Falle, die von dem Gesang der Vögel erfüllte Luft auszudrüken weiß, von dem allen aus den Werken der besten Mahler Beyspiehle anzuführen wären.
Ueberhaupt wird die Sinnlichkeit durch die voll- kommene Erreichung der Natur bey jeder Vorstel- lung ungemein vermehret. Das Gemähld ist nie sinnlicher, als wann man dabey vergißt, daß man einen gemahlten Gegenstand sieht, und die Natur selbst zu sehen glaubt; wenn man im Portrait an dem Bilde Leben und Athem zu empfinden glaubt; wenn man in epischen und dramatischen Reden den Dichter so völlig vergißt, daß man die Personen selbst zu hören glaubt.
Sitten. (Schöne Künste.)
Die Bedeutung des Worts ist etwas unbestimmt. Bisweilen begreift man unter dieser Benennung gar alles, was zum Charakter, der Gemüthsart und Handlungsweise eines Menschen, oder ganzer Völker gehöret, in so fern sie sich von andern unter- scheiden. Jn diesem Sinne scheinen Aristoteles in seiner Poetik, und Wolf in seiner allgemeinen prak- tischen Philosophie (+) die Wörter genommen zu haben, für die wir das Wort Sitten gebrauchen. Bisweilen aber scheinet man dadurch blos dasjenige zu verstehen, was dem Menschen in seinem Thun und Lassen zufälliger Weise zur Gewohnheit worden, in so fern es von dem, was andere in ähnlichen Fäl- len äußern, verschieden ist, so daß Menschen, die im Grund einerley Charakter haben, denselben durch verschiedene Sitten zeigen.
Wir verstehen hier durch Sitten gar alles zusam- mengenommen, was dem Menschen in Absicht auf sein Thun und Lassen gewöhnlich worden. Die Sit- ten beziehen sich nicht auf den denkenden, sondern auf den handelnden Menschen. Richtigkeit, oder Unrichtigkeit, Gründlichkeit, Scharfsinn u. d. gl. bezeichnen den Charakter des Menschen in so fern er denkt, und dieses rechnet man nicht zu den Sitten. Hingegen alles was er thut, in so fern es gut, oder bös, schiklich, oder unschiklich, rühmlich, oder ver- verwerflich ist, wird sittlich genennt. Also wird man durch die Sitten zum guten, oder schlechten, zum angenehmen, oder unangenehmen Menschen.
[Spaltenumbruch]
Sit
Für den sittlichen Menschen arbeiten die schönen Künste, da die Wissenschaften für den denkenden Menschen arbeiten. Diese haben den Unterricht, jene die Bildung der Sitten zum Zwek. Darum ist eine lebhafte Schilderung der Sitten eine vor- zügliche und unmittelbar nüzliche Arbeit des Künst- lers. Von allen Werken der Kunst aber schiken sich die Epopöe und das Drama vorzüglich zu solchen Schilderungen; weil sie nicht blos einzele Züge des sittlichen Charakters, sondern den ganzen Charakter selbst schildern können. Von dieser Schilderung ist hier eigentlich die Rede. Wir haben aber sehr viel von dem, was hieher gehöret, bereits in dem Arti- kel Charakter, näher betrachtet.
Jeder Dichter, der sich an die Epopöe, oder an das Drama waget, muß vornehmlich eine große Kenntnis der Sitten haben; weil die Schilderung derselben in diesen Dichtungsarten den Hauptstoff ausmacht. Dieses muß man allemal bey dem Dich- ter als etwas außer der Kunst liegendes voraus- sezen. Aber eigentlich zur Kunst gehört es die Sit- ten, deren Kenntnis man besizt, zu schildern, und sie auf eine gute Art zu behandeln.
