durch das Unnatürliche in den Sitten noch unver- dorbenen Mädchens weit glüklicher und richtiger, als die Ueberlegung ihres Vaters, zu unterscheiden, ob ein Jüngling, sie glüklich, oder unglüklich ma- chen werde? Selbst in diesem Punkt beweiset eine oft fehlgeschlagene Wahl nichts gegen unsern Saz; weil in unserm etwas unnatürlichen Zustande, das, wodurch die Menschen hätten glüklich werden sollen, bisweilen ihr Unglük am meisten befördert; und weil Vorurtheile, die allen Anschein der Wahrheit haben, uns ofte zu falschen Erwartungen und wie- dernatürlichen Ansprüchen verleiten, die nicht erfüllt werden können.
Noch müssen wir eine Hauptanmerkung nicht übergehen, die zu richtiger Beurtheilung dieser Sa- che höchst nothwendig ist. So wol das äußere An- sehen des Menschen, als sein innerer Werth, zwi- schen welchen unserer Meinung nach, die Natur eine vollkommene Uebereinstimmung bewürkt hat, kön- nen durch Zufälle, oder vorübergehende Jrrungen so verstellt werden, daß ein überaus scharfes Aug und mehr, als gemeine Urtheilskraft erfodert wer- den, wenn man sich in seinem Urtheil über die wahre Beschaffenheit der Sache nicht betrügen will. Krankheiten und andre unglükliche Zufälle, können die schönste Leibesgestalt entweder für eine Zeitlang verdunkeln, oder für immer verderben. Wie wenig Menschen sind in solchen Fällen im Stande die ur- sprüngliche Anlage zu einer vollkommenen Gestalt, unter der zufälliger Weise verdorbenen Form, noch zu erkennen? Wer aber dieses nicht kann, wie soll er die natürliche Harmonie der Gestalt mit dem in- nern Werth bemerken können?
Noch weit mehr betrügen sich nur zu viel Men- schen in ihren Urtheilen über den innern Charakter. Wie ofte geschieht es nicht, daß ein Jüngling, den eine vorübergehende Leidenschaft, oder eine blos zufällige Verblendung, zu allerhand Ausschweifun- gen verleitet, die die Anlagen des edelsten Charak- ters so verdunkeln, daß schwache Beurtheiler ihn für einen schlechten Menschen halten, da er sich doch bald hernach in dem fürtrefflichen Charakter zeiget, den sein äußeres Ansehen, zu versprechen schien? Wie das schönste Gesicht durch Staub und Schweiß und eine vorübergehende Verunstaltung auf eine Zeitlang unkenntlich wird, so geschieht es auch in Ansehung des innern Charakters.
[Spaltenumbruch]
Schö
Und so kann im Gegentheil der Mensch von einem würklich schlechten Charakter durch Zwang, Ver- stellung und aus andern ebenfalls blos zufälligen, oder vorübergehenden Ursachen, von halben Ken- nern der Menschen für edel gesinnt und rechtschaffen gehalten werden, ob er gleich im Grunde nichts werth ist.
Diese Anmerkungen können den, dem es der Er- fahrung entgegen scheinet, daß die äußere Gestalt mit dem inneren des Menschen harmonire, belehren, daß es bey den mannigfaltigen Vorurtheilen, die unnatürliche Sitten in uns veranlassen, und bey den vielfältigen zufalligen Verdunkelungen der äussern und innern Gestalt in manchem Falle gar keine leichte Sache sey, so wol über die Schönheit, als über den innern Werth der Menschen richtig zu urtheilen. Man muß sich deswegen hüten, jeden anscheinenden Wiederspruch in dieser Sache, für einen Beweis zu halten, daß das äußere Ansehen des Menschen keine Versicherung seines innern Werths gebe. Aber es ist Zeit wieder auf die Hauptsache zu kommen.
Da wir gezeiget haben, daß die mannigfaltig unrichtigen Urtheile und die betrogenen Erwartun- gen, denen zufolge man das äußere Ansehen für ein betrügerisches Kennzeichen des innern Werths hält, nicht vermögend sind, unsern allgemeinen Saz verdäch- tig zu machen; so halten wir uns, alles wol überlegt, berechtiget zu behaupten, daß die Gestalt, und das ganze äußere Ansehen des Menschen, denen, die zu fassen und zu urtheilen im Stande sind, seinen wah- ren Werth erkennen lassen, und ziehen daraus für den Begriff der Schönheit diesen Schluß: daß der- jenige der schönste Mensch sey, dessen Gestalt den, in Rüksicht auf seine ganze Bestimmung, vollkom- mensten und besten Menschen ankündiget.
