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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Syl
die Verse haben ein jambisches, oder trochäisches,
oder ein nach einem andern herrschenden Fuß be-
nenntes Sylbenmaaß. Jn diesem Sinne wird es
ofte mit dem Worte Versart verwechselt, denn man
sagt bisweilen auch eine jambische, trochäische u. d.
gl. Versart. Man dähnet die Bedeutung biswei-
len so weit aus, daß man die ganze metrische Be-
schaffenheit des Gedichts durch das Wort Sylben-
maaß ausdrükt. Diese Bedeutung hat es, wenn
man vom elegischen, heroischen, dramatischen und
lyrischen Sylbenmaaße spricht.

Wir schränken hier die Bedeutung blos auf die
Beschaffenheit der Füße des Verses, ohne Rüksicht
auf seine Länge und andre Eigenschaften ein, und
schreiben allen Versen einerley Sylbenmaaß zu,
wenn die Beschaffenheit ihrer Füße einerley ist, wie
verschieden sie sonst in ihrer Länge seyen. Nach die-
ser Bedeutung sagen wir also die Alpen, die Saty-
ren und die meisten Oden von Haller haben dasselbe
Sylbenmaaß; in so fern nämlich die Füße der Verse
durchgehends Jamben sind.

Das Sylbenmaaß nennen wir gleichartig, wenn
der Vers aus gleichen Füßen, als Jamben, Tro-
chäen
u. s. f. besteht, ungleichartig, wenn mehrere
Füße, als Spondäen, Daktylen u. a. in demselben
Vers zusammenkommen. So viel sey von der Be-
deutung des Worts gesagt.

Unsre deutsche Dichter voriger Zeit, das ist, die,
welche vor dem vierzigsten Jahr dieses laufenden
Jahrhunderts geschrieben haben, waren gewohnt
meistentheils in gleichartigem Sylbenmaaß zu dich-
ten, und zwar vornehmlich in dem jambischen und
trochäischen, welchem sie aber bisweilen einen Spon-
däus mit einmischten. Zum lyrischen Gedichte wähl-
ten sie kürzere jambische oder trochäische; zum Erzäh-
lenden und Lehrenden aber längere, und blos jambi-
sche Verse. Die lyrischen Strophen aber sezten sie
bisweilen aus Versen von verschiedenem Sylbenmaaße
zusammen. Aber von Versen von ungleichartigem
Sylbenmaaße wußten sie wenig, und glaubten ver-
muthlich, daß unsre Sprache sich dazu nicht schike.

Da sie in der lyrischen Art weit mehr Lieder, als
Oden dichteten, so war es in der That auch schiklich
bey gleichartigem Sylbenmaaße zu bleiben. Denn
es scheinet, daß die durchaus gleichartige Empfin-
dung, die zum Charakter des Liedes gehöret (*)
auch ein solches Sylbenmaaß erfodere. Nur in
den Liedern von solchen Doppelstrophen, da immer
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Syl
der zweyte Theil der Strophe der Empfindung eine
veränderte Wendung gäbe, könnt' es schiklich seyn,
jeder Hälfte der Strophe ihr eigenes Sylbenmaaß zu
geben. Doch wär dieses auch nicht allemal nöthig;
weil bisweilen blos die veränderte Länge des Verses
dazu hinlänglich seyn könnte.

