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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ver
Vers.

Der Vers ist in der Rede gerade das, was der
Rhythmus im Gesang ist: was wir also in einem
besondern Artikel vom Rhythmus gesagt haben,
gilt auch von dem Vers, und kann hier vorausge-
sezt werden. Wie ein rhythmischer Abschnitt der
Melodie (ein Rhythmus) aus einer kleinen Anzahl
Takte besteht, die so zusammenhangen, daß das
Ohr sie als ein kleines Ganzes auf einmal faßt und
am End einen merklichen Schlußfall fühlet; ge-
rade so besteht der Vers aus einigen Füßen, die
zusammen einen dem Gehör auf einmal faßlichen
Saz mit einem merklichen Schlußfall ausmachen.
Jndem wir den Ursprung, die Natur und Wür-
kung des Rhythmus erklärt haben, ist zugleich eben
dieses auch von der gebundenen Rede erkläret wor-
den. Also bleibet uns hier eigentlich nur die Be-
trachtung der Dinge noch übrig, die dem Vers, als
einer besondern Art des Rhythmus eigenthümlich
sind. Er ist ein Rhythmus ohne Gesang, durch
den bloßen Ton der Rede erzeuget; und ein Ge-
dicht, dessen Versbau richtig ist, muß durch den
Vortrag, der der Sprach und dem Jnhalt ange-
messen ist, von selbst in vernehmliche Verse ge-
theilt werden.

Jeder Vers muß diese zwey Haupteigenschaften
haben, daß er 1. aus gleichlangen und gleich-
artigen Füßen bestehe, die durch richtigen Vor-
trag merklich werden, und 2. einen merklichen
Schlußfall habe, wodurch er sich von dem folgenden
Vers absondert. Dadurch wird also der Gang,
oder der Fluß der Rede in gleichlange Glieder (Füße)
deren jedes zwey oder mehr Sylben hat, abgethei-
let; in jedem Gliede kommen dieselben Accente, in
derselben Ordnung immer wieder, und einige sol-
cher Glieder machen einen Abschnitt aus, so daß das
Gehör währender Rede sich beständig mit Abmessen
und Zählen beschäftiget, und dadurch in der Einheit
der Empfindung unterhalten wird, wie an seinem
Ort ausführlich gezeiget worden. (*)

Der Tonsezer zeiget sein Metrum dadurch an, daß
er im Anfang seines Stüks die Taktart und Bewe-
gung andeutet, durch deren richtigen Ausdruk der
Rhythmus vernehmlich wird. Der Dichter hat aber
dieses nicht nöthig; wer ihn so, wie die Natur der
Sprach und der Jnhalt, oder Sinn der Rede, es
erfodert, ließt, trift die rhythmischen Abtheilungen,
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Ver
ohne weitere Kunst schon dadurch allein. Man lese
folgendes, so wie die deutsche Sprach und der Sinn
es erfodert:

Fangt an! Jch glühe bereits; Fangt an holdselige
Sayten!
Entzükt der Echo begieriges Ohr!

so wird man natürlicher Weise die hier durch Striche
bezeichneten Sylben mit Nachdruk aussprechen, die
dazwischen liegenden aber leicht. Dadurch aber
entsteht die Eintheilung des Ganges der Rede, in
gleiche Füße, oder Takte, gerade so wie wir es
vom Rhythmus gezeiget haben.

Fangt | an! Jch | glühe be | reits. Fangt | an
hold | selige | Sayten!
Ent | zükt der | Echo be | gieriges | Ohr! |

Jn Musik gesezt, würde das Metrische dieser Verse
so aussehen

[Abbildung]

Der Takt, oder die Eintheilung in gleichlange
Füße, ist hier jedem Ohr empfindbar. Nach dem
siebenden Takt ist der Schlußfall durch das Ende des
Sinnes merklich. Doch könnte er es auch ohne die-
ses seyn, wenn statt des Trochäus Sayten, ein
wahrer und reiner Spondäus stünde; weil als-
denn die Bewegung sogleich anzeigte, daß die fol-
gende schwache Sylbe ent, nicht mehr zu dem vor-
gehenden Fuße könne genommen werden, indem da-
durch die Gleichförmigkeit der Bewegung zerstöhrt
würde. Eben so wird jeder in folgendem Verse,
den Nachdruk allemal auf die Sylben legen, die mit
Strichen bezeichnet sind.

