Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Tra
gödie aber wurde so wie unsre Oper durchaus in
Musik gesezt. Dieses erhellet deutlich aus einer
Frage die Aristoteles in seinen Aufgaben auf-
wirft (*). Was aber die Declamation betrift,
davon ist an einem andern Orte gesprochen wor-
den. (*)

Fassen wir nun alles, was zum vollkommnen
Trauerspiehl gehört, kurz zusammen, so zeiget sich,
daß folgende wesentliche Dinge dazu gehören. Die
Handlung
muß ganz und vollständig seyn von ernst-
haftem Jnhalte, ein einziges wichtiges Jnteresse
muß darin statt haben und sie muß eine einge-
schränkte Größe haben: alles muß darin zusammen
hangen, es muß nichts geschehen, das den Haupt-
eindruk nicht vermehrt, nichts davon man den
Grund nicht einsieht. Alles muß wolgeschlossen,
ohne Mangel und ohne Ueberfluß seyn. Der Dich-
ter muß uns die Hauptperson keinen Augenblik ent-
ziehen, es muß nichts geschehen, das die Handlung
unvollkommen macht. Die Verwiklungen müssen
nicht zu künstlich und die Auflösungen nicht wieder-
natürlich, nicht gewaltsam seyn. Die Sitten der
Personen müssen groß und edel seyn, und in den
Charaktern eine hinlängliche Mannigfaltigkeit seyn.
Die Leidenschaften müssen stark aber nicht übertrie-
ben und den großen Sitten anständig seyn.

Die Reden müssen überhaupt den Sitten und
den Leidenschaften angemessen seyn. Es muß nichts
gesagt werden, was nicht zur Sache gehört, am
wenigsten etwas, das den Eindruk schwächt, (ein
Fehler darin Shakespear oft verfällt,) Ton und Aus-
druk, müssen für jeden Charakter, und für jede Lei-
denschaft besonders abgepaßt seyn. Die Sitten-
prüche müssen wichtig seyn, und ohne alle zubemer-
kende Veranstaltung von selbst aus der Empfindung
entstehen.

Ueber den Ursprung des Trauerspiehls ist viel Fa-
belhaftes von den Alten geschrieben, und von den
Neuern ohne Ueberlegung und bis zum Ekel wieder-
holt worden. Die gewöhnliche Erzählung, da man
ihren Anfang von des Thespis Karre macht, und
denn so, wie Horaz fortfährt, ist die gewöhnlichste,
aber gewiß fabelhaft. Der Mensch hat eine natür-
liche Begierde Zeuge von großen und ernsthaften
Begebenheiten zu seyn, die Menschen bey denselben
handeln und leiden zu sehen. Darin liegt der erste
[Spaltenumbruch]

Tra
Keim vom Ursprung des Trauerspiehls, das aus
eben diesen Grund älter, als die Comödie scheint.

Aller Vermuthung nach, hat dieses das tragische
Schauspiehl bey mehrern Völkern, ohne daß eines
die Sache von dem andern abgesehen habe, veran-
lasset. Man muß also eben nicht glauben, daß die
Griechen es erfunden haben. Aber sehr alt scheinet
es bey ihnen zu seyn. Stanley führt in seinen An-
merkungen über den Aeschylus eine Stelle aus einem
alten Scholiasten an, welcher sagt, daß zu des Ore-
stes
Zeiten ein gewisser Thomis zuerst dramatische
Spiehle den Griechen sehen lassen, os protos exeure
tragodikas melodias. Suidas nimmt für aus-
gemacht an, daß Thespis der sechszehnte in der Zeit-
folge gewesen sey; für den ersten giebt er einen ge-
wissen Epigenes aus Sicyon an, der mehr als hun-
dert Jahr vor dem Thespis gestorben.

