giebt auch in ausgebildeten Sprachen, die ſchon feſt geſezte Regeln der Wortfuͤgung haben, allemal noch viel Redeſaͤze, wo die Ordnung der Woͤrter ohne Veraͤnderung des Sinnes, veraͤndert werden kann. Haller ſagt von der Jugend:
Der Wolluſt ſanfte Glut waͤcmt ihr die Adern auf, Kein Einfall von Vernunft hemmt ihrer Luͤſte Lauf.
Der Sinn dieſer beyden Redeſaͤze iſt voͤllig derſelbe, wenn die Worte ſo geſtellt werden:
Die ſanfte Glut der Wolluſt waͤrmt ihr die Adern auf Jhrer Luͤſte Lauf hemmt kein Einfall der Vernunft.
oder ſo:
Jhr waͤrmt die ſanfte Glut der Wolluſt die Adern auf Den Lauf ihrer Luͤſte hemmt kein Einfall der Vernunft.
Veraͤnderung der Ordnung der Worte, werden Ver- ſezungen genennt. Es giebt aber Verſezungen, die den Sinn aͤndern. Wenn der erſte der angefuͤhrten Verſe ſo verſezt wuͤrde:
Waͤrmt der Wolluſt ſanfte Glut ihr die Adern auf ſo wuͤrd es dem Saz ſeine abſolut bejahende Bedeu- tung benehmen, und ihn zu einer Frag, oder zu einem bedingten Saze, Wenn ihr die Wolluſt ꝛc. machen. Andere Verſezungen aber aͤndern den Sinn nicht, ſie geben ihm nur eine verſchiedene Wen- dung. Derſelbe Gedanken bekommt in dieſer Stel- lung
Der Wolluſt ſanfte Glut waͤrmt ihr die Adern auf eine andere Wendung, als in dieſer:
Die Adern waͤrmt ihr die ſanfte Glut der Wolluſt auf. Nach der erſten Wortfuͤgung iſt die Wolluſt, der Hauptbegriff, auf den es hier ankommt; und der Sinn iſt ſo gewendet, daß man zuerſt die Urſache, denn ihre Staͤrke, und zulezt ihre Wuͤrkung ſich vor- ſtellen muß. Nach der andern wird die Wuͤrkung, als die Hauptſache zuerſt vorgeſtellt, hernach ihre Urſach angezeiget.
[Spaltenumbruch]
Ver
Dergleichen Verſezungen haben aber nur ſtatt, in ſo fern ſie den grammatiſchen Regeln der Wort- fuͤgung nicht entgegen ſind; denn wenn ſie dieſes waͤ- ren, ſo wuͤrden ſie anſtoͤßig ſeyn. Man kann, ohne barbariſch zu reden, anſtatt: Geſtern iſt er bey mir geweſen, nicht ſagen: bey mir geſtern iſt er ge- weſen, wol aber, er iſt geſtern bey mir geweſen.
Ungrammatiſche Verſezungen ſind uͤberall zu ver- meiden; weil ſie in jeder Rede dem Ohr anſtoͤßig werden. Aus den Verſezungen aber, die ohne Verwirrung des Sinnes, und ohne Beleidigung des Gehoͤrs koͤnnen vorgenommen werden, ziehen die redenden Kuͤnſte ſo große und ſo mannigfaltige Vortheile, daß eine Sprache zur Beredſamkeit und Dichtkunſt um ſo viel tauglicher iſt, je mannigfal- tigere Verſezungen ſie zulaͤßt.
Es giebt Verſezungen die blos den Wolklang be- foͤrdern, einen Saz leicht und wolfließend, und eine ganze Periode wolklingend machen.
