Umschweiff den neuen Punkt an, auf den sie über- giengen. Diese Art pflegte auch Winkelmann bis- weilen nachzuahmen; z. B. Nach der Betrachtung über die Bildung der Schönheit ist zum zweyten von dem Ausdruke zu reden. Jn dem einfachen leh- renden Vortrage dienet dieses zur Deutlichkeit. Die Redner pflegen auf eine ähnliche Weise von einem Hauptpunkte zum folgenden überzugehen, worüber die vorher angeführte Stelle aus den Rhetoricis ad Herennium zum Beyspiehle dienet.
Die epischen Dichter bedienen sich bisweilen sehr feyerlicher Uebergänge, wobey sie wol gar eine neue Anrufung an die Muse thun. Ein merkwür- diges Beyspiehl eines solchen höchstpathetischen epi- schen Ueberganges ist der Anfang des dritten Buches im verlohrnen Paradies. Diese Art ist sehr schik- lich, die Aufmerksamkeit aufs neue zu erweken, und den Leser in große Erwartung zu sezen; daher fast alle Dichter in der Epopöe sich derselben bedient haben.
So hingegen sind Uebergänge die erzwungene, blos eingebildete Verbindungen der auf einander fol- genden Materien enthalten, sehr frostig und kindisch, welches Quintilian an den rhetorischen Schulübun- gen seiner Zeit, und am Ovidius tadelt. (+)
Uebergehung. (Musik.)
Es geschieht bisweilen, daß in einem Tonstük ein Ton, oder auch wol ein ganzer Accord, der nach einem vorhergehenden natürlicher Weise, und nach den gewöhnlichen Regeln folgen sollte, übergangen, oder ausgelassen, und an seiner Stelle der, der erst auf ihn folgen sollte, genommen wird. Dieses ge- schieht hauptsächlich in den Fällen, wo ein Schluß erwartet wird, aber nicht erfolget, wie in diesem Beyspiehle:
[Abbildung]
da das Gehör nach dem ersten Accord einen Schluß in die Tonica C erwartet. Die große Terz der Dominante G sollte, als Leitton ihren Gang über sich in die Octave der Tonica nehmen. Dieses [Spaltenumbruch]
Ueb
geschiehet hier nicht; denn diese Terz tritt um einen halben Ton unter sich in die kleine Septime. Hier ist also nur ein einziger Ton übergangen, den das Gehör aber leicht ersezet, so daß keine würkliche Trennung des Zusammenhanges dadurch verursa- chet, sondern vielmehr die Fortschreitung desto ge- drungener wird.
Auf eine ähnliche Weise werden ganze Harmo- nien, oder Accorde übergangen, wie in diesem Bey- spiehl:
[Abbildung]
Die wahren Grundtöne sind hier Dominanten mit dem Sextnonenaccord. Dieser Saz entstehet aus diesem
[Abbildung]
durch Verwechslungen der beyden Dominanten- accorde und Auslaffung des ganzen Dreyklanges auf C, und dieses Grundtones selbst.
Ueberhaupt kann hier angemerkt werden, daß jeder Dominantenaccord, dessen Erwartung durch die vorhergehende Harmonie bereits erwekt worden ist, übergangen, und an seiner Stelle sogleich der Accord der Tonica genommen werden kann, da sie in so enger Verbindung stehen, daß der Zusammen- hang durch die Auslassung nicht unterbrochen wird; als worauf es bey der Uebergehung hauptsächlich ankommt. Folgende Beyspiehle kommen häufig vor, und sind von angenehmer Würkung:
[Abbildung]
Bey a ist der G accord, und bey b der E accord über- gangen worden.
Uebermäßig. (Musik.)
So werden mit Ausnahm der Terz alle diejenigen Jntervalle genennt, welche um einen halben Ton
höher
(+)Illa vero frigida et puerilis est in scholis affectatio, ut ipse transitus efficiat aliquam ubique sententiam -- ut Ovi- [Spaltenumbruch]
dius lascivire in Metamorphosi solet. Inst. L. IV. c. 2.
J i i i i i i 3
[Spaltenumbruch]
Ueb
Umſchweiff den neuen Punkt an, auf den ſie uͤber- giengen. Dieſe Art pflegte auch Winkelmann bis- weilen nachzuahmen; z. B. Nach der Betrachtung uͤber die Bildung der Schoͤnheit iſt zum zweyten von dem Ausdruke zu reden. Jn dem einfachen leh- renden Vortrage dienet dieſes zur Deutlichkeit. Die Redner pflegen auf eine aͤhnliche Weiſe von einem Hauptpunkte zum folgenden uͤberzugehen, woruͤber die vorher angefuͤhrte Stelle aus den Rhetoricis ad Herennium zum Beyſpiehle dienet.