Zur Schilderung der Sitten gehören die Hand- lungen, die man den Personen zuschreibt, und die Reden, die man ihnen in den Mund legt. Von den Reden haben wir in einem besondern Artikel ge- sprochen. (*) Die Schilderung der Handlungen ist eine der schweeresten Arbeiten der schönen Künste. Bey den Handlungen äußern sich so sehr viel kleine äußerliche und innere Umstände, wodurch sie genau bestimmt, und individuel werden, daß es eine höchst schweere Sach ist, sie vollkommen auszudrüken. Es gehört ausnehmende Scharfsinnigkeit dazu, davon gerade das, was die Handlung am genauesten be- stimmt, zu wählen, und einen Ausdruk dazu zu finden, der auch das, was sich nicht sagen läßt, oder zu weitschweiffend seyn würde, den Leser em- pfinden läßt. Auch hierin ist Homer unstreitig das größte Muster, und wer seine Kräfte hier- über versuchen will, därf nur seine Beschreibungen gegen die halten, die in der Jlias und Odyssee so häufig vorkommen.
Jn Ansehung der Behandlung der Sitten fodert Aristoteles, daß sie gut, geziehmend, wahrschein- lich und sich selbst durchaus gleich seyn sollen. Seine
Aus-
(+)[Spaltenumbruch] S. Philos. pract. Universal. T. II. Cap. de conjectan- [Spaltenumbruch]
dis hominum meribus.
(*) S. Reden.
[Spaltenumbruch]
Sit
Falle, die von dem Geſang der Voͤgel erfuͤllte Luft auszudruͤken weiß, von dem allen aus den Werken der beſten Mahler Beyſpiehle anzufuͤhren waͤren.
Ueberhaupt wird die Sinnlichkeit durch die voll- kommene Erreichung der Natur bey jeder Vorſtel- lung ungemein vermehret. Das Gemaͤhld iſt nie ſinnlicher, als wann man dabey vergißt, daß man einen gemahlten Gegenſtand ſieht, und die Natur ſelbſt zu ſehen glaubt; wenn man im Portrait an dem Bilde Leben und Athem zu empfinden glaubt; wenn man in epiſchen und dramatiſchen Reden den Dichter ſo voͤllig vergißt, daß man die Perſonen ſelbſt zu hoͤren glaubt.
Sitten. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Die Bedeutung des Worts iſt etwas unbeſtimmt. Bisweilen begreift man unter dieſer Benennung gar alles, was zum Charakter, der Gemuͤthsart und Handlungsweiſe eines Menſchen, oder ganzer Voͤlker gehoͤret, in ſo fern ſie ſich von andern unter- ſcheiden. Jn dieſem Sinne ſcheinen Ariſtoteles in ſeiner Poetik, und Wolf in ſeiner allgemeinen prak- tiſchen Philoſophie (†) die Woͤrter genommen zu haben, fuͤr die wir das Wort Sitten gebrauchen. Bisweilen aber ſcheinet man dadurch blos dasjenige zu verſtehen, was dem Menſchen in ſeinem Thun und Laſſen zufaͤlliger Weiſe zur Gewohnheit worden, in ſo fern es von dem, was andere in aͤhnlichen Faͤl- len aͤußern, verſchieden iſt, ſo daß Menſchen, die im Grund einerley Charakter haben, denſelben durch verſchiedene Sitten zeigen.
Wir verſtehen hier durch Sitten gar alles zuſam- mengenommen, was dem Menſchen in Abſicht auf ſein Thun und Laſſen gewoͤhnlich worden. Die Sit- ten beziehen ſich nicht auf den denkenden, ſondern auf den handelnden Menſchen. Richtigkeit, oder Unrichtigkeit, Gruͤndlichkeit, Scharfſinn u. d. gl. bezeichnen den Charakter des Menſchen in ſo fern er denkt, und dieſes rechnet man nicht zu den Sitten. Hingegen alles was er thut, in ſo fern es gut, oder boͤs, ſchiklich, oder unſchiklich, ruͤhmlich, oder ver- verwerflich iſt, wird ſittlich genennt. Alſo wird man durch die Sitten zum guten, oder ſchlechten, zum angenehmen, oder unangenehmen Menſchen.
