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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Man kann, ohne sich in tiefe psychologische Be-
trachtungen einzulassen, aus der Erfahrung anneh-
men, daß die Menschen sich von jeder Sache, gegen
die sie kein Vorurtheil haben, sehr leicht überreden
lassen. Wer in Absicht auf die Wahrheit oder Falsch-
heit einer Sache ganz ohne Vorurtheil ist, kann,
wie eine im Gleichgewicht stehende Waage, durch
jeden scheinbaren Grund überredet werden. Hinge-
gen ist auch der, der durch Vorurtheile gegen eine Sach
eingenommen ist, kaum zu überreden, (*) es sey denn,
daß die Vorurtheile ihm vorher benommen werden.

Also kommt es bey der Ueberredung vornehmlich
auf Wegräumung aller vorhandener Vorurtheile
gegen die Sache, der man die Menschen bereden
will, an. Jst dieses Haupthindernis gehoben, so
ist das übrige sehr leicht. Das erste, dessen sich
ein Redner zu versichern hat, ist die genaue Kennt-
nis der Meinungen und Vorurtheile seiner Zuhörer,
über die Sache, deren er sie zu überreden hat: eher
kann er weder Plan, noch Anordnung für seine Rede
machen. Man sieht aber leichte, was für große
Kenntnis des Menschen überhaupt, und was für
genaue Bekanntschaft mit denen, die man zu über-
reden hat, hiezu erfodert werden. Wer nicht in die
Gemüther seiner Zuhörer hineinschauen, und mit
seinen Bliken so gar in die dunkelen Winkel dersel-
ben zu dringen vermag, kann nicht sicher seyn, sie
zu überreden. Die scheinbaresten Gründe für eine
Sache sind ohne Kraft, so lange das Vorurtheil
gegen sie ist.

Nur eine gründliche Psychologie kann dem Redner
die Mittel an die Hand geben, wie er die Vorur-
theile der Menschen erfahren könne, und wie er sie
zu heben habe. Mit wenigem läßt sich eine so sehr
wichtige und schweere Sache nicht abhandeln: da-
rum können wir uns auch hier in diese Materie
nicht einlassen. Wir bemerken nur, daß der Red-
ner sich ein besonderes Studium daraus zu machen
habe, die Natur und die verschiedenen Arten der
Vorurtheile überhaupt, und die besondere Sinnesart
seiner Zuhörer genau zu kennen. Fehlet es ihm hier-
an, so ist alle seine Bemühung zu überreden vergeb-
lich, es sey denn, daß er ganz freye und uneinge-
nommene Zuhörer habe.

Sezen wir nun voraus, daß die Hindernisse der
Ueberredung gehoben sind, so braucht es in der That
sehr wenig die Ueberredung zu bewürken. Dieses
kann durch zweyerley Wege geschehen. Der eine
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geht gerade gegen den Zwek, durch Gründe, die die
Sache wahrscheinlich machen. Von den Beweisen,
Beweisarten und Beweisgründen, haben wir in be-
sondern Artikeln gesprochen. Wir merken hier nur
noch an, daß in den Beweisen, die blos Ueberre-
dung bewürken sollen, die Hauptsach auf Klarheit,
Sinnlichkeit und Faßlichkeit der Vorstellungen an-
komme. Diese Eigenschaften bedeken das Schwache
derselben. Wo man sich einbildet eine Sache zu
sehen, oder zu fühlen, da braucht man weiter keinen
Beweis ihrer Würklichkeit. Man muß also bey
diesen Beweisen mehr auf das Anschauen der Dinge,
als auf das deutliche Erkennen derselben arbeiten.
Gar ofte liegt ein zur Ueberredung schon hinlängli-
cher Beweis blos in der Art, wie die Sachen vor-
gestellt, oder in dem Gesichtspunkt, aus dem sie
angesehen werden. "Wenn du auch mit Müh
und Anstrengung etwas gutes und rühmliches thust
(sagte der Philosoph Musonius) so vergehet die
Mühe, und das Gute bleibet. Thust du etwas
schändliches mit Vergnügen, so ist auch dieses vor-
übergehend, aber die Schande bleibt."(*) Diese
Art gute und böse Handlungen anzusehen, führet
schon ohne weiten Beweis auf die Ueberredung, daß
man sich jener befleißigen, und daß man diese ver-
meiden soll.

Höchst wichtig zur Ueberredung ist es, daß die
Gründe mit einem Ton der Zuversichtlichkeit, mit
Lebhaftigkeit und Würde vorgetragen werden.
Denn ofte thut dieser das meiste zur Ueberredung.
Der große Haufe, so gar schon ein großer Theil
derer, die selbst denken, getraut sich selten an einer
Sache zu zweifeln, die mit großer Zuversichtlichkeit
und eindringender Lebhaftigkeit versichert wird.
Man glaubt die Sache zu fühlen, die, als würklich,
mit lebendigen Farben geschildert wird.

