als ein Mensch anzusehen, der wachend träumet, und der mit Vernunft raset; wenn ihn diese verläßt geräth er in abentheuerliche Ausschweiffungen.
Wie ein Mensch der es in der schönen Tanzkunst zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hat, auch da, wo er auf seine Bewegungen nicht acht hat und selbst in dem größten Feuer der Thätigkeit, da er sich selbst vergißt, noch immer angenehmere und besser gezeich- nete Stellungen und Bewegungen annimmt, als ein anderer, so wird auch ein Künstler, dessen Ge- schmak am Schönen einmal festgesetzt ist, in dem größten Feuer der Begeisterung, sich nie so weit ver- gessen, daß er sich gänzlich vom Schönen entfernt. Dieser Geschmak muß die Phantasie überhaupt im- mer begleiten, damit die Vorstellungen des Künst- lers allemal den Grad des Schönen erhalten, der sie angenehm, eindringend und auch der äusserlichen Form nach interessant macht (*). Diese schätzbare Gabe ist nicht allemal mit der lebhaften Empfind- samkeit verbunden, sie muß als eine besondere, für sich selbst bestehende Eigenschaft angesehen werden.
Diese beyden Eigenschaften verbunden können schon einen feinen Künstler bilden; aber der große Künstler, dessen Werke von Wichtigkeit seyn sollen, muß noch andere Gaben besitzen. Der beste Blu- men-Mahler, ist darum noch nicht ein großer Mah- ler, und der in der Dichtkunst die artigsten Kleinig- keiten an den Tag bringt, kann sich darum nicht auf die Banke setzen, wo Homer, Sophokles oder Ho- raz sitzen (*). Liebe zu dem Vollkommenen und Guten und gründliche Kenntnis desselben muß zu je- nen Gaben nothwendig hinzukommen (*). Nur der starke Denker, der zugleich überall das Gute sucht, für den das Vollkommene und das Gute das höchste Jntresse haben, bildet und bearbeitet in sei- nem Geiste Gegenstände, die den schönen Künsten ihren größten Werth geben. Horaz sagt, der sey der vollkommene Künstler, der das Nützliche in das Angenehme mische; aber es ist dem höchsten Zwek der Künste gemäßer, diesen Satz umzukehren, und den für den wahren Künstler zu halten, der das An- genehme in das Nützliche mischt. Soll aber das Nützliche die Grundlage der besten Werke der Kunst seyn, so muß der Künstler einen vorzüglichen Ge- schmak an dem Vollkommenen und Guten haben. Es ist nicht die Sinnlichkeit mit dem Geschmak am Schönen verbunden, wodurch Homer und Sopho- cles und Phidias und Raphael in der Reyhe der [Spaltenumbruch]
Kün
Künstler den ersten Rang behaupten; diesen erwar- ben sie sich dadurch, daß sie mit jenen Gaben, die Liebe zur Vollkommenheit verbunden haben. Wer an Geist und Gemüth ein großer Mann ist, wer eine starke Vernunft mit einem großen Herzen ver- bindet, und bey dieser Größe, noch jene sinnliche Empfindsamkeit und den Geschmak am Schönen hat, der ist auch der große Künstler.
Also müssen fast alle großen Gaben des Geistes und Herzens zusammenkommen um das große Kunstgenie zu bilden. Deswegen darf man sich nicht wundern, daß die Künstler vom ersten Range in so kleiner Anzahl sind und nur von Zeit zu Zeit erscheinen.
Und doch ist es mit diesen Talenten noch nicht ausgerichtet; sie machen den Künstler fähig den Stoff zu seinem Werk in seiner eigenen Vorstellungs- kraft zu bilden, wenn die Materialien dazu vorhan- den sind. Diese bekommt er blos aus Erfahrung, Kenntnis der Welt und der menschlichen Angelegen- heiten. Das gröste Kunstgenie wird kein beträcht- liches Werk bilden, so lange es ihm an dieser Er- fahrung und Kenntnis der Welt fehlet. Zur Be- redsamkeit ist es nicht genug, das Genie des De- mosthenes, oder des Cicero zu haben; man muß auch die Gelegenheit gehabt haben, dieses Genie an wichtigen Gegenständen zu versuchen.