[Spaltenumbruch]
Sit
Fuͤr den ſittlichen Menſchen arbeiten die ſchoͤnen Kuͤnſte, da die Wiſſenſchaften fuͤr den denkenden Menſchen arbeiten. Dieſe haben den Unterricht, jene die Bildung der Sitten zum Zwek. Darum iſt eine lebhafte Schilderung der Sitten eine vor- zuͤgliche und unmittelbar nuͤzliche Arbeit des Kuͤnſt- lers. Von allen Werken der Kunſt aber ſchiken ſich die Epopoͤe und das Drama vorzuͤglich zu ſolchen Schilderungen; weil ſie nicht blos einzele Zuͤge des ſittlichen Charakters, ſondern den ganzen Charakter ſelbſt ſchildern koͤnnen. Von dieſer Schilderung iſt hier eigentlich die Rede. Wir haben aber ſehr viel von dem, was hieher gehoͤret, bereits in dem Arti- kel Charakter, naͤher betrachtet.
Jeder Dichter, der ſich an die Epopoͤe, oder an das Drama waget, muß vornehmlich eine große Kenntnis der Sitten haben; weil die Schilderung derſelben in dieſen Dichtungsarten den Hauptſtoff ausmacht. Dieſes muß man allemal bey dem Dich- ter als etwas außer der Kunſt liegendes voraus- ſezen. Aber eigentlich zur Kunſt gehoͤrt es die Sit- ten, deren Kenntnis man beſizt, zu ſchildern, und ſie auf eine gute Art zu behandeln.
Zur Schilderung der Sitten gehoͤren die Hand- lungen, die man den Perſonen zuſchreibt, und die Reden, die man ihnen in den Mund legt. Von den Reden haben wir in einem beſondern Artikel ge- ſprochen. (*) Die Schilderung der Handlungen iſt eine der ſchweereſten Arbeiten der ſchoͤnen Kuͤnſte. Bey den Handlungen aͤußern ſich ſo ſehr viel kleine aͤußerliche und innere Umſtaͤnde, wodurch ſie genau beſtimmt, und individuel werden, daß es eine hoͤchſt ſchweere Sach iſt, ſie vollkommen auszudruͤken. Es gehoͤrt ausnehmende Scharfſinnigkeit dazu, davon gerade das, was die Handlung am genaueſten be- ſtimmt, zu waͤhlen, und einen Ausdruk dazu zu finden, der auch das, was ſich nicht ſagen laͤßt, oder zu weitſchweiffend ſeyn wuͤrde, den Leſer em- pfinden laͤßt. Auch hierin iſt Homer unſtreitig das groͤßte Muſter, und wer ſeine Kraͤfte hier- uͤber verſuchen will, daͤrf nur ſeine Beſchreibungen gegen die halten, die in der Jlias und Odyſſee ſo haͤufig vorkommen.
Jn Anſehung der Behandlung der Sitten fodert Ariſtoteles, daß ſie gut, geziehmend, wahrſchein- lich und ſich ſelbſt durchaus gleich ſeyn ſollen. Seine
Aus-
(†)[Spaltenumbruch] S. Philos. pract. Univerſal. T. II. Cap. de conjectan- [Spaltenumbruch]
dis hominum meribus.
(*) S. Reden.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0517"n="1088[1070]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Sit</hi></fw><lb/>
Falle, die von dem Geſang der Voͤgel erfuͤllte Luft<lb/>
auszudruͤken weiß, von dem allen aus den Werken<lb/>
der beſten Mahler Beyſpiehle anzufuͤhren waͤren.</p><lb/><p>Ueberhaupt wird die Sinnlichkeit durch die voll-<lb/>
kommene Erreichung der Natur bey jeder Vorſtel-<lb/>
lung ungemein vermehret. Das Gemaͤhld iſt nie<lb/>ſinnlicher, als wann man dabey vergißt, daß man<lb/>
einen gemahlten Gegenſtand ſieht, und die Natur<lb/>ſelbſt zu ſehen glaubt; wenn man im Portrait an<lb/>
dem Bilde Leben und Athem zu empfinden glaubt;<lb/>
wenn man in epiſchen und dramatiſchen Reden den<lb/>