Obgleich nach der gewöhnlichen Erzählung Aeschy-
lus der erste gute Trauerspiehler gewesen, so nennt
Suidas Stüke, die den Phrynichus, einen berühmten
Dichter zum Urheber hätten, und auch Eusebius
nennt andre vor jenen. Plato sagt ausdrüklich,
daß die Tragödie lange vor Thespis im Gebrauch
gewesen (*). Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die
feyerliche Begräbnis großer Helden das Trauerspiehl
veranlasset haben, da die vornehmsten Thaten des
Verstorbenen dabey vorgestellt worden. Wir fin-
den, daß verschiedene Dichter bey dem Grabe des
Theseus um den tragischen Preis gestritten haben.
Diese Art des Wettstreites hat sich lang unter den
Griechen erhalten. Artemisia hat bey dem Be-
gräbnis ihres Gemahls Mausolus Wettstreite zu sei-
nem Lobe halten lassen, die vermuthlich aus Tragö-
dien bestanden haben; denn A. Gellius (*) sagt, daß
noch zu seiner Zeit eine Tragödie, Mausolus, von
dem Theodektes, der einer der Streiter war, vor-
handen gewesen sey. Es herrscht also in der Ge-
schichte dieses Gedichts große Ungewißheit. Und wie
soll man folgende Stelle des Aristoteles verstehen?
"Dieser (Aristarchus) war ein Zeitverwandter des
Euripides, welcher zuerst dem Drama, die izige
Form gegeben. " (+) Doch stimmen die Nachrichten
und Muthmaaßungen darin überein, daß die Ge-
sänge des Chors, so wie im Trauerspiehl, also auch
in andern Gattungen des Drama ursprünglich der
wesentlichste Theil desselben gewesen. Deswegen

wurd
(*) Arist.
Problem.
XXVII.
(*) S.
Vortrag.
(*) S.
Plat. Al-
cib. II.
ge-
gen das
Ende.
(*) L. X.
c.
17.
(+) Outes de' Arisarkhos sugkhronos en Euripide, os pro-
[Spaltenumbruch] tos eis to nun me~eos ta dr[a]matm katises[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]n.

[Spaltenumbruch]

Tra
goͤdie aber wurde ſo wie unſre Oper durchaus in
Muſik geſezt. Dieſes erhellet deutlich aus einer
Frage die Ariſtoteles in ſeinen Aufgaben auf-
wirft (*). Was aber die Declamation betrift,
davon iſt an einem andern Orte geſprochen wor-
den. (*)

Faſſen wir nun alles, was zum vollkommnen
Trauerſpiehl gehoͤrt, kurz zuſammen, ſo zeiget ſich,
daß folgende weſentliche Dinge dazu gehoͤren. Die
Handlung
muß ganz und vollſtaͤndig ſeyn von ernſt-
haftem Jnhalte, ein einziges wichtiges Jntereſſe
muß darin ſtatt haben und ſie muß eine einge-
ſchraͤnkte Groͤße haben: alles muß darin zuſammen
hangen, es muß nichts geſchehen, das den Haupt-
eindruk nicht vermehrt, nichts davon man den
Grund nicht einſieht. Alles muß wolgeſchloſſen,
ohne Mangel und ohne Ueberfluß ſeyn. Der Dich-
ter muß uns die Hauptperſon keinen Augenblik ent-
ziehen, es muß nichts geſchehen, das die Handlung
unvollkommen macht. Die Verwiklungen muͤſſen
nicht zu kuͤnſtlich und die Aufloͤſungen nicht wieder-
natuͤrlich, nicht gewaltſam ſeyn. Die Sitten der
Perſonen muͤſſen groß und edel ſeyn, und in den
Charaktern eine hinlaͤngliche Mannigfaltigkeit ſeyn.
Die Leidenſchaften muͤſſen ſtark aber nicht uͤbertrie-
ben und den großen Sitten anſtaͤndig ſeyn.