Ein anderer Weg zur Ueberredung zu gelangen,
besteht darin, daß man die Sache gar nicht beweißt,
und sich so gar nicht einmal merken läßt, als wenn
der Zuhörer daran zweifeln könnte. Man sezt still-
schweigend voraus, das Urtheil des Zuhörers sey
der Sache günstig, und spricht so davon, als wenn
man blos das, was er selbst davon denkt, vorzu-
tragen habe. Da merkt er nicht, daß man ihn
führen will; er glaubt seinen Weg zu gehen, und
den Redner blos zur Begleitung bey sich zu haben:
und so kann man ihn, da er selbst kein Ziehl hat,
und blos dahin zu gehen glaubet, wohin die Phan-

tasie
(*) Nihil
facile per-
suadetur
invitis.
Quintil.
Inst. L. IV.
[0].
4.
(*) S.
Gell. Noct.
Att. L.
XVI. c.
1.
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Ueb

Man kann, ohne ſich in tiefe pſychologiſche Be-
trachtungen einzulaſſen, aus der Erfahrung anneh-
men, daß die Menſchen ſich von jeder Sache, gegen
die ſie kein Vorurtheil haben, ſehr leicht uͤberreden
laſſen. Wer in Abſicht auf die Wahrheit oder Falſch-
heit einer Sache ganz ohne Vorurtheil iſt, kann,
wie eine im Gleichgewicht ſtehende Waage, durch
jeden ſcheinbaren Grund uͤberredet werden. Hinge-
gen iſt auch der, der durch Vorurtheile gegen eine Sach
eingenommen iſt, kaum zu uͤberreden, (*) es ſey denn,
daß die Vorurtheile ihm vorher benommen werden.

Alſo kommt es bey der Ueberredung vornehmlich
auf Wegraͤumung aller vorhandener Vorurtheile
gegen die Sache, der man die Menſchen bereden
will, an. Jſt dieſes Haupthindernis gehoben, ſo
iſt das uͤbrige ſehr leicht. Das erſte, deſſen ſich
ein Redner zu verſichern hat, iſt die genaue Kennt-
nis der Meinungen und Vorurtheile ſeiner Zuhoͤrer,
uͤber die Sache, deren er ſie zu uͤberreden hat: eher
kann er weder Plan, noch Anordnung fuͤr ſeine Rede
machen. Man ſieht aber leichte, was fuͤr große
Kenntnis des Menſchen uͤberhaupt, und was fuͤr
genaue Bekanntſchaft mit denen, die man zu uͤber-
reden hat, hiezu erfodert werden. Wer nicht in die
Gemuͤther ſeiner Zuhoͤrer hineinſchauen, und mit
ſeinen Bliken ſo gar in die dunkelen Winkel derſel-
ben zu dringen vermag, kann nicht ſicher ſeyn, ſie
zu uͤberreden. Die ſcheinbareſten Gruͤnde fuͤr eine
Sache ſind ohne Kraft, ſo lange das Vorurtheil
gegen ſie iſt.

Nur eine gruͤndliche Pſychologie kann dem Redner
die Mittel an die Hand geben, wie er die Vorur-
theile der Menſchen erfahren koͤnne, und wie er ſie
zu heben habe. Mit wenigem laͤßt ſich eine ſo ſehr
wichtige und ſchweere Sache nicht abhandeln: da-
rum koͤnnen wir uns auch hier in dieſe Materie
nicht einlaſſen. Wir bemerken nur, daß der Red-
ner ſich ein beſonderes Studium daraus zu machen
habe, die Natur und die verſchiedenen Arten der
Vorurtheile uͤberhaupt, und die beſondere Sinnesart
ſeiner Zuhoͤrer genau zu kennen. Fehlet es ihm hier-
an, ſo iſt alle ſeine Bemuͤhung zu uͤberreden vergeb-
lich, es ſey denn, daß er ganz freye und uneinge-
nommene Zuhoͤrer habe.