Dichter ſo voͤllig vergißt, daß man die Perſonen<lb/>ſelbſt zu hoͤren glaubt.</p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#g">Sitten.</hi><lb/>
(Schoͤne Kuͤnſte.)</head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>ie Bedeutung des Worts iſt etwas unbeſtimmt.<lb/>
Bisweilen begreift man unter dieſer Benennung<lb/>
gar alles, was zum Charakter, der Gemuͤthsart<lb/>
und Handlungsweiſe eines Menſchen, oder ganzer<lb/>
Voͤlker gehoͤret, in ſo fern ſie ſich von andern unter-<lb/>ſcheiden. Jn dieſem Sinne ſcheinen Ariſtoteles in<lb/>ſeiner Poetik, und Wolf in ſeiner allgemeinen prak-<lb/>
tiſchen Philoſophie <noteplace="foot"n="(†)"><cb/><lb/>
S. <hirendition="#aq">Philos. pract. Univerſal. T. II. Cap. de conjectan-<lb/><cb/>
dis hominum meribus.</hi></note> die Woͤrter genommen zu<lb/>
haben, fuͤr die wir das Wort <hirendition="#fr">Sitten</hi> gebrauchen.<lb/>
Bisweilen aber ſcheinet man dadurch blos dasjenige<lb/>
zu verſtehen, was dem Menſchen in ſeinem Thun<lb/>
und Laſſen zufaͤlliger Weiſe zur Gewohnheit worden,<lb/>
in ſo fern es von dem, was andere in aͤhnlichen Faͤl-<lb/>
len aͤußern, verſchieden iſt, ſo daß Menſchen, die<lb/>
im Grund einerley Charakter haben, denſelben durch<lb/>
verſchiedene Sitten zeigen.</p><lb/><p>Wir verſtehen hier durch Sitten gar alles zuſam-<lb/>
mengenommen, was dem Menſchen in Abſicht auf<lb/>ſein Thun und Laſſen gewoͤhnlich worden. Die Sit-<lb/>
ten beziehen ſich nicht auf den denkenden, ſondern<lb/>
auf den handelnden Menſchen. Richtigkeit, oder<lb/>
Unrichtigkeit, Gruͤndlichkeit, Scharfſinn u. d. gl.<lb/>
bezeichnen den Charakter des Menſchen in ſo fern<lb/>
er denkt, und dieſes rechnet man nicht zu den Sitten.<lb/>
Hingegen alles was er thut, in ſo fern es gut, oder<lb/>
boͤs, ſchiklich, oder unſchiklich, ruͤhmlich, oder ver-<lb/>
verwerflich iſt, wird ſittlich genennt. Alſo wird<lb/>
man durch die Sitten zum guten, oder ſchlechten,<lb/>
zum angenehmen, oder unangenehmen Menſchen.</p><lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Sit</hi></fw><lb/><p>Fuͤr den ſittlichen Menſchen arbeiten die ſchoͤnen<lb/>
Kuͤnſte, da die Wiſſenſchaften fuͤr den denkenden<lb/>
Menſchen arbeiten. Dieſe haben den Unterricht,<lb/>
jene die Bildung der Sitten zum Zwek. Darum<lb/>
iſt eine lebhafte Schilderung der Sitten eine vor-<lb/>
zuͤgliche und unmittelbar nuͤzliche Arbeit des Kuͤnſt-<lb/>
lers. Von allen Werken der Kunſt aber ſchiken ſich<lb/>
die Epopoͤe und das Drama vorzuͤglich zu ſolchen<lb/>
Schilderungen; weil ſie nicht blos einzele Zuͤge des<lb/>ſittlichen Charakters, ſondern den ganzen Charakter<lb/>ſelbſt ſchildern koͤnnen. Von dieſer Schilderung iſt<lb/>
hier eigentlich die Rede. Wir haben aber ſehr viel<lb/>
von dem, was hieher gehoͤret, bereits in dem Arti-<lb/>
kel <hirendition="#fr">Charakter,</hi> naͤher betrachtet.</p><lb/><p>Jeder Dichter, der ſich an die Epopoͤe, oder an<lb/>
das Drama waget, muß vornehmlich eine große<lb/>
Kenntnis der Sitten haben; weil die Schilderung<lb/>
derſelben in dieſen Dichtungsarten den Hauptſtoff<lb/>