Auch wird oft ein Redeſaz blos durch Verſezung zum Vers, ohne ſonſt irgend einen andern Ton, oder eine andere Wendung anzunehmen. Es iſt dem Sinne nach vollkommen gleichguͤltig zu ſagen: Je- der bringt den Mutterwiz auf die Welt; der Schul- wiz wird nur durch Buͤcher gegeben, oder:
Den Mutterwiz bringt jeder auf die Welt, Der Schulwiz wird durch Buͤcher nur gegeben.
Andremale dienen ſie zum Nachdruk und zur Lebhaf- tigkeit der Rede:
Was wahre Tugend iſt, wird nie der Poͤbel kennen. iſt weit lebhafter, als dieſes: Der Poͤbel wird nie kennen, was wahre Tugend iſt.
Bisweilen geben ſie der Rede den feurigen, oder feyerlichen poetiſchen Ton, der uns mit großem Nachdruk ruͤhret. Hagedorn ſagt im Ton der edel- ſten Begeiſterung:
Verlohren iſt der Tag und ſchaͤndlich ſind die Stunden Die, wenn wir faͤhig ſind, Bedraͤngten beyzuſtehn, Beym Anblik ihres Harms uns unempfindlich ſehn.
Ein großer Theil der Kraft wuͤrde dieſem Saz ent- gehen, wenn man mit denſelben Worte ſagte: Der Tag iſt verlohren, und die Stunden ſind ſchaͤnd- lich, die uns, wenn wir faͤhig ſind u. ſ. w.
Blos in den Verſezungen liegt ſo mannigfaltige und ſo wichtige aͤſthetiſche Kraft, daß es der Muͤhe werth waͤre, die Beyſpiehle davon zu ſammeln. Denn anders iſt es nicht wol moͤglich, weder die
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[1228[1210]/0657]
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Dieſe contrapunktiſchen Verſezungen unterſcheiden
ſich von den Nachahmungen aller Arten, z. B.
in der 2. 3. 4. 5. 6. ꝛc. darin, daß bey den lez-
teren die zweyte Stimme gehen kann, wie ſie will;
da bey den coutrapunktiſchen Verſezungen eine
Stimme, wie bey allen Contrapunkten, unverſezt
bleiben muß, oder hoͤchſtens nur eine Octave ver-
ſezt wird.
Verſezungen.
(Redende Kuͤnſte.)
Es giebt auch in ausgebildeten Sprachen, die ſchon
feſt geſezte Regeln der Wortfuͤgung haben, allemal
noch viel Redeſaͤze, wo die Ordnung der Woͤrter
ohne Veraͤnderung des Sinnes, veraͤndert werden
kann. Haller ſagt von der Jugend:
Der Wolluſt ſanfte Glut waͤcmt ihr die Adern auf,
Kein Einfall von Vernunft hemmt ihrer Luͤſte Lauf.
Der Sinn dieſer beyden Redeſaͤze iſt voͤllig derſelbe,
wenn die Worte ſo geſtellt werden:
Die ſanfte Glut der Wolluſt waͤrmt ihr die Adern auf
Jhrer Luͤſte Lauf hemmt kein Einfall der Vernunft.
oder ſo:
Jhr waͤrmt die ſanfte Glut der Wolluſt die Adern auf
Den Lauf ihrer Luͤſte hemmt kein Einfall der Vernunft.
Veraͤnderung der Ordnung der Worte, werden Ver-
ſezungen genennt. Es giebt aber Verſezungen, die
den Sinn aͤndern. Wenn der erſte der angefuͤhrten
Verſe ſo verſezt wuͤrde:
Waͤrmt der Wolluſt ſanfte Glut ihr die Adern auf
ſo wuͤrd es dem Saz ſeine abſolut bejahende Bedeu-
tung benehmen, und ihn zu einer Frag, oder zu
einem bedingten Saze, Wenn ihr die Wolluſt ꝛc.
machen. Andere Verſezungen aber aͤndern den
Sinn nicht, ſie geben ihm nur eine verſchiedene Wen-
dung. Derſelbe Gedanken bekommt in dieſer Stel-
lung
Der Wolluſt ſanfte Glut waͤrmt ihr die Adern auf
eine andere Wendung, als in dieſer:
Die Adern waͤrmt ihr die ſanfte Glut der Wolluſt auf.