Es ist schon anderswo erinnert worden (*), wenn
unsre Dichter angefangen haben ungleichartige Syl-
benmaaße in dem Lyrischen und andern Versen zu
versuchen. Es ist wahrscheinlich, daß die nähere
Betrachtung der besondern Beschaffenheit der Ode
diese Veränderung veranlasset habe. Man machte
lyrische Verse, in denen mehrere Arten der Füße
abwechselten, da in einem Vers bald ein Spondäus,
bald ein Daktylus, bald ein Jambus oder Tro-
chäus vorkam, und dieses ungleichartige Sylben-
maaß, wurd' auch in den zu einer Strophe gehöri-
gen Versen abgeändert, da man vorher den Stro-
phen nur durch die verschiedene Länge der Verse
die Abänderung verschaft hatte. Nachdem die ersten
Versuche von Pyra, Langen, Ramlern und einigen
Verfassern der bremischen Beyträge Beyfall gefun-
den, wurden allmählig alle Arten des griechischen
Sylbenmaaßes von unsern lyrischen Dichtern ver-
sucht. Aber Klopstok und Ramler sind darin am
glüklichsten gewesen. Dem erstern haben wir auch
den Hexameter zu danken. Dem Tonsezer machen
zwar diese Sylbenmaaße sehr viel mehr zu schaffen,
um seinem Gesang dazu alle rhythmische Voll-
kommenheit zu geben, als da er blos Lieder von
gleichartigem Sylbenmaaße in Musik zu sezen hatte.
Doch wissen sich gute Tonsezer auch aus diesen
Schwierigkeiten herauszuziehen.

Das ungleichartige Sylbenmaaß hat seiner Na-
tur nach mehr Mannigfaltigkeit, als das gleichar-
tige; es gehört aber auch ein feineres und geübte-
res Ohr dazu, die Annehmlichkeiten desselben zu
fühlen, als zu unsern alten gewöhnlichen Sylben-
maaßen. Darum würden wir immer noch rathen
solche Gedichte, die auch für Unwissende, völlig un-
geübte Leser bestimmt sind, nach unsern ehemaligen
Sylbenmaaßen einzurichten. Herr Schlegel hat
unsers Erachtens wol bewiesen, daß einerley Syl-
benmaaß dennoch gar verschiedene Charakter des To-
nes, vom Sanften und Zärtlichen bis zum Starken
und Fürchterlichen annehmen könne. (*) Man muß
sich darum auch nicht einbilden, daß das trochäi-
sche, oder jambische, oder ein anderes Sylben-

maaß
(*) S. Lied.
(*) S.
Lyrisch.
(*) Jn s.
Abhandl.
von der
Harmonie
des Verses.

[Spaltenumbruch]

Syl
die Verſe haben ein jambiſches, oder trochaͤiſches,
oder ein nach einem andern herrſchenden Fuß be-
nenntes Sylbenmaaß. Jn dieſem Sinne wird es
ofte mit dem Worte Versart verwechſelt, denn man
ſagt bisweilen auch eine jambiſche, trochaͤiſche u. d.
gl. Versart. Man daͤhnet die Bedeutung biswei-
len ſo weit aus, daß man die ganze metriſche Be-
ſchaffenheit des Gedichts durch das Wort Sylben-
maaß ausdruͤkt. Dieſe Bedeutung hat es, wenn
man vom elegiſchen, heroiſchen, dramatiſchen und
lyriſchen Sylbenmaaße ſpricht.

Wir ſchraͤnken hier die Bedeutung blos auf die
Beſchaffenheit der Fuͤße des Verſes, ohne Ruͤkſicht
auf ſeine Laͤnge und andre Eigenſchaften ein, und
ſchreiben allen Verſen einerley Sylbenmaaß zu,
wenn die Beſchaffenheit ihrer Fuͤße einerley iſt, wie
verſchieden ſie ſonſt in ihrer Laͤnge ſeyen. Nach die-
ſer Bedeutung ſagen wir alſo die Alpen, die Saty-
ren und die meiſten Oden von Haller haben daſſelbe
Sylbenmaaß; in ſo fern naͤmlich die Fuͤße der Verſe
durchgehends Jamben ſind.

Das Sylbenmaaß nennen wir gleichartig, wenn
der Vers aus gleichen Fuͤßen, als Jamben, Tro-
chaͤen
u. ſ. f. beſteht, ungleichartig, wenn mehrere
Fuͤße, als Spondaͤen, Daktylen u. a. in demſelben
Vers zuſammenkommen. So viel ſey von der Be-
deutung des Worts geſagt.