Die Reden muͤſſen uͤberhaupt den Sitten und
den Leidenſchaften angemeſſen ſeyn. Es muß nichts
geſagt werden, was nicht zur Sache gehoͤrt, am
wenigſten etwas, das den Eindruk ſchwaͤcht, (ein
Fehler darin Shakespear oft verfaͤllt,) Ton und Aus-
druk, muͤſſen fuͤr jeden Charakter, und fuͤr jede Lei-
denſchaft beſonders abgepaßt ſeyn. Die Sitten-
pruͤche muͤſſen wichtig ſeyn, und ohne alle zubemer-
kende Veranſtaltung von ſelbſt aus der Empfindung
entſtehen.

Ueber den Urſprung des Trauerſpiehls iſt viel Fa-
belhaftes von den Alten geſchrieben, und von den
Neuern ohne Ueberlegung und bis zum Ekel wieder-
holt worden. Die gewoͤhnliche Erzaͤhlung, da man
ihren Anfang von des Thespis Karre macht, und
denn ſo, wie Horaz fortfaͤhrt, iſt die gewoͤhnlichſte,
aber gewiß fabelhaft. Der Menſch hat eine natuͤr-
liche Begierde Zeuge von großen und ernſthaften
Begebenheiten zu ſeyn, die Menſchen bey denſelben
handeln und leiden zu ſehen. Darin liegt der erſte
[Spaltenumbruch]

Tra
Keim vom Urſprung des Trauerſpiehls, das aus
eben dieſen Grund aͤlter, als die Comoͤdie ſcheint.

Aller Vermuthung nach, hat dieſes das tragiſche
Schauſpiehl bey mehrern Voͤlkern, ohne daß eines
die Sache von dem andern abgeſehen habe, veran-
laſſet. Man muß alſo eben nicht glauben, daß die
Griechen es erfunden haben. Aber ſehr alt ſcheinet
es bey ihnen zu ſeyn. Stanley fuͤhrt in ſeinen An-
merkungen uͤber den Aeſchylus eine Stelle aus einem
alten Scholiaſten an, welcher ſagt, daß zu des Ore-
ſtes
Zeiten ein gewiſſer Thomis zuerſt dramatiſche
Spiehle den Griechen ſehen laſſen, ὅς πϱῶτος ἐξεῦϱε
τϱαγῳδικὰς μελῳδίας. Suidas nimmt fuͤr aus-
gemacht an, daß Thespis der ſechszehnte in der Zeit-
folge geweſen ſey; fuͤr den erſten giebt er einen ge-
wiſſen Epigenes aus Sicyon an, der mehr als hun-
dert Jahr vor dem Thespis geſtorben.

Obgleich nach der gewoͤhnlichen Erzaͤhlung Aeſchy-
lus der erſte gute Trauerſpiehler geweſen, ſo nennt
Suidas Stuͤke, die den Phrynichus, einen beruͤhmten
Dichter zum Urheber haͤtten, und auch Euſebius
nennt andre vor jenen. Plato ſagt ausdruͤklich,
daß die Tragoͤdie lange vor Thespis im Gebrauch
geweſen (*). Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die
feyerliche Begraͤbnis großer Helden das Trauerſpiehl
veranlaſſet haben, da die vornehmſten Thaten des
Verſtorbenen dabey vorgeſtellt worden. Wir fin-
den, daß verſchiedene Dichter bey dem Grabe des
Theſeus um den tragiſchen Preis geſtritten haben.
Dieſe Art des Wettſtreites hat ſich lang unter den
Griechen erhalten. Artemiſia hat bey dem Be-
graͤbnis ihres Gemahls Mauſolus Wettſtreite zu ſei-
nem Lobe halten laſſen, die vermuthlich aus Tragoͤ-
dien beſtanden haben; denn A. Gellius (*) ſagt, daß
noch zu ſeiner Zeit eine Tragoͤdie, Mauſolus, von
dem Theodektes, der einer der Streiter war, vor-
handen geweſen ſey. Es herrſcht alſo in der Ge-
ſchichte dieſes Gedichts große Ungewißheit. Und wie
ſoll man folgende Stelle des Ariſtoteles verſtehen?
„Dieſer (Ariſtarchus) war ein Zeitverwandter des
Euripides, welcher zuerſt dem Drama, die izige
Form gegeben. “ (†) Doch ſtimmen die Nachrichten
und Muthmaaßungen darin uͤberein, daß die Ge-
ſaͤnge des Chors, ſo wie im Trauerſpiehl, alſo auch
in andern Gattungen des Drama urſpruͤnglich der
weſentlichſte Theil deſſelben geweſen. Deswegen