Diesem zufolge müssen die Urtheile über Schön- heit nothwendig eben so verschieden seyn, als die Begriffe über den Werth des Menschen von einander abgehen: diejenigen, die über diesen Werth einsei- tig urtheilen, werden auch eben so einseitige Urtheile über Schönheit fällen, und indem einige blos auf Gesundheit, und eine athletische Gestalt sehen, wer- den andere blos auf den sittlichen Charakter des Ge- sichtes Achtung geben.
Sind wir nun gleich nicht im Stande die sichtbare Schönheit dem Bildhauer, oder dem Mahler weder zu beschreiben, noch vorzuzeichnen, so können wir
ihm
Zweyter Theil. O o o o o o
[Spaltenumbruch]
Schoͤ
durch das Unnatuͤrliche in den Sitten noch unver- dorbenen Maͤdchens weit gluͤklicher und richtiger, als die Ueberlegung ihres Vaters, zu unterſcheiden, ob ein Juͤngling, ſie gluͤklich, oder ungluͤklich ma- chen werde? Selbſt in dieſem Punkt beweiſet eine oft fehlgeſchlagene Wahl nichts gegen unſern Saz; weil in unſerm etwas unnatuͤrlichen Zuſtande, das, wodurch die Menſchen haͤtten gluͤklich werden ſollen, bisweilen ihr Ungluͤk am meiſten befoͤrdert; und weil Vorurtheile, die allen Anſchein der Wahrheit haben, uns ofte zu falſchen Erwartungen und wie- dernatuͤrlichen Anſpruͤchen verleiten, die nicht erfuͤllt werden koͤnnen.
Noch muͤſſen wir eine Hauptanmerkung nicht uͤbergehen, die zu richtiger Beurtheilung dieſer Sa- che hoͤchſt nothwendig iſt. So wol das aͤußere An- ſehen des Menſchen, als ſein innerer Werth, zwi- ſchen welchen unſerer Meinung nach, die Natur eine vollkommene Uebereinſtimmung bewuͤrkt hat, koͤn- nen durch Zufaͤlle, oder voruͤbergehende Jrrungen ſo verſtellt werden, daß ein uͤberaus ſcharfes Aug und mehr, als gemeine Urtheilskraft erfodert wer- den, wenn man ſich in ſeinem Urtheil uͤber die wahre Beſchaffenheit der Sache nicht betruͤgen will. Krankheiten und andre ungluͤkliche Zufaͤlle, koͤnnen die ſchoͤnſte Leibesgeſtalt entweder fuͤr eine Zeitlang verdunkeln, oder fuͤr immer verderben. Wie wenig Menſchen ſind in ſolchen Faͤllen im Stande die ur- ſpruͤngliche Anlage zu einer vollkommenen Geſtalt, unter der zufaͤlliger Weiſe verdorbenen Form, noch zu erkennen? Wer aber dieſes nicht kann, wie ſoll er die natuͤrliche Harmonie der Geſtalt mit dem in- nern Werth bemerken koͤnnen?
Noch weit mehr betruͤgen ſich nur zu viel Men- ſchen in ihren Urtheilen uͤber den innern Charakter. Wie ofte geſchieht es nicht, daß ein Juͤngling, den eine voruͤbergehende Leidenſchaft, oder eine blos zufaͤllige Verblendung, zu allerhand Ausſchweifun- gen verleitet, die die Anlagen des edelſten Charak- ters ſo verdunkeln, daß ſchwache Beurtheiler ihn fuͤr einen ſchlechten Menſchen halten, da er ſich doch bald hernach in dem fuͤrtrefflichen Charakter zeiget, den ſein aͤußeres Anſehen, zu verſprechen ſchien? Wie das ſchoͤnſte Geſicht durch Staub und Schweiß und eine voruͤbergehende Verunſtaltung auf eine Zeitlang unkenntlich wird, ſo geſchieht es auch in Anſehung des innern Charakters.