Die epiſchen Dichter bedienen ſich bisweilen ſehr feyerlicher Uebergaͤnge, wobey ſie wol gar eine neue Anrufung an die Muſe thun. Ein merkwuͤr- diges Beyſpiehl eines ſolchen hoͤchſtpathetiſchen epi- ſchen Ueberganges iſt der Anfang des dritten Buches im verlohrnen Paradies. Dieſe Art iſt ſehr ſchik- lich, die Aufmerkſamkeit aufs neue zu erweken, und den Leſer in große Erwartung zu ſezen; daher faſt alle Dichter in der Epopoͤe ſich derſelben bedient haben.
So hingegen ſind Uebergaͤnge die erzwungene, blos eingebildete Verbindungen der auf einander fol- genden Materien enthalten, ſehr froſtig und kindiſch, welches Quintilian an den rhetoriſchen Schuluͤbun- gen ſeiner Zeit, und am Ovidius tadelt. (†)
Uebergehung. (Muſik.)
Es geſchieht bisweilen, daß in einem Tonſtuͤk ein Ton, oder auch wol ein ganzer Accord, der nach einem vorhergehenden natuͤrlicher Weiſe, und nach den gewoͤhnlichen Regeln folgen ſollte, uͤbergangen, oder ausgelaſſen, und an ſeiner Stelle der, der erſt auf ihn folgen ſollte, genommen wird. Dieſes ge- ſchieht hauptſaͤchlich in den Faͤllen, wo ein Schluß erwartet wird, aber nicht erfolget, wie in dieſem Beyſpiehle:
[Abbildung]
da das Gehoͤr nach dem erſten Accord einen Schluß in die Tonica C erwartet. Die große Terz der Dominante G ſollte, als Leitton ihren Gang uͤber ſich in die Octave der Tonica nehmen. Dieſes [Spaltenumbruch]
Ueb
geſchiehet hier nicht; denn dieſe Terz tritt um einen halben Ton unter ſich in die kleine Septime. Hier iſt alſo nur ein einziger Ton uͤbergangen, den das Gehoͤr aber leicht erſezet, ſo daß keine wuͤrkliche Trennung des Zuſammenhanges dadurch verurſa- chet, ſondern vielmehr die Fortſchreitung deſto ge- drungener wird.
Auf eine aͤhnliche Weiſe werden ganze Harmo- nien, oder Accorde uͤbergangen, wie in dieſem Bey- ſpiehl:
[Abbildung]
Die wahren Grundtoͤne ſind hier Dominanten mit dem Sextnonenaccord. Dieſer Saz entſtehet aus dieſem
[Abbildung]
durch Verwechslungen der beyden Dominanten- accorde und Auslaffung des ganzen Dreyklanges auf C, und dieſes Grundtones ſelbſt.
Ueberhaupt kann hier angemerkt werden, daß jeder Dominantenaccord, deſſen Erwartung durch die vorhergehende Harmonie bereits erwekt worden iſt, uͤbergangen, und an ſeiner Stelle ſogleich der Accord der Tonica genommen werden kann, da ſie in ſo enger Verbindung ſtehen, daß der Zuſammen- hang durch die Auslaſſung nicht unterbrochen wird; als worauf es bey der Uebergehung hauptſaͤchlich ankommt. Folgende Beyſpiehle kommen haͤufig vor, und ſind von angenehmer Wuͤrkung:
[Abbildung]
Bey a iſt der G accord, und bey b der E accord uͤber- gangen worden.
Uebermaͤßig. (Muſik.)
So werden mit Ausnahm der Terz alle diejenigen Jntervalle genennt, welche um einen halben Ton
hoͤher
(†)Illa vero frigida et puerilis eſt in ſcholis affectatio, ut ipſe tranſitus efficiat aliquam ubique ſententiam — ut Ovi- [Spaltenumbruch]
dius laſcivire in Metamorphoſi ſolet. Inſt. L. IV. c. 2.