Unſre deutſche Dichter voriger Zeit, das iſt, die,
welche vor dem vierzigſten Jahr dieſes laufenden
Jahrhunderts geſchrieben haben, waren gewohnt
meiſtentheils in gleichartigem Sylbenmaaß zu dich-
ten, und zwar vornehmlich in dem jambiſchen und
trochaͤiſchen, welchem ſie aber bisweilen einen Spon-
daͤus mit einmiſchten. Zum lyriſchen Gedichte waͤhl-
ten ſie kuͤrzere jambiſche oder trochaͤiſche; zum Erzaͤh-
lenden und Lehrenden aber laͤngere, und blos jambi-
ſche Verſe. Die lyriſchen Strophen aber ſezten ſie
bisweilen aus Verſen von verſchiedenem Sylbenmaaße
zuſammen. Aber von Verſen von ungleichartigem
Sylbenmaaße wußten ſie wenig, und glaubten ver-
muthlich, daß unſre Sprache ſich dazu nicht ſchike.

Da ſie in der lyriſchen Art weit mehr Lieder, als
Oden dichteten, ſo war es in der That auch ſchiklich
bey gleichartigem Sylbenmaaße zu bleiben. Denn
es ſcheinet, daß die durchaus gleichartige Empfin-
dung, die zum Charakter des Liedes gehoͤret (*)
auch ein ſolches Sylbenmaaß erfodere. Nur in
den Liedern von ſolchen Doppelſtrophen, da immer
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Syl
der zweyte Theil der Strophe der Empfindung eine
veraͤnderte Wendung gaͤbe, koͤnnt’ es ſchiklich ſeyn,
jeder Haͤlfte der Strophe ihr eigenes Sylbenmaaß zu
geben. Doch waͤr dieſes auch nicht allemal noͤthig;
weil bisweilen blos die veraͤnderte Laͤnge des Verſes
dazu hinlaͤnglich ſeyn koͤnnte.

Es iſt ſchon anderswo erinnert worden (*), wenn
unſre Dichter angefangen haben ungleichartige Syl-
benmaaße in dem Lyriſchen und andern Verſen zu
verſuchen. Es iſt wahrſcheinlich, daß die naͤhere
Betrachtung der beſondern Beſchaffenheit der Ode
dieſe Veraͤnderung veranlaſſet habe. Man machte
lyriſche Verſe, in denen mehrere Arten der Fuͤße
abwechſelten, da in einem Vers bald ein Spondaͤus,
bald ein Daktylus, bald ein Jambus oder Tro-
chaͤus vorkam, und dieſes ungleichartige Sylben-
maaß, wurd’ auch in den zu einer Strophe gehoͤri-
gen Verſen abgeaͤndert, da man vorher den Stro-
phen nur durch die verſchiedene Laͤnge der Verſe
die Abaͤnderung verſchaft hatte. Nachdem die erſten
Verſuche von Pyra, Langen, Ramlern und einigen
Verfaſſern der bremiſchen Beytraͤge Beyfall gefun-
den, wurden allmaͤhlig alle Arten des griechiſchen
Sylbenmaaßes von unſern lyriſchen Dichtern ver-
ſucht. Aber Klopſtok und Ramler ſind darin am
gluͤklichſten geweſen. Dem erſtern haben wir auch
den Hexameter zu danken. Dem Tonſezer machen
zwar dieſe Sylbenmaaße ſehr viel mehr zu ſchaffen,
um ſeinem Geſang dazu alle rhythmiſche Voll-
kommenheit zu geben, als da er blos Lieder von
gleichartigem Sylbenmaaße in Muſik zu ſezen hatte.
Doch wiſſen ſich gute Tonſezer auch aus dieſen
Schwierigkeiten herauszuziehen.