wurd
(*) Ariſt.
Problem.
XXVII.
(*) S.
Vortrag.
(*) S.
Plat. Al-
cib. II.
ge-
gen das
Ende.
(*) L. X.
c.
17.
(†) Οὗτες δε᾽ Αϱίςαϱχος σύγχϱονὁς ἦν Εὔϱιπίδῃ, ὄς πϱῶ-
[Spaltenumbruch] τος ἔις τὸ νῦν μη῀ηος τα δρ[ᾶ]ματμ κατίςησ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]ν.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0607" n="1178[1160]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Tra</hi></fw><lb/>
go&#x0364;die aber wurde &#x017F;o wie un&#x017F;re Oper durchaus in<lb/>
Mu&#x017F;ik ge&#x017F;ezt. Die&#x017F;es erhellet deutlich aus einer<lb/>
Frage die Ari&#x017F;toteles in &#x017F;einen Aufgaben auf-<lb/>
wirft <note place="foot" n="(*)"><hi rendition="#aq">Ari&#x017F;t.<lb/>
Problem.<lb/>
XXVII.</hi></note>. Was aber die Declamation betrift,<lb/>
davon i&#x017F;t an einem andern Orte ge&#x017F;prochen wor-<lb/>
den. <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Vortrag.</note></p><lb/>
          <p>Fa&#x017F;&#x017F;en wir nun alles, was zum vollkommnen<lb/>
Trauer&#x017F;piehl geho&#x0364;rt, kurz zu&#x017F;ammen, &#x017F;o zeiget &#x017F;ich,<lb/>
daß folgende we&#x017F;entliche Dinge dazu geho&#x0364;ren. <hi rendition="#fr">Die<lb/>
Handlung</hi> muß ganz und voll&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;eyn von ern&#x017F;t-<lb/>
haftem Jnhalte, ein einziges wichtiges Jntere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
muß darin &#x017F;tatt haben und &#x017F;ie muß eine einge-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkte Gro&#x0364;ße haben: alles muß darin zu&#x017F;ammen<lb/>
hangen, es muß nichts ge&#x017F;chehen, das den Haupt-<lb/>
eindruk nicht vermehrt, nichts davon man den<lb/>
Grund nicht ein&#x017F;ieht. Alles muß wolge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
ohne Mangel und ohne Ueberfluß &#x017F;eyn. Der Dich-<lb/>
ter muß uns die Hauptper&#x017F;on keinen Augenblik ent-<lb/>
ziehen, es muß nichts ge&#x017F;chehen, das die Handlung<lb/>
unvollkommen macht. Die Verwiklungen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
nicht zu ku&#x0364;n&#x017F;tlich und die Auflo&#x0364;&#x017F;ungen nicht wieder-<lb/>
natu&#x0364;rlich, nicht gewalt&#x017F;am &#x017F;eyn. Die Sitten der<lb/>
Per&#x017F;onen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en groß und edel &#x017F;eyn, und in den<lb/>
Charaktern eine hinla&#x0364;ngliche Mannigfaltigkeit &#x017F;eyn.<lb/>
Die Leiden&#x017F;chaften mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;tark aber nicht u&#x0364;bertrie-<lb/>
ben und den großen Sitten an&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Die Reden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en u&#x0364;berhaupt den Sitten und<lb/>
den Leiden&#x017F;chaften angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn. Es muß nichts<lb/>
ge&#x017F;agt werden, was nicht zur Sache geho&#x0364;rt, am<lb/>