Wt es: jenseit des Grabs ist ein zweyfacher Fuß-
steig gebahnet.

Dieser u. s. f.

Folglich wird jeder diesen Saz metrisch so lesen:

[Abbildung]

Der Schlußfall wird im sechsten Takte dadurch merk-
lich, daß nach der lezten kurzen Sylbe nothwendig
eine Pause muß gemacht werden; weil in dem fol-
genden Worte dieser, die erste Sylbe den Nachdruk
hat, folglich mit der lezten des vorhergehenden Tak-

tes
(*) S.
Rhythmus
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Ver
Vers.

Der Vers iſt in der Rede gerade das, was der
Rhythmus im Geſang iſt: was wir alſo in einem
beſondern Artikel vom Rhythmus geſagt haben,
gilt auch von dem Vers, und kann hier vorausge-
ſezt werden. Wie ein rhythmiſcher Abſchnitt der
Melodie (ein Rhythmus) aus einer kleinen Anzahl
Takte beſteht, die ſo zuſammenhangen, daß das
Ohr ſie als ein kleines Ganzes auf einmal faßt und
am End einen merklichen Schlußfall fuͤhlet; ge-
rade ſo beſteht der Vers aus einigen Fuͤßen, die
zuſammen einen dem Gehoͤr auf einmal faßlichen
Saz mit einem merklichen Schlußfall ausmachen.
Jndem wir den Urſprung, die Natur und Wuͤr-
kung des Rhythmus erklaͤrt haben, iſt zugleich eben
dieſes auch von der gebundenen Rede erklaͤret wor-
den. Alſo bleibet uns hier eigentlich nur die Be-
trachtung der Dinge noch uͤbrig, die dem Vers, als
einer beſondern Art des Rhythmus eigenthuͤmlich
ſind. Er iſt ein Rhythmus ohne Geſang, durch
den bloßen Ton der Rede erzeuget; und ein Ge-
dicht, deſſen Versbau richtig iſt, muß durch den
Vortrag, der der Sprach und dem Jnhalt ange-
meſſen iſt, von ſelbſt in vernehmliche Verſe ge-
theilt werden.

Jeder Vers muß dieſe zwey Haupteigenſchaften
haben, daß er 1. aus gleichlangen und gleich-
artigen Fuͤßen beſtehe, die durch richtigen Vor-
trag merklich werden, und 2. einen merklichen
Schlußfall habe, wodurch er ſich von dem folgenden
Vers abſondert. Dadurch wird alſo der Gang,
oder der Fluß der Rede in gleichlange Glieder (Fuͤße)
deren jedes zwey oder mehr Sylben hat, abgethei-
let; in jedem Gliede kommen dieſelben Accente, in
derſelben Ordnung immer wieder, und einige ſol-
cher Glieder machen einen Abſchnitt aus, ſo daß das
Gehoͤr waͤhrender Rede ſich beſtaͤndig mit Abmeſſen
und Zaͤhlen beſchaͤftiget, und dadurch in der Einheit
der Empfindung unterhalten wird, wie an ſeinem
Ort ausfuͤhrlich gezeiget worden. (*)

Der Tonſezer zeiget ſein Metrum dadurch an, daß
er im Anfang ſeines Stuͤks die Taktart und Bewe-
gung andeutet, durch deren richtigen Ausdruk der
Rhythmus vernehmlich wird. Der Dichter hat aber
dieſes nicht noͤthig; wer ihn ſo, wie die Natur der
Sprach und der Jnhalt, oder Sinn der Rede, es
erfodert, ließt, trift die rhythmiſchen Abtheilungen,
[Spaltenumbruch]

Ver
ohne weitere Kunſt ſchon dadurch allein. Man leſe
folgendes, ſo wie die deutſche Sprach und der Sinn
es erfodert:

Fangt an! Jch gluͤhe bereits; Fangt an holdſelige
Sayten!
Entzuͤkt der Echo begieriges Ohr!