Das ungleichartige Sylbenmaaß hat ſeiner Na-
tur nach mehr Mannigfaltigkeit, als das gleichar-
tige; es gehoͤrt aber auch ein feineres und geuͤbte-
res Ohr dazu, die Annehmlichkeiten deſſelben zu
fuͤhlen, als zu unſern alten gewoͤhnlichen Sylben-
maaßen. Darum wuͤrden wir immer noch rathen
ſolche Gedichte, die auch fuͤr Unwiſſende, voͤllig un-
geuͤbte Leſer beſtimmt ſind, nach unſern ehemaligen
Sylbenmaaßen einzurichten. Herr Schlegel hat
unſers Erachtens wol bewieſen, daß einerley Syl-
benmaaß dennoch gar verſchiedene Charakter des To-
nes, vom Sanften und Zaͤrtlichen bis zum Starken
und Fuͤrchterlichen annehmen koͤnne. (*) Man muß
ſich darum auch nicht einbilden, daß das trochaͤi-
ſche, oder jambiſche, oder ein anderes Sylben-

maaß
(*) S. Lied.
(*) S.
Lyriſch.
(*) Jn ſ.
Abhandl.
von der
Harmonie
des Verſes.
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[1120[1102]/0549] Syl Syl die Verſe haben ein jambiſches, oder trochaͤiſches, oder ein nach einem andern herrſchenden Fuß be- nenntes Sylbenmaaß. Jn dieſem Sinne wird es ofte mit dem Worte Versart verwechſelt, denn man ſagt bisweilen auch eine jambiſche, trochaͤiſche u. d. gl. Versart. Man daͤhnet die Bedeutung biswei- len ſo weit aus, daß man die ganze metriſche Be- ſchaffenheit des Gedichts durch das Wort Sylben- maaß ausdruͤkt. Dieſe Bedeutung hat es, wenn man vom elegiſchen, heroiſchen, dramatiſchen und lyriſchen Sylbenmaaße ſpricht. Wir ſchraͤnken hier die Bedeutung blos auf die Beſchaffenheit der Fuͤße des Verſes, ohne Ruͤkſicht auf ſeine Laͤnge und andre Eigenſchaften ein, und ſchreiben allen Verſen einerley Sylbenmaaß zu, wenn die Beſchaffenheit ihrer Fuͤße einerley iſt, wie verſchieden ſie ſonſt in ihrer Laͤnge ſeyen. Nach die- ſer Bedeutung ſagen wir alſo die Alpen, die Saty- ren und die meiſten Oden von Haller haben daſſelbe Sylbenmaaß; in ſo fern naͤmlich die Fuͤße der Verſe durchgehends Jamben ſind. Das Sylbenmaaß nennen wir gleichartig, wenn der Vers aus gleichen Fuͤßen, als Jamben, Tro- chaͤen u. ſ. f. beſteht, ungleichartig, wenn mehrere Fuͤße, als Spondaͤen, Daktylen u. a. in demſelben Vers zuſammenkommen. So viel ſey von der Be- deutung des Worts geſagt. Unſre deutſche Dichter voriger Zeit, das iſt, die, welche vor dem vierzigſten Jahr dieſes laufenden Jahrhunderts geſchrieben haben, waren gewohnt meiſtentheils in gleichartigem Sylbenmaaß zu dich- ten, und zwar vornehmlich in dem jambiſchen und trochaͤiſchen, welchem ſie aber bisweilen einen Spon- daͤus mit einmiſchten. Zum lyriſchen Gedichte waͤhl- ten ſie kuͤrzere jambiſche oder trochaͤiſche; zum Erzaͤh- lenden und Lehrenden aber laͤngere, und blos jambi- ſche Verſe. Die lyriſchen Strophen aber ſezten ſie bisweilen aus Verſen von verſchiedenem Sylbenmaaße zuſammen. Aber von Verſen von ungleichartigem Sylbenmaaße wußten ſie wenig, und glaubten ver- muthlich, daß unſre Sprache ſich dazu nicht ſchike. Da ſie in