Die Talente sind also einigermaaßen todte Kräffte, so lange der Kopf des Künstlers leer an Vorstellun- gen ist, die sein Genie bearbeiten kann. Also muß, auch die Erziehung, Lebensart und Erfahrung zu dem Genie hinzukommen. Daß die griechischen Künstler alle andern übertroffen haben, kommt nicht von ihrem grössern Genie her, sondern von diesem Zufälligen; weil sie mehr Gelegenheit, als andre gehabt haben, große Dinge zu sehen. (*) Ein Jüng- ling, von dem besten poetischen Genie, der in der Unwissenheit über Menschen und menschliche Angele- genheiten aufgewachsen ist, findet in der ganzen Masse seiner Vorstellungen nichts, das ihn intereßirt, bis das Gefühl der Freundschaft oder der Liebe, in ihm rege wird; und er den Genuß des Lebens empfinden lernt. Sein großes Genie wird also auch nichts wichtigeres, als eine verliebte Elegie, Aeusserung der Freundschaft; ein Trinklied, oder etwas von dieser Art hervorbringen können. Wie mancher Mahler mag mit dem größten Genie zur Kunst, ein Blumen- oder Landschaftsmahler geblieben seyn,
weil
(*) S. Schön.
(*) S. Klein.
(*) S. Kraft.
(*) S. Die Alten.
[Spaltenumbruch]
Kuͤn
als ein Menſch anzuſehen, der wachend traͤumet, und der mit Vernunft raſet; wenn ihn dieſe verlaͤßt geraͤth er in abentheuerliche Ausſchweiffungen.
Wie ein Menſch der es in der ſchoͤnen Tanzkunſt zu einer gewiſſen Fertigkeit gebracht hat, auch da, wo er auf ſeine Bewegungen nicht acht hat und ſelbſt in dem groͤßten Feuer der Thaͤtigkeit, da er ſich ſelbſt vergißt, noch immer angenehmere und beſſer gezeich- nete Stellungen und Bewegungen annimmt, als ein anderer, ſo wird auch ein Kuͤnſtler, deſſen Ge- ſchmak am Schoͤnen einmal feſtgeſetzt iſt, in dem groͤßten Feuer der Begeiſterung, ſich nie ſo weit ver- geſſen, daß er ſich gaͤnzlich vom Schoͤnen entfernt. Dieſer Geſchmak muß die Phantaſie uͤberhaupt im- mer begleiten, damit die Vorſtellungen des Kuͤnſt- lers allemal den Grad des Schoͤnen erhalten, der ſie angenehm, eindringend und auch der aͤuſſerlichen Form nach intereſſant macht (*). Dieſe ſchaͤtzbare Gabe iſt nicht allemal mit der lebhaften Empfind- ſamkeit verbunden, ſie muß als eine beſondere, fuͤr ſich ſelbſt beſtehende Eigenſchaft angeſehen werden.
Dieſe beyden Eigenſchaften verbunden koͤnnen ſchon einen feinen Kuͤnſtler bilden; aber der große Kuͤnſtler, deſſen Werke von Wichtigkeit ſeyn ſollen, muß noch andere Gaben beſitzen. Der beſte Blu- men-Mahler, iſt darum noch nicht ein großer Mah- ler, und der in der Dichtkunſt die artigſten Kleinig- keiten an den Tag bringt, kann ſich darum nicht auf die Banke ſetzen, wo Homer, Sophokles oder Ho- raz ſitzen (*). Liebe zu dem Vollkommenen und Guten und gruͤndliche Kenntnis deſſelben muß zu je- nen Gaben nothwendig hinzukommen (*). Nur der ſtarke Denker, der zugleich uͤberall das Gute ſucht, fuͤr den das Vollkommene und das Gute das hoͤchſte Jntreſſe haben, bildet und bearbeitet in ſei- nem Geiſte Gegenſtaͤnde, die den ſchoͤnen Kuͤnſten ihren groͤßten Werth geben. Horaz ſagt, der ſey der vollkommene Kuͤnſtler, der das Nuͤtzliche in das Angenehme miſche; aber es iſt dem hoͤchſten Zwek der Kuͤnſte gemaͤßer, dieſen Satz umzukehren, und den fuͤr den wahren Kuͤnſtler zu halten, der das An- genehme in das Nuͤtzliche miſcht. Soll aber das Nuͤtzliche die Grundlage der beſten Werke der Kunſt ſeyn, ſo muß der Kuͤnſtler einen vorzuͤglichen Ge- ſchmak an dem Vollkommenen und Guten haben. Es iſt nicht die Sinnlichkeit mit dem Geſchmak am Schoͤnen verbunden, wodurch Homer und Sopho- cles und Phidias und Raphael in der Reyhe der [Spaltenumbruch]
Kuͤn
Kuͤnſtler den erſten Rang behaupten; dieſen erwar- ben ſie ſich dadurch, daß ſie mit jenen Gaben, die Liebe zur Vollkommenheit verbunden haben. Wer an Geiſt und Gemuͤth ein großer Mann iſt, wer eine ſtarke Vernunft mit einem großen Herzen ver- bindet, und bey dieſer Groͤße, noch jene ſinnliche Empfindſamkeit und den Geſchmak am Schoͤnen hat, der iſt auch der große Kuͤnſtler.