ſo wird man natuͤrlicher Weiſe die hier durch Striche
bezeichneten Sylben mit Nachdruk ausſprechen, die
dazwiſchen liegenden aber leicht. Dadurch aber
entſteht die Eintheilung des Ganges der Rede, in
gleiche Fuͤße, oder Takte, gerade ſo wie wir es
vom Rhythmus gezeiget haben.

Fangt | an! Jch | gluͤhe be | reits. Fangt | an
hold | ſelige | Sayten!
Ent | zuͤkt der | Echo be | gieriges | Ohr! |

Jn Muſik geſezt, wuͤrde das Metriſche dieſer Verſe
ſo ausſehen

[Abbildung]

Der Takt, oder die Eintheilung in gleichlange
Fuͤße, iſt hier jedem Ohr empfindbar. Nach dem
ſiebenden Takt iſt der Schlußfall durch das Ende des
Sinnes merklich. Doch koͤnnte er es auch ohne die-
ſes ſeyn, wenn ſtatt des Trochaͤus Sayten, ein
wahrer und reiner Spondaͤus ſtuͤnde; weil als-
denn die Bewegung ſogleich anzeigte, daß die fol-
gende ſchwache Sylbe ent, nicht mehr zu dem vor-
gehenden Fuße koͤnne genommen werden, indem da-
durch die Gleichfoͤrmigkeit der Bewegung zerſtoͤhrt
wuͤrde. Eben ſo wird jeder in folgendem Verſe,
den Nachdruk allemal auf die Sylben legen, die mit
Strichen bezeichnet ſind.

Wt es: jenſeit des Grabs iſt ein zweyfacher Fuß-
ſteig gebahnet.

Dieſer u. ſ. f.

Folglich wird jeder dieſen Saz metriſch ſo leſen:

[Abbildung]

Der Schlußfall wird im ſechsten Takte dadurch merk-
lich, daß nach der lezten kurzen Sylbe nothwendig
eine Pauſe muß gemacht werden; weil in dem fol-
genden Worte dieſer, die erſte Sylbe den Nachdruk
hat, folglich mit der lezten des vorhergehenden Tak-

