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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ver
du deinen Endzwek? hast du den Ort, der dir zu-
kommt? u. s. f. Dieses stellt ihn vor der Gefahr
sicher, Dinge zuzulassen, die außer Verbindung mit
dem Ganzen sind. Jn Ansehung der Verbindung
eines Theils mit dem andern kann er ähnliche Fra-
gen aufwerfen: wie folgest du auf das vorherge-
hende? wie hängst du mit dem folgenden zusammen?
Wird der, für dem das Werk gemacht ist, ohne
Anstoß und Zwang diese Vorstellung nach der vor-
hergehenden annehmen, und völlig fassen? u. s. w.
Braucht der Künstler diese Vorsicht, so wird er auch
entdeken, ob die Verbindungen überall nach dem
Charakter des Werks richtig seyen, oder nicht.

Wie überhaupt in der Natur alles genau zusam-
menhängt, so hat auch das menschliche Gemüth
einen natürlichen Hang in seinen Vorstellungen durch
Stufen, nicht durch Sprünge von dem einem zum
andern zu kommen. Wir lieben nach merklicher
Hize nicht plözliche, sondern allmählige Abkühlung.
Findet der Künstler es seiner Absicht gemäß, sehr
entfernte, oder gar entgegengesezte Dinge nah an
einander zu bringen, so muß er auch besorgt seyn,
solche Dinge dazwischen zu sezen, die den schnellen
Uebergang erleichtern. Und darin zeiget sich mei-
stentheils der Unterschied zwischen dem Künstler von
wahrem Genie, und dem der ohne dasselbe nach
Kunstregeln arbeitet. Am deutlichsten sieht man
dieses in der Musik, wo große Harmonisten, auf
eine gar nichts hartes habende Weise schnell in sehr
entfernte Töne gehen können, wobey andere allemal
hart, und dem Gehör anstößig werden.

Verdünnung; Verjüngung.
(Baukunst.)

Es ist eine von alten und neuen Baumeistern an-
genommene Regel, daß die Säulen nicht durchaus
gleich dike, sondern gegen das obere End zu etwas
verdünnet seyn sollen. Der Ursprung dieser Regel
ist in der ältesten Bauart zu suchen, da man die Säu-
len von unbearbeiteten Stämmen der Bäume ge-
macht hat, die allemal in der Höhe etwas dünner
sind, als an dem Boden. Da man aber bemerkt
hat, daß die Verdünnung der Säule etwas Annehm-
lichkeit giebt, hat man sie zur Regel gemacht. Diese
Bermuthung von dem Ursprung der Verdünnung
wird noch dadurch bestätiget, daß man sie nicht bis
auf die Wandpfeiler erstrekt hat. Diese wurden
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Ver
aus bearbeiteten Baumstämmen gemacht, die vier-
kantig gezimmert und dadurch überall gleich dik
wurden.

Es ist vielleicht kein andrer Grund, als dieses
ungefähr davon anzugeben, daß die Pfeiler nicht
verdünnet werden. Denn in dem Gefühl der
Schönheit kann dieser Unterschied schweerlich gegrün-
det seyn, da er vielmehr eine wiedrige Würkung
hervorbringt. Wer ein mit einer Säulenlaube ver-
sehenes Gebäude gerade von vorne ansieht, dem
muß der Uebelstand, der daher entsteht, in die Augen
fallen, da die Stämme der den Säulen entgegen-
stehenden Pilaster oben über die Säulenstämme
heraustreten.

Jn der Art der Verdünnung kommen die Bau-
meister gar nicht mit einander überein. Einige do-
rische Säulen aus der ältesten Zeit und verschiedene
Aegyptische von Granit, sind gleich vom Fuß an
verdünnet, und Kegelförmig; die meisten Baumei-
ster aber machen die Säule bis auf den dritten Theil
ihrer Höhe gleich dik; einige Neuere haben ihnen
eine doppelte Verdünnung, oder Bauchung gege-
ben, wodurch sie auf dem dritten Theil der Höhe
am diksten werden, von da aber, sowol nach oben,
als nach unten zu, sich verdünnen.