wenig&#x017F;ten etwas, das den Eindruk &#x017F;chwa&#x0364;cht, (ein<lb/>
Fehler darin Shakespear oft verfa&#x0364;llt,) Ton und Aus-<lb/>
druk, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en fu&#x0364;r jeden Charakter, und fu&#x0364;r jede Lei-<lb/>
den&#x017F;chaft be&#x017F;onders abgepaßt &#x017F;eyn. Die Sitten-<lb/>
pru&#x0364;che mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wichtig &#x017F;eyn, und ohne alle zubemer-<lb/>
kende Veran&#x017F;taltung von &#x017F;elb&#x017F;t aus der Empfindung<lb/>
ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <p>Ueber den Ur&#x017F;prung des Trauer&#x017F;piehls i&#x017F;t viel Fa-<lb/>
belhaftes von den Alten ge&#x017F;chrieben, und von den<lb/>
Neuern ohne Ueberlegung und bis zum Ekel wieder-<lb/>
holt worden. Die gewo&#x0364;hnliche Erza&#x0364;hlung, da man<lb/>
ihren Anfang von des <hi rendition="#fr">Thespis Karre</hi> macht, und<lb/>
denn &#x017F;o, wie <hi rendition="#fr">Horaz</hi> fortfa&#x0364;hrt, i&#x017F;t die gewo&#x0364;hnlich&#x017F;te,<lb/>
aber gewiß fabelhaft. Der Men&#x017F;ch hat eine natu&#x0364;r-<lb/>
liche Begierde Zeuge von großen und ern&#x017F;thaften<lb/>
Begebenheiten zu &#x017F;eyn, die Men&#x017F;chen bey den&#x017F;elben<lb/>
handeln und leiden zu &#x017F;ehen. Darin liegt der er&#x017F;te<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Tra</hi></fw><lb/>
Keim vom Ur&#x017F;prung des Trauer&#x017F;piehls, das aus<lb/>
eben die&#x017F;en Grund a&#x0364;lter, als die Como&#x0364;die &#x017F;cheint.</p><lb/>
          <p>Aller Vermuthung nach, hat die&#x017F;es das tragi&#x017F;che<lb/>
Schau&#x017F;piehl bey mehrern Vo&#x0364;lkern, ohne daß eines<lb/>
die Sache von dem andern abge&#x017F;ehen habe, veran-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;et. Man muß al&#x017F;o eben nicht glauben, daß die<lb/>
Griechen es erfunden haben. Aber &#x017F;ehr alt &#x017F;cheinet<lb/>
es bey ihnen zu &#x017F;eyn. <hi rendition="#fr">Stanley</hi> fu&#x0364;hrt in &#x017F;einen An-<lb/>
merkungen u&#x0364;ber den <hi rendition="#fr">Ae&#x017F;chylus</hi> eine Stelle aus einem<lb/>
alten Scholia&#x017F;ten an, welcher &#x017F;agt, daß zu des <hi rendition="#fr">Ore-<lb/>
&#x017F;tes</hi> Zeiten ein gewi&#x017F;&#x017F;er <hi rendition="#fr">Thomis</hi> zuer&#x017F;t dramati&#x017F;che<lb/>
Spiehle den Griechen &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en, &#x1F45;&#x03C2; &#x03C0;&#x03F1;&#x1FF6;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F10;&#x03BE;&#x03B5;&#x1FE6;&#x03F1;&#x03B5;<lb/>
&#x03C4;&#x03F1;&#x03B1;&#x03B3;&#x1FF3;&#x03B4;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F70;&#x03C2; &#x03BC;&#x03B5;&#x03BB;&#x1FF3;&#x03B4;&#x03AF;&#x03B1;&#x03C2;. <hi rendition="#fr">Suidas</hi> nimmt fu&#x0364;r aus-<lb/>
gemacht an, daß <hi rendition="#fr">Thespis</hi> der &#x017F;echszehnte in der Zeit-<lb/>