Alſo muͤſſen faſt alle großen Gaben des Geiſtes und Herzens zuſammenkommen um das große Kunſtgenie zu bilden. Deswegen darf man ſich nicht wundern, daß die Kuͤnſtler vom erſten Range in ſo kleiner Anzahl ſind und nur von Zeit zu Zeit erſcheinen.
Und doch iſt es mit dieſen Talenten noch nicht ausgerichtet; ſie machen den Kuͤnſtler faͤhig den Stoff zu ſeinem Werk in ſeiner eigenen Vorſtellungs- kraft zu bilden, wenn die Materialien dazu vorhan- den ſind. Dieſe bekommt er blos aus Erfahrung, Kenntnis der Welt und der menſchlichen Angelegen- heiten. Das groͤſte Kunſtgenie wird kein betraͤcht- liches Werk bilden, ſo lange es ihm an dieſer Er- fahrung und Kenntnis der Welt fehlet. Zur Be- redſamkeit iſt es nicht genug, das Genie des De- moſthenes, oder des Cicero zu haben; man muß auch die Gelegenheit gehabt haben, dieſes Genie an wichtigen Gegenſtaͤnden zu verſuchen.
Die Talente ſind alſo einigermaaßen todte Kraͤffte, ſo lange der Kopf des Kuͤnſtlers leer an Vorſtellun- gen iſt, die ſein Genie bearbeiten kann. Alſo muß, auch die Erziehung, Lebensart und Erfahrung zu dem Genie hinzukommen. Daß die griechiſchen Kuͤnſtler alle andern uͤbertroffen haben, kommt nicht von ihrem groͤſſern Genie her, ſondern von dieſem Zufaͤlligen; weil ſie mehr Gelegenheit, als andre gehabt haben, große Dinge zu ſehen. (*) Ein Juͤng- ling, von dem beſten poetiſchen Genie, der in der Unwiſſenheit uͤber Menſchen und menſchliche Angele- genheiten aufgewachſen iſt, findet in der ganzen Maſſe ſeiner Vorſtellungen nichts, das ihn intereßirt, bis das Gefuͤhl der Freundſchaft oder der Liebe, in ihm rege wird; und er den Genuß des Lebens empfinden lernt. Sein großes Genie wird alſo auch nichts wichtigeres, als eine verliebte Elegie, Aeuſſerung der Freundſchaft; ein Trinklied, oder etwas von dieſer Art hervorbringen koͤnnen. Wie mancher Mahler mag mit dem groͤßten Genie zur Kunſt, ein Blumen- oder Landſchaftsmahler geblieben ſeyn,
weil
(*) S. Schoͤn.
(*) S. Klein.
(*) S. Kraft.
(*) S. Die Alten.
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[630/0065]
Kuͤn
Kuͤn
als ein Menſch anzuſehen, der wachend traͤumet,
und der mit Vernunft raſet; wenn ihn dieſe verlaͤßt
geraͤth er in abentheuerliche Ausſchweiffungen.
Wie ein Menſch der es in der ſchoͤnen Tanzkunſt
zu einer gewiſſen Fertigkeit gebracht hat, auch da,
wo er auf ſeine Bewegungen nicht acht hat und ſelbſt
in dem groͤßten Feuer der Thaͤtigkeit, da er ſich ſelbſt
vergißt, noch immer angenehmere und beſſer gezeich-
nete Stellungen und Bewegungen annimmt, als
ein anderer, ſo wird auch ein Kuͤnſtler, deſſen Ge-
ſchmak am Schoͤnen einmal feſtgeſetzt iſt, in dem
groͤßten Feuer der Begeiſterung, ſich nie ſo weit ver-
geſſen, daß er ſich gaͤnzlich vom Schoͤnen entfernt.
Dieſer Geſchmak muß die Phantaſie uͤberhaupt im-
mer begleiten, damit die Vorſtellungen des Kuͤnſt-
lers allemal den Grad des Schoͤnen erhalten, der
ſie angenehm, eindringend und auch der aͤuſſerlichen
Form nach intereſſant macht (*). Dieſe ſchaͤtzbare
Gabe iſt nicht allemal mit der lebhaften Empfind-
ſamkeit verbunden, ſie muß als eine beſondere, fuͤr
ſich ſelbſt beſtehende Eigenſchaft angeſehen werden.