Vitruvius ist ungemein ängstlich in Angebung
der Regeln der Verdünnung, und führt fünferley
Maaßen davon an, nach Verschiedenheit der Säu-
lenweiten, und der Höhen. Scammozzi hat das
Herz gehabt zu sagen, daß dieses Kleinigkeiten seyen,
die eine so ängstliche Beobachtung der Regeln nicht
verdienen, und darin stimmt ihm auch Goldmann
bey. Die Art dieses Baumeisters ist diese, daß er
den Stamm bis auf den dritten Theil der Höhe
gleich dik macht, von da ihn so abnehmen läßt, daß
das Verhältnis der untern Dike zu der obern in den
niedrigen Ordnungen, wie 5 zu 4, in den Höhen
wie 6 zu 5 wird. Die meisten neuern Baumeister
nehmen dieses leztere Verhältnis für gar alle Säu-
len an.

Die Art der Verdünnung, welche fast durchge-
hends angenommen ist, und die den Säulen eine
schöne Form giebt, besteht darin, daß sie nicht nach
einer geraden, sondern krummen Linie geschieht, de-
ren Zeichnung nach den Regeln verschiedener Bau-
meister mehr oder weniger mühesam ist.

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Ver
du deinen Endzwek? haſt du den Ort, der dir zu-
kommt? u. ſ. f. Dieſes ſtellt ihn vor der Gefahr
ſicher, Dinge zuzulaſſen, die außer Verbindung mit
dem Ganzen ſind. Jn Anſehung der Verbindung
eines Theils mit dem andern kann er aͤhnliche Fra-
gen aufwerfen: wie folgeſt du auf das vorherge-
hende? wie haͤngſt du mit dem folgenden zuſammen?
Wird der, fuͤr dem das Werk gemacht iſt, ohne
Anſtoß und Zwang dieſe Vorſtellung nach der vor-
hergehenden annehmen, und voͤllig faſſen? u. ſ. w.
Braucht der Kuͤnſtler dieſe Vorſicht, ſo wird er auch
entdeken, ob die Verbindungen uͤberall nach dem
Charakter des Werks richtig ſeyen, oder nicht.

Wie uͤberhaupt in der Natur alles genau zuſam-
menhaͤngt, ſo hat auch das menſchliche Gemuͤth
einen natuͤrlichen Hang in ſeinen Vorſtellungen durch
Stufen, nicht durch Spruͤnge von dem einem zum
andern zu kommen. Wir lieben nach merklicher
Hize nicht ploͤzliche, ſondern allmaͤhlige Abkuͤhlung.
Findet der Kuͤnſtler es ſeiner Abſicht gemaͤß, ſehr
entfernte, oder gar entgegengeſezte Dinge nah an
einander zu bringen, ſo muß er auch beſorgt ſeyn,
ſolche Dinge dazwiſchen zu ſezen, die den ſchnellen
Uebergang erleichtern. Und darin zeiget ſich mei-
ſtentheils der Unterſchied zwiſchen dem Kuͤnſtler von
wahrem Genie, und dem der ohne daſſelbe nach
Kunſtregeln arbeitet. Am deutlichſten ſieht man
dieſes in der Muſik, wo große Harmoniſten, auf
eine gar nichts hartes habende Weiſe ſchnell in ſehr
entfernte Toͤne gehen koͤnnen, wobey andere allemal
hart, und dem Gehoͤr anſtoͤßig werden.

Verduͤnnung; Verjuͤngung.
(Baukunſt.)

Es iſt eine von alten und neuen Baumeiſtern an-
genommene Regel, daß die Saͤulen nicht durchaus
gleich dike, ſondern gegen das obere End zu etwas
verduͤnnet ſeyn ſollen. Der Urſprung dieſer Regel
iſt in der aͤlteſten Bauart zu ſuchen, da man die Saͤu-
len von unbearbeiteten Staͤmmen der Baͤume ge-
macht hat, die allemal in der Hoͤhe etwas duͤnner
ſind, als an dem Boden. Da man aber bemerkt
hat, daß die Verduͤnnung der Saͤule etwas Annehm-
lichkeit giebt, hat man ſie zur Regel gemacht. Dieſe
Bermuthung von dem Urſprung der Verduͤnnung
wird noch dadurch beſtaͤtiget, daß man ſie nicht bis
auf die Wandpfeiler erſtrekt hat. Dieſe wurden
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Ver
aus bearbeiteten Baumſtaͤmmen gemacht, die vier-
kantig gezimmert und dadurch uͤberall gleich dik
wurden.