tes
(*) S.
Rhythmus
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[1220[1202]/0649] Ver Ver Vers. Der Vers iſt in der Rede gerade das, was der Rhythmus im Geſang iſt: was wir alſo in einem beſondern Artikel vom Rhythmus geſagt haben, gilt auch von dem Vers, und kann hier vorausge- ſezt werden. Wie ein rhythmiſcher Abſchnitt der Melodie (ein Rhythmus) aus einer kleinen Anzahl Takte beſteht, die ſo zuſammenhangen, daß das Ohr ſie als ein kleines Ganzes auf einmal faßt und am End einen merklichen Schlußfall fuͤhlet; ge- rade ſo beſteht der Vers aus einigen Fuͤßen, die zuſammen einen dem Gehoͤr auf einmal faßlichen Saz mit einem merklichen Schlußfall ausmachen. Jndem wir den Urſprung, die Natur und Wuͤr- kung des Rhythmus erklaͤrt haben, iſt zugleich eben dieſes auch von der gebundenen Rede erklaͤret wor- den. Alſo bleibet uns hier eigentlich nur die Be- trachtung der Dinge noch uͤbrig, die dem Vers, als einer beſondern Art des Rhythmus eigenthuͤmlich ſind. Er iſt ein Rhythmus ohne Geſang, durch den bloßen Ton der Rede erzeuget; und ein Ge- dicht, deſſen Versbau richtig iſt, muß durch den Vortrag, der der Sprach und dem Jnhalt ange- meſſen iſt, von ſelbſt in vernehmliche Verſe ge- theilt werden. Jeder Vers muß dieſe zwey Haupteigenſchaften haben, daß er 1. aus gleichlangen und gleich- artigen Fuͤßen beſtehe, die durch richtigen Vor- trag merklich werden, und 2. einen merklichen Schlußfall habe, wodurch er ſich von dem folgenden Vers abſondert. Dadurch wird alſo der Gang, oder der Fluß der Rede in gleichlange Glieder (Fuͤße) deren jedes zwey oder mehr Sylben hat, abgethei- let; in jedem Gliede kommen dieſelben Accente, in derſelben Ordnung immer wieder, und einige ſol- cher Glieder machen einen Abſchnitt aus, ſo daß das Gehoͤr waͤhrender Rede ſich beſtaͤndig mit Abmeſſen und Zaͤhlen beſchaͤftiget, und dadurch in der Einheit der Empfindung unterhalten wird, wie an ſeinem Ort ausfuͤhrlich gezeiget worden. (*) Der Tonſezer zeiget ſein Metrum dadurch an, daß er im Anfang ſeines Stuͤks die Taktart und Bewe- gung andeutet, durch deren richtigen Ausdruk der Rhythmus vernehmlich wird. Der Dichter hat aber dieſes nicht noͤthig; wer ihn ſo, wie die Natur der Sprach und der Jnhalt, oder Sinn der Rede, es erfodert, ließt, trift die rhythmiſchen Abtheilungen, ohne weitere Kunſt ſchon dadurch allein. Man leſe folgendes, ſo wie die deutſche Sprach und der Sinn es erfodert: Fangt an! Jch gluͤhe bereits; Fangt an holdſelige Sayten! Entzuͤkt der Echo begieriges Ohr! ſo wird man natuͤrlicher Weiſe die hier durch Striche bezeichneten Sylben mit Nachdruk ausſprechen, die dazwiſchen liegenden aber leicht. Dadurch aber entſteht die Eintheilung des Ganges der Rede, in gleiche Fuͤße, oder Takte, gerade ſo wie wir es vom Rhythmus gezeiget haben. Fangt | an! Jch | gluͤhe be | reits. Fangt | an hold | ſelige | Sayten! Ent | zuͤkt der | Echo be | gieriges | Ohr! | Jn Muſik geſezt, wuͤrde das Metriſche dieſer Verſe ſo ausſehen [Abbildung] Der Takt, oder die Eintheilung in gleichlange Fuͤße, iſt hier jedem Ohr empfindbar. Nach dem ſiebenden Takt iſt der Schlußfall durch das Ende des Sinnes merklich. Doch koͤnnte er es auch ohne die- ſes ſeyn, wenn ſtatt des Trochaͤus Sayten, ein wahrer und reiner Spondaͤus ſtuͤnde; weil als- denn die Bewegung ſogleich anzeigte, daß die fol- gende ſchwache Sylbe ent, nicht mehr zu dem vor- gehenden Fuße koͤnne genommen werden, indem da- durch die Gleichfoͤrmigkeit der Bewegung zerſtoͤhrt wuͤrde. Eben ſo wird jeder in folgendem Verſe, den Nachdruk allemal auf die Sylben legen, die mit Strichen bezeichnet ſind. Wißt es: jenſeit des Grabs iſt ein zweyfacher Fuß- ſteig gebahnet. Dieſer u. ſ. f. Folglich wird jeder dieſen Saz metriſch ſo leſen: [Abbildung] Der Schlußfall wird im ſechsten Takte dadurch merk- lich, daß nach der lezten kurzen Sylbe nothwendig eine Pauſe muß gemacht werden; weil in dem fol- genden Worte dieſer, die erſte Sylbe den Nachdruk hat, folglich mit der lezten des vorhergehenden Tak- tes (*) S. Rhythmus

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1220[1202]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/649>, abgerufen am 24.11.2024.