Sezen wir nun voraus, daß die Hinderniſſe der
Ueberredung gehoben ſind, ſo braucht es in der That
ſehr wenig die Ueberredung zu bewuͤrken. Dieſes
kann durch zweyerley Wege geſchehen. Der eine
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Ueb
geht gerade gegen den Zwek, durch Gruͤnde, die die
Sache wahrſcheinlich machen. Von den Beweiſen,
Beweisarten und Beweisgruͤnden, haben wir in be-
ſondern Artikeln geſprochen. Wir merken hier nur
noch an, daß in den Beweiſen, die blos Ueberre-
dung bewuͤrken ſollen, die Hauptſach auf Klarheit,
Sinnlichkeit und Faßlichkeit der Vorſtellungen an-
komme. Dieſe Eigenſchaften bedeken das Schwache
derſelben. Wo man ſich einbildet eine Sache zu
ſehen, oder zu fuͤhlen, da braucht man weiter keinen
Beweis ihrer Wuͤrklichkeit. Man muß alſo bey
dieſen Beweiſen mehr auf das Anſchauen der Dinge,
als auf das deutliche Erkennen derſelben arbeiten.
Gar ofte liegt ein zur Ueberredung ſchon hinlaͤngli-
cher Beweis blos in der Art, wie die Sachen vor-
geſtellt, oder in dem Geſichtspunkt, aus dem ſie
angeſehen werden. „Wenn du auch mit Muͤh
und Anſtrengung etwas gutes und ruͤhmliches thuſt
(ſagte der Philoſoph Muſonius) ſo vergehet die
Muͤhe, und das Gute bleibet. Thuſt du etwas
ſchaͤndliches mit Vergnuͤgen, ſo iſt auch dieſes vor-
uͤbergehend, aber die Schande bleibt.“(*) Dieſe
Art gute und boͤſe Handlungen anzuſehen, fuͤhret
ſchon ohne weiten Beweis auf die Ueberredung, daß
man ſich jener befleißigen, und daß man dieſe ver-
meiden ſoll.

Hoͤchſt wichtig zur Ueberredung iſt es, daß die
Gruͤnde mit einem Ton der Zuverſichtlichkeit, mit
Lebhaftigkeit und Wuͤrde vorgetragen werden.
Denn ofte thut dieſer das meiſte zur Ueberredung.
Der große Haufe, ſo gar ſchon ein großer Theil
derer, die ſelbſt denken, getraut ſich ſelten an einer
Sache zu zweifeln, die mit großer Zuverſichtlichkeit
und eindringender Lebhaftigkeit verſichert wird.
Man glaubt die Sache zu fuͤhlen, die, als wuͤrklich,
mit lebendigen Farben geſchildert wird.

Ein anderer Weg zur Ueberredung zu gelangen,
beſteht darin, daß man die Sache gar nicht beweißt,
und ſich ſo gar nicht einmal merken laͤßt, als wenn
der Zuhoͤrer daran zweifeln koͤnnte. Man ſezt ſtill-
ſchweigend voraus, das Urtheil des Zuhoͤrers ſey
der Sache guͤnſtig, und ſpricht ſo davon, als wenn
man blos das, was er ſelbſt davon denkt, vorzu-
tragen habe. Da merkt er nicht, daß man ihn
fuͤhren will; er glaubt ſeinen Weg zu gehen, und
den Redner blos zur Begleitung bey ſich zu haben:
und ſo kann man ihn, da er ſelbſt kein Ziehl hat,
und blos dahin zu gehen glaubet, wohin die Phan-