ausmacht. Dieſes muß man allemal bey dem Dich-<lb/>
ter als etwas außer der Kunſt liegendes voraus-<lb/>ſezen. Aber eigentlich zur Kunſt gehoͤrt es die Sit-<lb/>
ten, deren Kenntnis man beſizt, zu ſchildern, und<lb/>ſie auf eine gute Art zu behandeln.</p><lb/><p>Zur Schilderung der Sitten gehoͤren die Hand-<lb/>
lungen, die man den Perſonen zuſchreibt, und die<lb/>
Reden, die man ihnen in den Mund legt. Von<lb/>
den Reden haben wir in einem beſondern Artikel ge-<lb/>ſprochen. <noteplace="foot"n="(*)">S.<lb/>
Reden.</note> Die Schilderung der Handlungen iſt<lb/>
eine der ſchweereſten Arbeiten der ſchoͤnen Kuͤnſte.<lb/>
Bey den Handlungen aͤußern ſich ſo ſehr viel kleine<lb/>
aͤußerliche und innere Umſtaͤnde, wodurch ſie genau<lb/>
beſtimmt, und individuel werden, daß es eine hoͤchſt<lb/>ſchweere Sach iſt, ſie vollkommen auszudruͤken. Es<lb/>
gehoͤrt ausnehmende Scharfſinnigkeit dazu, davon<lb/>
gerade das, was die Handlung am genaueſten be-<lb/>ſtimmt, zu waͤhlen, und einen Ausdruk dazu zu<lb/>
finden, der auch das, was ſich nicht ſagen laͤßt,<lb/>
oder zu weitſchweiffend ſeyn wuͤrde, den Leſer em-<lb/>
pfinden laͤßt. Auch hierin iſt Homer unſtreitig<lb/>
das groͤßte Muſter, und wer ſeine Kraͤfte hier-<lb/>
uͤber verſuchen will, daͤrf nur ſeine Beſchreibungen<lb/>
gegen die halten, die in der Jlias und Odyſſee ſo<lb/>
haͤufig vorkommen.</p><lb/><p>Jn Anſehung der Behandlung der Sitten fodert<lb/>
Ariſtoteles, daß ſie gut, geziehmend, wahrſchein-<lb/>
lich und ſich ſelbſt durchaus gleich ſeyn ſollen. Seine<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Aus-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[1088[1070]/0517]
Sit
Sit
Falle, die von dem Geſang der Voͤgel erfuͤllte Luft
auszudruͤken weiß, von dem allen aus den Werken
der beſten Mahler Beyſpiehle anzufuͤhren waͤren.
Ueberhaupt wird die Sinnlichkeit durch die voll-
kommene Erreichung der Natur bey jeder Vorſtel-
lung ungemein vermehret. Das Gemaͤhld iſt nie
ſinnlicher, als wann man dabey vergißt, daß man
einen gemahlten Gegenſtand ſieht, und die Natur
ſelbſt zu ſehen glaubt; wenn man im Portrait an
dem Bilde Leben und Athem zu empfinden glaubt;
wenn man in epiſchen und dramatiſchen Reden den
Dichter ſo voͤllig vergißt, daß man die Perſonen
ſelbſt zu hoͤren glaubt.
Sitten.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Die Bedeutung des Worts iſt etwas unbeſtimmt.
Bisweilen begreift man unter dieſer Benennung
gar alles, was zum Charakter, der Gemuͤthsart
und Handlungsweiſe eines Menſchen, oder ganzer
Voͤlker gehoͤret, in ſo fern ſie ſich von andern unter-
ſcheiden. Jn dieſem Sinne ſcheinen Ariſtoteles in
ſeiner Poetik, und Wolf in ſeiner allgemeinen prak-
tiſchen Philoſophie (†) die Woͤrter genommen zu
haben, fuͤr die wir das Wort Sitten gebrauchen.
Bisweilen aber ſcheinet man dadurch blos dasjenige
zu verſtehen, was dem Menſchen in ſeinem Thun
und Laſſen zufaͤlliger Weiſe zur Gewohnheit worden,
in ſo fern es von dem, was andere in aͤhnlichen Faͤl-
len aͤußern, verſchieden iſt, ſo daß Menſchen, die
im Grund einerley Charakter haben, denſelben durch
verſchiedene Sitten zeigen.