Nach der erſten Wortfuͤgung iſt die Wolluſt, der
Hauptbegriff, auf den es hier ankommt; und der
Sinn iſt ſo gewendet, daß man zuerſt die Urſache,
denn ihre Staͤrke, und zulezt ihre Wuͤrkung ſich vor-
ſtellen muß. Nach der andern wird die Wuͤrkung,
als die Hauptſache zuerſt vorgeſtellt, hernach ihre
Urſach angezeiget.
Dergleichen Verſezungen haben aber nur ſtatt,
in ſo fern ſie den grammatiſchen Regeln der Wort-
fuͤgung nicht entgegen ſind; denn wenn ſie dieſes waͤ-
ren, ſo wuͤrden ſie anſtoͤßig ſeyn. Man kann, ohne
barbariſch zu reden, anſtatt: Geſtern iſt er bey mir
geweſen, nicht ſagen: bey mir geſtern iſt er ge-
weſen, wol aber, er iſt geſtern bey mir geweſen.
Ungrammatiſche Verſezungen ſind uͤberall zu ver-
meiden; weil ſie in jeder Rede dem Ohr anſtoͤßig
werden. Aus den Verſezungen aber, die ohne
Verwirrung des Sinnes, und ohne Beleidigung
des Gehoͤrs koͤnnen vorgenommen werden, ziehen
die redenden Kuͤnſte ſo große und ſo mannigfaltige
Vortheile, daß eine Sprache zur Beredſamkeit und
Dichtkunſt um ſo viel tauglicher iſt, je mannigfal-
tigere Verſezungen ſie zulaͤßt.
Es giebt Verſezungen die blos den Wolklang be-
foͤrdern, einen Saz leicht und wolfließend, und
eine ganze Periode wolklingend machen.
Auch wird oft ein Redeſaz blos durch Verſezung
zum Vers, ohne ſonſt irgend einen andern Ton, oder
eine andere Wendung anzunehmen. Es iſt dem
Sinne nach vollkommen gleichguͤltig zu ſagen: Je-
der bringt den Mutterwiz auf die Welt; der Schul-
wiz wird nur durch Buͤcher gegeben, oder:
Den Mutterwiz bringt jeder auf die Welt,
Der Schulwiz wird durch Buͤcher nur gegeben.
Andremale dienen ſie zum Nachdruk und zur Lebhaf-
tigkeit der Rede:
Was wahre Tugend iſt, wird nie der Poͤbel kennen.
iſt weit lebhafter, als dieſes: Der Poͤbel wird nie
kennen, was wahre Tugend iſt.
Bisweilen geben ſie der Rede den feurigen, oder
feyerlichen poetiſchen Ton, der uns mit großem
Nachdruk ruͤhret. Hagedorn ſagt im Ton der edel-
ſten Begeiſterung:
Verlohren iſt der Tag und ſchaͤndlich ſind die Stunden
Die, wenn wir faͤhig ſind, Bedraͤngten beyzuſtehn,
Beym Anblik ihres Harms uns unempfindlich ſehn.
Ein großer Theil der Kraft wuͤrde dieſem Saz ent-
gehen, wenn man mit denſelben Worte ſagte: Der
Tag iſt verlohren, und die Stunden ſind ſchaͤnd-
lich, die uns, wenn wir faͤhig ſind u. ſ. w.
Blos in den Verſezungen liegt ſo mannigfaltige
und ſo wichtige aͤſthetiſche Kraft, daß es der Muͤhe
werth waͤre, die Beyſpiehle davon zu ſammeln.
Denn anders iſt es nicht wol moͤglich, weder die
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1228[1210]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/657>, abgerufen am 25.11.2024.
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