Dieſe beyden Eigenſchaften verbunden koͤnnen
ſchon einen feinen Kuͤnſtler bilden; aber der große
Kuͤnſtler, deſſen Werke von Wichtigkeit ſeyn ſollen,
muß noch andere Gaben beſitzen. Der beſte Blu-
men-Mahler, iſt darum noch nicht ein großer Mah-
ler, und der in der Dichtkunſt die artigſten Kleinig-
keiten an den Tag bringt, kann ſich darum nicht auf
die Banke ſetzen, wo Homer, Sophokles oder Ho-
raz ſitzen (*). Liebe zu dem Vollkommenen und
Guten und gruͤndliche Kenntnis deſſelben muß zu je-
nen Gaben nothwendig hinzukommen (*). Nur
der ſtarke Denker, der zugleich uͤberall das Gute
ſucht, fuͤr den das Vollkommene und das Gute das
hoͤchſte Jntreſſe haben, bildet und bearbeitet in ſei-
nem Geiſte Gegenſtaͤnde, die den ſchoͤnen Kuͤnſten
ihren groͤßten Werth geben. Horaz ſagt, der ſey
der vollkommene Kuͤnſtler, der das Nuͤtzliche in das
Angenehme miſche; aber es iſt dem hoͤchſten Zwek
der Kuͤnſte gemaͤßer, dieſen Satz umzukehren, und
den fuͤr den wahren Kuͤnſtler zu halten, der das An-
genehme in das Nuͤtzliche miſcht. Soll aber das
Nuͤtzliche die Grundlage der beſten Werke der Kunſt
ſeyn, ſo muß der Kuͤnſtler einen vorzuͤglichen Ge-
ſchmak an dem Vollkommenen und Guten haben.
Es iſt nicht die Sinnlichkeit mit dem Geſchmak am
Schoͤnen verbunden, wodurch Homer und Sopho-
cles und Phidias und Raphael in der Reyhe der
Kuͤnſtler den erſten Rang behaupten; dieſen erwar-
ben ſie ſich dadurch, daß ſie mit jenen Gaben, die
Liebe zur Vollkommenheit verbunden haben. Wer
an Geiſt und Gemuͤth ein großer Mann iſt, wer
eine ſtarke Vernunft mit einem großen Herzen ver-
bindet, und bey dieſer Groͤße, noch jene ſinnliche
Empfindſamkeit und den Geſchmak am Schoͤnen hat,
der iſt auch der große Kuͤnſtler.
Alſo muͤſſen faſt alle großen Gaben des Geiſtes
und Herzens zuſammenkommen um das große
Kunſtgenie zu bilden. Deswegen darf man ſich
nicht wundern, daß die Kuͤnſtler vom erſten Range
in ſo kleiner Anzahl ſind und nur von Zeit zu Zeit
erſcheinen.
Und doch iſt es mit dieſen Talenten noch nicht
ausgerichtet; ſie machen den Kuͤnſtler faͤhig den
Stoff zu ſeinem Werk in ſeiner eigenen Vorſtellungs-
kraft zu bilden, wenn die Materialien dazu vorhan-
den ſind. Dieſe bekommt er blos aus Erfahrung,
Kenntnis der Welt und der menſchlichen Angelegen-
heiten. Das groͤſte Kunſtgenie wird kein betraͤcht-
liches Werk bilden, ſo lange es ihm an dieſer Er-
fahrung und Kenntnis der Welt fehlet. Zur Be-
redſamkeit iſt es nicht genug, das Genie des De-
moſthenes, oder des Cicero zu haben; man muß
auch die Gelegenheit gehabt haben, dieſes Genie an
wichtigen Gegenſtaͤnden zu verſuchen.
Die Talente ſind alſo einigermaaßen todte Kraͤffte,
ſo lange der Kopf des Kuͤnſtlers leer an Vorſtellun-
gen iſt, die ſein Genie bearbeiten kann. Alſo muß,
auch die Erziehung, Lebensart und Erfahrung zu
dem Genie hinzukommen. Daß die griechiſchen
Kuͤnſtler alle andern uͤbertroffen haben, kommt nicht
von ihrem groͤſſern Genie her, ſondern von dieſem
Zufaͤlligen; weil ſie mehr Gelegenheit, als andre
gehabt haben, große Dinge zu ſehen. (*) Ein Juͤng-
ling, von dem beſten poetiſchen Genie, der in der
Unwiſſenheit uͤber Menſchen und menſchliche Angele-
genheiten aufgewachſen iſt, findet in der ganzen Maſſe
ſeiner Vorſtellungen nichts, das ihn intereßirt, bis
das Gefuͤhl der Freundſchaft oder der Liebe, in ihm
rege wird; und er den Genuß des Lebens empfinden
lernt. Sein großes Genie wird alſo auch nichts
wichtigeres, als eine verliebte Elegie, Aeuſſerung
der Freundſchaft; ein Trinklied, oder etwas von
dieſer Art hervorbringen koͤnnen. Wie mancher
Mahler mag mit dem groͤßten Genie zur Kunſt,
ein Blumen- oder Landſchaftsmahler geblieben ſeyn,
weil
(*) S.
Schoͤn.
(*) S.
Klein.
(*) S.
Kraft.
(*) S. Die
Alten.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/65>, abgerufen am 24.11.2024.
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