Wir verſtehen hier durch Sitten gar alles zuſam-
mengenommen, was dem Menſchen in Abſicht auf
ſein Thun und Laſſen gewoͤhnlich worden. Die Sit-
ten beziehen ſich nicht auf den denkenden, ſondern
auf den handelnden Menſchen. Richtigkeit, oder
Unrichtigkeit, Gruͤndlichkeit, Scharfſinn u. d. gl.
bezeichnen den Charakter des Menſchen in ſo fern
er denkt, und dieſes rechnet man nicht zu den Sitten.
Hingegen alles was er thut, in ſo fern es gut, oder
boͤs, ſchiklich, oder unſchiklich, ruͤhmlich, oder ver-
verwerflich iſt, wird ſittlich genennt. Alſo wird
man durch die Sitten zum guten, oder ſchlechten,
zum angenehmen, oder unangenehmen Menſchen.
Fuͤr den ſittlichen Menſchen arbeiten die ſchoͤnen
Kuͤnſte, da die Wiſſenſchaften fuͤr den denkenden
Menſchen arbeiten. Dieſe haben den Unterricht,
jene die Bildung der Sitten zum Zwek. Darum
iſt eine lebhafte Schilderung der Sitten eine vor-
zuͤgliche und unmittelbar nuͤzliche Arbeit des Kuͤnſt-
lers. Von allen Werken der Kunſt aber ſchiken ſich
die Epopoͤe und das Drama vorzuͤglich zu ſolchen
Schilderungen; weil ſie nicht blos einzele Zuͤge des
ſittlichen Charakters, ſondern den ganzen Charakter
ſelbſt ſchildern koͤnnen. Von dieſer Schilderung iſt
hier eigentlich die Rede. Wir haben aber ſehr viel
von dem, was hieher gehoͤret, bereits in dem Arti-
kel Charakter, naͤher betrachtet.
Jeder Dichter, der ſich an die Epopoͤe, oder an
das Drama waget, muß vornehmlich eine große
Kenntnis der Sitten haben; weil die Schilderung
derſelben in dieſen Dichtungsarten den Hauptſtoff
ausmacht. Dieſes muß man allemal bey dem Dich-
ter als etwas außer der Kunſt liegendes voraus-
ſezen. Aber eigentlich zur Kunſt gehoͤrt es die Sit-
ten, deren Kenntnis man beſizt, zu ſchildern, und
ſie auf eine gute Art zu behandeln.
Zur Schilderung der Sitten gehoͤren die Hand-
lungen, die man den Perſonen zuſchreibt, und die
Reden, die man ihnen in den Mund legt. Von
den Reden haben wir in einem beſondern Artikel ge-
ſprochen. (*) Die Schilderung der Handlungen iſt
eine der ſchweereſten Arbeiten der ſchoͤnen Kuͤnſte.
Bey den Handlungen aͤußern ſich ſo ſehr viel kleine
aͤußerliche und innere Umſtaͤnde, wodurch ſie genau
beſtimmt, und individuel werden, daß es eine hoͤchſt
ſchweere Sach iſt, ſie vollkommen auszudruͤken. Es
gehoͤrt ausnehmende Scharfſinnigkeit dazu, davon
gerade das, was die Handlung am genaueſten be-
ſtimmt, zu waͤhlen, und einen Ausdruk dazu zu
finden, der auch das, was ſich nicht ſagen laͤßt,
oder zu weitſchweiffend ſeyn wuͤrde, den Leſer em-
pfinden laͤßt. Auch hierin iſt Homer unſtreitig
das groͤßte Muſter, und wer ſeine Kraͤfte hier-
uͤber verſuchen will, daͤrf nur ſeine Beſchreibungen
gegen die halten, die in der Jlias und Odyſſee ſo
haͤufig vorkommen.
Jn Anſehung der Behandlung der Sitten fodert
Ariſtoteles, daß ſie gut, geziehmend, wahrſchein-
lich und ſich ſelbſt durchaus gleich ſeyn ſollen. Seine
Aus-
(†)
S. Philos. pract. Univerſal. T. II. Cap. de conjectan-
dis hominum meribus.
(*) S.
Reden.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1088[1070]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/517>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.