Es iſt vielleicht kein andrer Grund, als dieſes
ungefaͤhr davon anzugeben, daß die Pfeiler nicht
verduͤnnet werden. Denn in dem Gefuͤhl der
Schoͤnheit kann dieſer Unterſchied ſchweerlich gegruͤn-
det ſeyn, da er vielmehr eine wiedrige Wuͤrkung
hervorbringt. Wer ein mit einer Saͤulenlaube ver-
ſehenes Gebaͤude gerade von vorne anſieht, dem
muß der Uebelſtand, der daher entſteht, in die Augen
fallen, da die Staͤmme der den Saͤulen entgegen-
ſtehenden Pilaſter oben uͤber die Saͤulenſtaͤmme
heraustreten.

Jn der Art der Verduͤnnung kommen die Bau-
meiſter gar nicht mit einander uͤberein. Einige do-
riſche Saͤulen aus der aͤlteſten Zeit und verſchiedene
Aegyptiſche von Granit, ſind gleich vom Fuß an
verduͤnnet, und Kegelfoͤrmig; die meiſten Baumei-
ſter aber machen die Saͤule bis auf den dritten Theil
ihrer Hoͤhe gleich dik; einige Neuere haben ihnen
eine doppelte Verduͤnnung, oder Bauchung gege-
ben, wodurch ſie auf dem dritten Theil der Hoͤhe
am dikſten werden, von da aber, ſowol nach oben,
als nach unten zu, ſich verduͤnnen.

Vitruvius iſt ungemein aͤngſtlich in Angebung
der Regeln der Verduͤnnung, und fuͤhrt fuͤnferley
Maaßen davon an, nach Verſchiedenheit der Saͤu-
lenweiten, und der Hoͤhen. Scammozzi hat das
Herz gehabt zu ſagen, daß dieſes Kleinigkeiten ſeyen,
die eine ſo aͤngſtliche Beobachtung der Regeln nicht
verdienen, und darin ſtimmt ihm auch Goldmann
bey. Die Art dieſes Baumeiſters iſt dieſe, daß er
den Stamm bis auf den dritten Theil der Hoͤhe
gleich dik macht, von da ihn ſo abnehmen laͤßt, daß
das Verhaͤltnis der untern Dike zu der obern in den
niedrigen Ordnungen, wie 5 zu 4, in den Hoͤhen
wie 6 zu 5 wird. Die meiſten neuern Baumeiſter
nehmen dieſes leztere Verhaͤltnis fuͤr gar alle Saͤu-
len an.

Die Art der Verduͤnnung, welche faſt durchge-
hends angenommen iſt, und die den Saͤulen eine
ſchoͤne Form giebt, beſteht darin, daß ſie nicht nach
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ren Zeichnung nach den Regeln verſchiedener Bau-
meiſter mehr oder weniger muͤheſam iſt.