folge gewe&#x017F;en &#x017F;ey; fu&#x0364;r den er&#x017F;ten giebt er einen ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#fr">Epigenes</hi> aus <hi rendition="#fr">Sicyon</hi> an, der mehr als hun-<lb/>
dert Jahr vor dem Thespis ge&#x017F;torben.</p><lb/>
          <p>Obgleich nach der gewo&#x0364;hnlichen Erza&#x0364;hlung Ae&#x017F;chy-<lb/>
lus der er&#x017F;te gute Trauer&#x017F;piehler gewe&#x017F;en, &#x017F;o nennt<lb/><hi rendition="#fr">Suidas</hi> Stu&#x0364;ke, die den <hi rendition="#fr">Phrynichus,</hi> einen beru&#x0364;hmten<lb/>
Dichter zum Urheber ha&#x0364;tten, und auch <hi rendition="#fr">Eu&#x017F;ebius</hi><lb/>
nennt andre vor jenen. <hi rendition="#fr">Plato</hi> &#x017F;agt ausdru&#x0364;klich,<lb/>
daß die Trago&#x0364;die lange vor <hi rendition="#fr">Thespis</hi> im Gebrauch<lb/>
gewe&#x017F;en <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Plat. <hi rendition="#aq">Al-<lb/>
cib. II.</hi> ge-<lb/>
gen das<lb/>
Ende.</note>. Es i&#x017F;t nicht unwahr&#x017F;cheinlich, daß die<lb/>
feyerliche Begra&#x0364;bnis großer Helden das Trauer&#x017F;piehl<lb/>
veranla&#x017F;&#x017F;et haben, da die vornehm&#x017F;ten Thaten des<lb/>
Ver&#x017F;torbenen dabey vorge&#x017F;tellt worden. Wir fin-<lb/>
den, daß ver&#x017F;chiedene Dichter bey dem Grabe des<lb/><hi rendition="#fr">The&#x017F;eus</hi> um den tragi&#x017F;chen Preis ge&#x017F;tritten haben.<lb/>
Die&#x017F;e Art des Wett&#x017F;treites hat &#x017F;ich lang unter den<lb/>
Griechen erhalten. Artemi&#x017F;ia hat bey dem Be-<lb/>
gra&#x0364;bnis ihres Gemahls Mau&#x017F;olus Wett&#x017F;treite zu &#x017F;ei-<lb/>
nem Lobe halten la&#x017F;&#x017F;en, die vermuthlich aus Trago&#x0364;-<lb/>
dien be&#x017F;tanden haben; denn <hi rendition="#aq">A. Gellius</hi> <note place="foot" n="(*)"><hi rendition="#aq">L. X.<lb/>
c.</hi> 17.</note> &#x017F;agt, daß<lb/>
noch zu &#x017F;einer Zeit eine Trago&#x0364;die, <hi rendition="#fr">Mau&#x017F;olus,</hi> von<lb/>
dem Theodektes, der einer der Streiter war, vor-<lb/>
handen gewe&#x017F;en &#x017F;ey. Es herr&#x017F;cht al&#x017F;o in der Ge-<lb/>
&#x017F;chichte die&#x017F;es Gedichts große Ungewißheit. Und wie<lb/>
&#x017F;oll man folgende Stelle des <hi rendition="#fr">Ari&#x017F;toteles</hi> ver&#x017F;tehen?<lb/>
&#x201E;Die&#x017F;er (Ari&#x017F;tarchus) war ein Zeitverwandter des<lb/>
Euripides, welcher zuer&#x017F;t dem Drama, die izige<lb/>
Form gegeben. &#x201C; <note place="foot" n="(&#x2020;)">&#x039F;&#x1F57;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B5;&#x1FBD; &#x0391;&#x03F1;&#x03AF;&#x03C2;&#x03B1;&#x03F1;&#x03C7;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C3;&#x03CD;&#x03B3;&#x03C7;&#x03F1;&#x03BF;&#x03BD;&#x1F41;&#x03C2; &#x1F26;&#x03BD; &#x0395;&#x1F54;&#x03F1;&#x03B9;&#x03C0;&#x03AF;&#x03B4;&#x1FC3;, &#x1F44;&#x03C2; &#x03C0;&#x03F1;&#x1FF6;-<lb/><cb/>