der lyriſchen Art weit mehr Lieder, als Oden dichteten, ſo war es in der That auch ſchiklich bey gleichartigem Sylbenmaaße zu bleiben. Denn es ſcheinet, daß die durchaus gleichartige Empfin- dung, die zum Charakter des Liedes gehoͤret (*) auch ein ſolches Sylbenmaaß erfodere. Nur in den Liedern von ſolchen Doppelſtrophen, da immer der zweyte Theil der Strophe der Empfindung eine veraͤnderte Wendung gaͤbe, koͤnnt’ es ſchiklich ſeyn, jeder Haͤlfte der Strophe ihr eigenes Sylbenmaaß zu geben. Doch waͤr dieſes auch nicht allemal noͤthig; weil bisweilen blos die veraͤnderte Laͤnge des Verſes dazu hinlaͤnglich ſeyn koͤnnte. Es iſt ſchon anderswo erinnert worden (*), wenn unſre Dichter angefangen haben ungleichartige Syl- benmaaße in dem Lyriſchen und andern Verſen zu verſuchen. Es iſt wahrſcheinlich, daß die naͤhere Betrachtung der beſondern Beſchaffenheit der Ode dieſe Veraͤnderung veranlaſſet habe. Man machte lyriſche Verſe, in denen mehrere Arten der Fuͤße abwechſelten, da in einem Vers bald ein Spondaͤus, bald ein Daktylus, bald ein Jambus oder Tro- chaͤus vorkam, und dieſes ungleichartige Sylben- maaß, wurd’ auch in den zu einer Strophe gehoͤri- gen Verſen abgeaͤndert, da man vorher den Stro- phen nur durch die verſchiedene Laͤnge der Verſe die Abaͤnderung verſchaft hatte. Nachdem die erſten Verſuche von Pyra, Langen, Ramlern und einigen Verfaſſern der bremiſchen Beytraͤge Beyfall gefun- den, wurden allmaͤhlig alle Arten des griechiſchen Sylbenmaaßes von unſern lyriſchen Dichtern ver- ſucht. Aber Klopſtok und Ramler ſind darin am gluͤklichſten geweſen. Dem erſtern haben wir auch den Hexameter zu danken. Dem Tonſezer machen zwar dieſe Sylbenmaaße ſehr viel mehr zu ſchaffen, um ſeinem Geſang dazu alle rhythmiſche Voll- kommenheit zu geben, als da er blos Lieder von gleichartigem Sylbenmaaße in Muſik zu ſezen hatte. Doch wiſſen ſich gute Tonſezer auch aus dieſen Schwierigkeiten herauszuziehen. Das ungleichartige Sylbenmaaß hat ſeiner Na- tur nach mehr Mannigfaltigkeit, als das gleichar- tige; es gehoͤrt aber auch ein feineres und geuͤbte- res Ohr dazu, die Annehmlichkeiten deſſelben zu fuͤhlen, als zu unſern alten gewoͤhnlichen Sylben- maaßen. Darum wuͤrden wir immer noch rathen ſolche Gedichte, die auch fuͤr Unwiſſende, voͤllig un- geuͤbte Leſer beſtimmt ſind, nach unſern ehemaligen Sylbenmaaßen einzurichten. Herr Schlegel hat unſers Erachtens wol bewieſen, daß einerley Syl- benmaaß dennoch gar verſchiedene Charakter des To- nes, vom Sanften und Zaͤrtlichen bis zum Starken und Fuͤrchterlichen annehmen koͤnne. (*) Man muß ſich darum auch nicht einbilden, daß das trochaͤi- ſche, oder jambiſche, oder ein anderes Sylben- maaß (*) S. Lied. (*) S. Lyriſch. (*) Jn ſ. Abhandl. von der Harmonie des Verſes.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1120[1102]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/549>, abgerufen am 17.05.2024.