J i i i i i i 3
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[1191[1173]/0620]
Ueb
Ueb
Umſchweiff den neuen Punkt an, auf den ſie uͤber-
giengen. Dieſe Art pflegte auch Winkelmann bis-
weilen nachzuahmen; z. B. Nach der Betrachtung
uͤber die Bildung der Schoͤnheit iſt zum zweyten
von dem Ausdruke zu reden. Jn dem einfachen leh-
renden Vortrage dienet dieſes zur Deutlichkeit. Die
Redner pflegen auf eine aͤhnliche Weiſe von einem
Hauptpunkte zum folgenden uͤberzugehen, woruͤber
die vorher angefuͤhrte Stelle aus den Rhetoricis ad
Herennium zum Beyſpiehle dienet.
Die epiſchen Dichter bedienen ſich bisweilen ſehr
feyerlicher Uebergaͤnge, wobey ſie wol gar eine
neue Anrufung an die Muſe thun. Ein merkwuͤr-
diges Beyſpiehl eines ſolchen hoͤchſtpathetiſchen epi-
ſchen Ueberganges iſt der Anfang des dritten Buches
im verlohrnen Paradies. Dieſe Art iſt ſehr ſchik-
lich, die Aufmerkſamkeit aufs neue zu erweken, und
den Leſer in große Erwartung zu ſezen; daher faſt
alle Dichter in der Epopoͤe ſich derſelben bedient
haben.
So hingegen ſind Uebergaͤnge die erzwungene,
blos eingebildete Verbindungen der auf einander fol-
genden Materien enthalten, ſehr froſtig und kindiſch,
welches Quintilian an den rhetoriſchen Schuluͤbun-
gen ſeiner Zeit, und am Ovidius tadelt. (†)
Uebergehung.
(Muſik.)
Es geſchieht bisweilen, daß in einem Tonſtuͤk ein
Ton, oder auch wol ein ganzer Accord, der nach
einem vorhergehenden natuͤrlicher Weiſe, und nach
den gewoͤhnlichen Regeln folgen ſollte, uͤbergangen,
oder ausgelaſſen, und an ſeiner Stelle der, der erſt
auf ihn folgen ſollte, genommen wird. Dieſes ge-
ſchieht hauptſaͤchlich in den Faͤllen, wo ein Schluß
erwartet wird, aber nicht erfolget, wie in dieſem
Beyſpiehle:
[Abbildung]
da das Gehoͤr nach dem erſten Accord einen Schluß
in die Tonica C erwartet. Die große Terz der
Dominante G ſollte, als Leitton ihren Gang uͤber
ſich in die Octave der Tonica nehmen. Dieſes
geſchiehet hier nicht; denn dieſe Terz tritt um einen
halben Ton unter ſich in die kleine Septime. Hier
iſt alſo nur ein einziger Ton uͤbergangen, den das
Gehoͤr aber leicht erſezet, ſo daß keine wuͤrkliche
Trennung des Zuſammenhanges dadurch verurſa-
chet, ſondern vielmehr die Fortſchreitung deſto ge-
drungener wird.
Auf eine aͤhnliche Weiſe werden ganze Harmo-
nien, oder Accorde uͤbergangen, wie in dieſem Bey-
ſpiehl:
[Abbildung]
Die wahren Grundtoͤne ſind hier Dominanten mit dem
Sextnonenaccord. Dieſer Saz entſtehet aus dieſem
[Abbildung]
durch Verwechslungen der beyden Dominanten-
accorde und Auslaffung des ganzen Dreyklanges
auf C, und dieſes Grundtones ſelbſt.
Ueberhaupt kann hier angemerkt werden, daß
jeder Dominantenaccord, deſſen Erwartung durch
die vorhergehende Harmonie bereits erwekt worden
iſt, uͤbergangen, und an ſeiner Stelle ſogleich der
Accord der Tonica genommen werden kann, da ſie in
ſo enger Verbindung ſtehen, daß der Zuſammen-
hang durch die Auslaſſung nicht unterbrochen wird;
als worauf es bey der Uebergehung hauptſaͤchlich
ankommt. Folgende Beyſpiehle kommen haͤufig
vor, und ſind von angenehmer Wuͤrkung:
[Abbildung]
Bey a iſt der G accord, und bey b der E accord uͤber-
gangen worden.
Uebermaͤßig.
(Muſik.)
So werden mit Ausnahm der Terz alle diejenigen
Jntervalle genennt, welche um einen halben Ton
hoͤher
(†) Illa vero frigida et puerilis eſt in ſcholis affectatio, ut
ipſe tranſitus efficiat aliquam ubique ſententiam — ut Ovi-
dius laſcivire in Metamorphoſi ſolet. Inſt. L. IV. c. 2.
J i i i i i i 3
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1191[1173]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/620>, abgerufen am 24.11.2024.
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