&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F14;&#x03B9;&#x03C2; &#x03C4;&#x1F78; &#x03BD;&#x1FE6;&#x03BD; &#x03BC;&#x03B7;&#x1FC0;&#x03B7;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C4;&#x03B1; &#x03B4;&#x03C1;<supplied>&#x1FB6;</supplied>&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03BC; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x03AF;&#x03C2;&#x03B7;&#x03C3;<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>&#x03BD;.</note> Doch &#x017F;timmen die Nachrichten<lb/>
und Muthmaaßungen darin u&#x0364;berein, daß die Ge-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;nge des Chors, &#x017F;o wie im Trauer&#x017F;piehl, al&#x017F;o auch<lb/>
in andern Gattungen des Drama ur&#x017F;pru&#x0364;nglich der<lb/>
we&#x017F;entlich&#x017F;te Theil de&#x017F;&#x017F;elben gewe&#x017F;en. Deswegen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wurd</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1178[1160]/0607] Tra Tra goͤdie aber wurde ſo wie unſre Oper durchaus in Muſik geſezt. Dieſes erhellet deutlich aus einer Frage die Ariſtoteles in ſeinen Aufgaben auf- wirft (*). Was aber die Declamation betrift, davon iſt an einem andern Orte geſprochen wor- den. (*) Faſſen wir nun alles, was zum vollkommnen Trauerſpiehl gehoͤrt, kurz zuſammen, ſo zeiget ſich, daß folgende weſentliche Dinge dazu gehoͤren. Die Handlung muß ganz und vollſtaͤndig ſeyn von ernſt- haftem Jnhalte, ein einziges wichtiges Jntereſſe muß darin ſtatt haben und ſie muß eine einge- ſchraͤnkte Groͤße haben: alles muß darin zuſammen hangen, es muß nichts geſchehen, das den Haupt- eindruk nicht vermehrt, nichts davon man den Grund nicht einſieht. Alles muß wolgeſchloſſen, ohne Mangel und ohne Ueberfluß ſeyn. Der Dich- ter muß uns die Hauptperſon keinen Augenblik ent- ziehen, es muß nichts geſchehen, das die Handlung unvollkommen macht. Die Verwiklungen muͤſſen nicht zu kuͤnſtlich und die Aufloͤſungen nicht wieder- natuͤrlich, nicht gewaltſam ſeyn. Die Sitten der Perſonen muͤſſen groß und edel ſeyn, und in den Charaktern eine hinlaͤngliche Mannigfaltigkeit ſeyn. Die Leidenſchaften muͤſſen ſtark aber nicht uͤbertrie- ben und den großen Sitten anſtaͤndig ſeyn. Die Reden muͤſſen uͤberhaupt den Sitten und den Leidenſchaften angemeſſen ſeyn. Es muß nichts geſagt werden, was nicht zur Sache gehoͤrt, am wenigſten etwas, das den Eindruk ſchwaͤcht, (ein Fehler darin Shakespear oft verfaͤllt,) Ton und Aus- druk, muͤſſen fuͤr jeden Charakter, und fuͤr jede Lei- denſchaft beſonders abgepaßt ſeyn. Die Sitten- pruͤche muͤſſen wichtig ſeyn, und ohne alle zubemer- kende Veranſtaltung von ſelbſt aus der Empfindung entſtehen. Ueber den Urſprung des Trauerſpiehls iſt viel Fa- belhaftes von den Alten geſchrieben, und von den Neuern ohne Ueberlegung und bis zum Ekel wieder- holt worden. Die gewoͤhnliche Erzaͤhlung, da man ihren Anfang von des Thespis Karre macht, und denn ſo, wie Horaz fortfaͤhrt, iſt die gewoͤhnlichſte, aber