taſie
(*) Nihil
facile per-
ſuadetur
invitis.
Quintil.
Inſt. L. IV.
[0].
4.
(*) S.
Gell. Noct.
Att. L.
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[1193[1175]/0622] Ueb Ueb Man kann, ohne ſich in tiefe pſychologiſche Be- trachtungen einzulaſſen, aus der Erfahrung anneh- men, daß die Menſchen ſich von jeder Sache, gegen die ſie kein Vorurtheil haben, ſehr leicht uͤberreden laſſen. Wer in Abſicht auf die Wahrheit oder Falſch- heit einer Sache ganz ohne Vorurtheil iſt, kann, wie eine im Gleichgewicht ſtehende Waage, durch jeden ſcheinbaren Grund uͤberredet werden. Hinge- gen iſt auch der, der durch Vorurtheile gegen eine Sach eingenommen iſt, kaum zu uͤberreden, (*) es ſey denn, daß die Vorurtheile ihm vorher benommen werden. Alſo kommt es bey der Ueberredung vornehmlich auf Wegraͤumung aller vorhandener Vorurtheile gegen die Sache, der man die Menſchen bereden will, an. Jſt dieſes Haupthindernis gehoben, ſo iſt das uͤbrige ſehr leicht. Das erſte, deſſen ſich ein Redner zu verſichern hat, iſt die genaue Kennt- nis der Meinungen und Vorurtheile ſeiner Zuhoͤrer, uͤber die Sache, deren er ſie zu uͤberreden hat: eher kann er weder Plan, noch Anordnung fuͤr ſeine Rede machen. Man ſieht aber leichte, was fuͤr große Kenntnis des Menſchen uͤberhaupt, und was fuͤr genaue Bekanntſchaft mit denen, die man zu uͤber- reden hat, hiezu erfodert werden. Wer nicht in die Gemuͤther ſeiner Zuhoͤrer hineinſchauen, und mit ſeinen Bliken ſo gar in die dunkelen Winkel derſel- ben zu dringen vermag, kann nicht ſicher ſeyn, ſie zu uͤberreden. Die ſcheinbareſten Gruͤnde fuͤr eine Sache ſind ohne Kraft, ſo lange das Vorurtheil gegen ſie iſt. Nur eine gruͤndliche Pſychologie kann dem Redner die Mittel an die Hand geben, wie er die Vorur- theile der Menſchen erfahren koͤnne, und wie er ſie zu heben habe. Mit wenigem laͤßt ſich eine ſo ſehr wichtige und ſchweere Sache nicht abhandeln: da- rum koͤnnen wir uns auch hier in dieſe Materie nicht einlaſſen. Wir bemerken nur, daß der Red- ner ſich ein beſonderes Studium daraus zu machen habe, die Natur und die verſchiedenen Arten der Vorurtheile uͤberhaupt, und die beſondere Sinnesart ſeiner Zuhoͤrer genau zu kennen. Fehlet es ihm hier- an, ſo iſt alle ſeine Bemuͤhung zu uͤberreden vergeb- lich, es ſey denn, daß er ganz freye und uneinge- nommene Zuhoͤrer habe. Sezen wir nun voraus, daß die Hinderniſſe der Ueberredung gehoben ſind, ſo braucht es in der That ſehr wenig die Ueberredung zu bewuͤrken. Dieſes kann durch zweyerley Wege geſchehen. Der eine geht gerade gegen den Zwek, durch Gruͤnde, die die Sache wahrſcheinlich machen. Von den Beweiſen, Beweisarten und Beweisgruͤnden, haben wir in be- ſondern Artikeln geſprochen. Wir merken hier nur noch an, daß in den Beweiſen, die blos Ueberre- dung bewuͤrken ſollen, die Hauptſach auf Klarheit, Sinnlichkeit und Faßlichkeit der Vorſtellungen an- komme. Dieſe Eigenſchaften bedeken das Schwache derſelben. Wo man ſich einbildet eine Sache zu ſehen, oder zu fuͤhlen, da braucht man weiter keinen Beweis ihrer Wuͤrklichkeit. Man muß alſo bey dieſen Beweiſen mehr auf das Anſchauen der Dinge, als auf das deutliche Erkennen derſelben arbeiten. Gar ofte liegt ein zur Ueberredung ſchon hinlaͤngli- cher Beweis blos in der Art, wie die Sachen vor- geſtellt, oder in dem Geſichtspunkt, aus dem ſie angeſehen werden. „Wenn du auch mit Muͤh und Anſtrengung etwas gutes und ruͤhmliches thuſt (ſagte der Philoſoph Muſonius) ſo vergehet die Muͤhe, und das Gute bleibet. Thuſt du etwas ſchaͤndliches mit Vergnuͤgen, ſo iſt auch dieſes vor- uͤbergehend, aber die Schande bleibt.“ (*) Dieſe Art gute und boͤſe Handlungen anzuſehen, fuͤhret ſchon ohne weiten Beweis auf die Ueberredung, daß man ſich jener befleißigen, und daß man dieſe ver- meiden ſoll. Hoͤchſt wichtig zur Ueberredung iſt es, daß die Gruͤnde mit einem Ton der Zuverſichtlichkeit, mit Lebhaftigkeit und Wuͤrde vorgetragen werden. Denn ofte thut dieſer das meiſte zur Ueberredung. Der große Haufe, ſo gar ſchon ein großer Theil derer, die ſelbſt denken, getraut ſich ſelten an einer Sache zu zweifeln, die mit großer Zuverſichtlichkeit und eindringender Lebhaftigkeit verſichert wird. Man glaubt die Sache zu fuͤhlen, die, als wuͤrklich, mit lebendigen Farben geſchildert wird. Ein anderer Weg zur Ueberredung zu gelangen, beſteht darin, daß man die Sache gar nicht beweißt, und ſich ſo gar nicht einmal merken laͤßt, als wenn der Zuhoͤrer daran zweifeln koͤnnte. Man ſezt ſtill- ſchweigend voraus, das Urtheil des Zuhoͤrers ſey der Sache guͤnſtig, und ſpricht ſo davon, als wenn man blos das, was er ſelbſt davon denkt, vorzu- tragen habe. Da merkt er nicht, daß man ihn fuͤhren will; er glaubt ſeinen Weg zu gehen, und den Redner blos zur Begleitung bey ſich zu haben: und ſo kann man ihn, da er ſelbſt kein Ziehl hat, und blos dahin zu gehen glaubet, wohin die Phan- taſie (*) Nihil facile per- ſuadetur invitis. Quintil. Inſt. L. IV. 0. 4. (*) S. Gell. Noct. Att. L. XVI. c. 1.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1193[1175]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/622>, abgerufen am 24.11.2024.