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[1210[1192]/0639] Ver Ver du deinen Endzwek? haſt du den Ort, der dir zu- kommt? u. ſ. f. Dieſes ſtellt ihn vor der Gefahr ſicher, Dinge zuzulaſſen, die außer Verbindung mit dem Ganzen ſind. Jn Anſehung der Verbindung eines Theils mit dem andern kann er aͤhnliche Fra- gen aufwerfen: wie folgeſt du auf das vorherge- hende? wie haͤngſt du mit dem folgenden zuſammen? Wird der, fuͤr dem das Werk gemacht iſt, ohne Anſtoß und Zwang dieſe Vorſtellung nach der vor- hergehenden annehmen, und voͤllig faſſen? u. ſ. w. Braucht der Kuͤnſtler dieſe Vorſicht, ſo wird er auch entdeken, ob die Verbindungen uͤberall nach dem Charakter des Werks richtig ſeyen, oder nicht. Wie uͤberhaupt in der Natur alles genau zuſam- menhaͤngt, ſo hat auch das menſchliche Gemuͤth einen natuͤrlichen Hang in ſeinen Vorſtellungen durch Stufen, nicht durch Spruͤnge von dem einem zum andern zu kommen. Wir lieben nach merklicher Hize nicht ploͤzliche, ſondern allmaͤhlige Abkuͤhlung. Findet der Kuͤnſtler es ſeiner Abſicht gemaͤß, ſehr entfernte, oder gar entgegengeſezte Dinge nah an einander zu bringen, ſo muß er auch beſorgt ſeyn, ſolche Dinge dazwiſchen zu ſezen, die den ſchnellen Uebergang erleichtern. Und darin zeiget ſich mei- ſtentheils der Unterſchied zwiſchen dem Kuͤnſtler von wahrem Genie, und dem der ohne daſſelbe nach Kunſtregeln arbeitet. Am deutlichſten ſieht man dieſes in der Muſik, wo große Harmoniſten, auf eine gar nichts hartes habende Weiſe ſchnell in ſehr entfernte Toͤne gehen koͤnnen, wobey andere allemal hart, und dem Gehoͤr anſtoͤßig werden. Verduͤnnung; Verjuͤngung. (Baukunſt.) Es iſt eine von alten und neuen Baumeiſtern an- genommene Regel, daß die Saͤulen nicht durchaus gleich dike, ſondern gegen das obere End zu etwas verduͤnnet ſeyn ſollen. Der Urſprung dieſer Regel iſt in der aͤlteſten Bauart zu ſuchen, da man die Saͤu- len von unbearbeiteten Staͤmmen der Baͤume ge- macht hat, die allemal in der Hoͤhe etwas duͤnner ſind, als an dem Boden. Da man aber bemerkt hat, daß die Verduͤnnung der Saͤule etwas Annehm- lichkeit giebt, hat man ſie zur Regel gemacht. Dieſe Bermuthung von dem Urſprung der Verduͤnnung wird noch dadurch beſtaͤtiget, daß man ſie nicht bis auf die Wandpfeiler erſtrekt hat. Dieſe wurden aus bearbeiteten Baumſtaͤmmen gemacht, die vier- kantig gezimmert und dadurch uͤberall gleich dik wurden. Es iſt vielleicht kein andrer Grund, als dieſes ungefaͤhr davon anzugeben, daß die Pfeiler nicht verduͤnnet werden. Denn in dem Gefuͤhl der Schoͤnheit kann dieſer Unterſchied ſchweerlich gegruͤn- det ſeyn, da er vielmehr eine wiedrige Wuͤrkung hervorbringt. Wer ein mit einer Saͤulenlaube ver- ſehenes Gebaͤude gerade von vorne anſieht, dem muß der Uebelſtand, der daher entſteht, in die Augen fallen, da die Staͤmme der den Saͤulen entgegen- ſtehenden Pilaſter oben uͤber die Saͤulenſtaͤmme heraustreten. Jn der Art der Verduͤnnung kommen die Bau- meiſter gar nicht mit einander uͤberein. Einige do- riſche Saͤulen aus der aͤlteſten Zeit und verſchiedene Aegyptiſche von Granit, ſind gleich vom Fuß an verduͤnnet, und Kegelfoͤrmig; die meiſten Baumei- ſter aber machen die Saͤule bis auf den dritten Theil ihrer Hoͤhe gleich dik; einige Neuere haben ihnen eine doppelte Verduͤnnung, oder Bauchung gege- ben, wodurch ſie auf dem dritten Theil der Hoͤhe am dikſten werden, von da aber, ſowol nach oben, als nach unten zu, ſich verduͤnnen. Vitruvius iſt ungemein aͤngſtlich in Angebung der Regeln der Verduͤnnung, und fuͤhrt fuͤnferley Maaßen davon an, nach Verſchiedenheit der Saͤu- lenweiten, und der Hoͤhen. Scammozzi hat das Herz gehabt zu ſagen, daß dieſes Kleinigkeiten ſeyen, die eine ſo aͤngſtliche Beobachtung der Regeln nicht verdienen, und darin ſtimmt ihm auch Goldmann bey. Die Art dieſes Baumeiſters iſt dieſe, daß er den Stamm bis auf den dritten Theil der Hoͤhe gleich dik macht, von da ihn ſo abnehmen laͤßt, daß das Verhaͤltnis der untern Dike zu der obern in den niedrigen Ordnungen, wie 5 zu 4, in den Hoͤhen wie 6 zu 5 wird. Die meiſten neuern Baumeiſter nehmen dieſes leztere Verhaͤltnis fuͤr gar alle Saͤu- len an. Die Art der Verduͤnnung, welche faſt durchge- hends angenommen iſt, und die den Saͤulen eine ſchoͤne Form giebt, beſteht darin, daß ſie nicht nach einer geraden, ſondern krummen Linie geſchieht, de- ren Zeichnung nach den Regeln verſchiedener Bau- meiſter mehr oder weniger muͤheſam iſt.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1210[1192]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/639>, abgerufen am 24.11.2024.