gewiß fabelhaft. Der Menſch hat eine natuͤr- liche Begierde Zeuge von großen und ernſthaften Begebenheiten zu ſeyn, die Menſchen bey denſelben handeln und leiden zu ſehen. Darin liegt der erſte Keim vom Urſprung des Trauerſpiehls, das aus eben dieſen Grund aͤlter, als die Comoͤdie ſcheint. Aller Vermuthung nach, hat dieſes das tragiſche Schauſpiehl bey mehrern Voͤlkern, ohne daß eines die Sache von dem andern abgeſehen habe, veran- laſſet. Man muß alſo eben nicht glauben, daß die Griechen es erfunden haben. Aber ſehr alt ſcheinet es bey ihnen zu ſeyn. Stanley fuͤhrt in ſeinen An- merkungen uͤber den Aeſchylus eine Stelle aus einem alten Scholiaſten an, welcher ſagt, daß zu des Ore- ſtes Zeiten ein gewiſſer Thomis zuerſt dramatiſche Spiehle den Griechen ſehen laſſen, ὅς πϱῶτος ἐξεῦϱε τϱαγῳδικὰς μελῳδίας. Suidas nimmt fuͤr aus- gemacht an, daß Thespis der ſechszehnte in der Zeit- folge geweſen ſey; fuͤr den erſten giebt er einen ge- wiſſen Epigenes aus Sicyon an, der mehr als hun- dert Jahr vor dem Thespis geſtorben. Obgleich nach der gewoͤhnlichen Erzaͤhlung Aeſchy- lus der erſte gute Trauerſpiehler geweſen, ſo nennt Suidas Stuͤke, die den Phrynichus, einen beruͤhmten Dichter zum Urheber haͤtten, und auch Euſebius nennt andre vor jenen. Plato ſagt ausdruͤklich, daß die Tragoͤdie lange vor Thespis im Gebrauch geweſen (*). Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die feyerliche Begraͤbnis großer Helden das Trauerſpiehl veranlaſſet haben, da die vornehmſten Thaten des Verſtorbenen dabey vorgeſtellt worden. Wir fin- den, daß verſchiedene Dichter bey dem Grabe des Theſeus um den tragiſchen Preis geſtritten haben. Dieſe Art des Wettſtreites hat ſich lang unter den Griechen erhalten. Artemiſia hat bey dem Be- graͤbnis ihres Gemahls Mauſolus Wettſtreite zu ſei- nem Lobe halten laſſen, die vermuthlich aus Tragoͤ- dien beſtanden haben; denn A. Gellius (*) ſagt, daß noch zu ſeiner Zeit eine Tragoͤdie, Mauſolus, von dem Theodektes, der einer der Streiter war, vor- handen geweſen ſey. Es herrſcht alſo in der Ge- ſchichte dieſes Gedichts große Ungewißheit. Und wie ſoll man folgende Stelle des Ariſtoteles verſtehen? „Dieſer (Ariſtarchus) war ein Zeitverwandter des Euripides, welcher zuerſt dem Drama, die izige Form gegeben. “ (†) Doch ſtimmen die Nachrichten und Muthmaaßungen darin uͤberein, daß die Ge- ſaͤnge des Chors, ſo wie im Trauerſpiehl, alſo auch in andern Gattungen des Drama urſpruͤnglich der weſentlichſte Theil deſſelben geweſen. Deswegen wurd (*) Ariſt. Problem. XXVII. (*) S. Vortrag. (*) S. Plat. Al- cib. II. ge- gen das Ende. (*) L. X. c. 17. (†) Οὗτες δε᾽ Αϱίςαϱχος σύγχϱονὁς ἦν Εὔϱιπίδῃ, ὄς πϱῶ- τος ἔις τὸ νῦν μη῀ηος τα δρᾶματμ κατίςησ_ν.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/607
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1178[1160]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/607>, abgerufen am 24.11.2024.