[Spaltenumbruch]
Schoͤ
Und ſo kann im Gegentheil der Menſch von einem wuͤrklich ſchlechten Charakter durch Zwang, Ver- ſtellung und aus andern ebenfalls blos zufaͤlligen, oder voruͤbergehenden Urſachen, von halben Ken- nern der Menſchen fuͤr edel geſinnt und rechtſchaffen gehalten werden, ob er gleich im Grunde nichts werth iſt.
Dieſe Anmerkungen koͤnnen den, dem es der Er- fahrung entgegen ſcheinet, daß die aͤußere Geſtalt mit dem inneren des Menſchen harmonire, belehren, daß es bey den mannigfaltigen Vorurtheilen, die unnatuͤrliche Sitten in uns veranlaſſen, und bey den vielfaͤltigen zufalligen Verdunkelungen der aͤuſſern und innern Geſtalt in manchem Falle gar keine leichte Sache ſey, ſo wol uͤber die Schoͤnheit, als uͤber den innern Werth der Menſchen richtig zu urtheilen. Man muß ſich deswegen huͤten, jeden anſcheinenden Wiederſpruch in dieſer Sache, fuͤr einen Beweis zu halten, daß das aͤußere Anſehen des Menſchen keine Verſicherung ſeines innern Werths gebe. Aber es iſt Zeit wieder auf die Hauptſache zu kommen.
Da wir gezeiget haben, daß die mannigfaltig unrichtigen Urtheile und die betrogenen Erwartun- gen, denen zufolge man das aͤußere Anſehen fuͤr ein betruͤgeriſches Kennzeichen des innern Werths haͤlt, nicht vermoͤgend ſind, unſern allgemeinen Saz verdaͤch- tig zu machen; ſo halten wir uns, alles wol uͤberlegt, berechtiget zu behaupten, daß die Geſtalt, und das ganze aͤußere Anſehen des Menſchen, denen, die zu faſſen und zu urtheilen im Stande ſind, ſeinen wah- ren Werth erkennen laſſen, und ziehen daraus fuͤr den Begriff der Schoͤnheit dieſen Schluß: daß der- jenige der ſchoͤnſte Menſch ſey, deſſen Geſtalt den, in Ruͤkſicht auf ſeine ganze Beſtimmung, vollkom- menſten und beſten Menſchen ankuͤndiget.
Dieſem zufolge muͤſſen die Urtheile uͤber Schoͤn- heit nothwendig eben ſo verſchieden ſeyn, als die Begriffe uͤber den Werth des Menſchen von einander abgehen: diejenigen, die uͤber dieſen Werth einſei- tig urtheilen, werden auch eben ſo einſeitige Urtheile uͤber Schoͤnheit faͤllen, und indem einige blos auf Geſundheit, und eine athletiſche Geſtalt ſehen, wer- den andere blos auf den ſittlichen Charakter des Ge- ſichtes Achtung geben.
Sind wir nun gleich nicht im Stande die ſichtbare Schoͤnheit dem Bildhauer, oder dem Mahler weder zu beſchreiben, noch vorzuzeichnen, ſo koͤnnen wir
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Zweyter Theil. O o o o o o
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[1043[1025]/0472]
Schoͤ
Schoͤ
durch das Unnatuͤrliche in den Sitten noch unver-
dorbenen Maͤdchens weit gluͤklicher und richtiger,
als die Ueberlegung ihres Vaters, zu unterſcheiden,
ob ein Juͤngling, ſie gluͤklich, oder ungluͤklich ma-
chen werde? Selbſt in dieſem Punkt beweiſet eine
oft fehlgeſchlagene Wahl nichts gegen unſern Saz;
weil in unſerm etwas unnatuͤrlichen Zuſtande, das,
wodurch die Menſchen haͤtten gluͤklich werden ſollen,
bisweilen ihr Ungluͤk am meiſten befoͤrdert; und
weil Vorurtheile, die allen Anſchein der Wahrheit
haben, uns ofte zu falſchen Erwartungen und wie-
dernatuͤrlichen Anſpruͤchen verleiten, die nicht erfuͤllt
werden koͤnnen.
Noch muͤſſen wir eine Hauptanmerkung nicht
uͤbergehen, die zu richtiger Beurtheilung dieſer Sa-
che hoͤchſt nothwendig iſt. So wol das aͤußere An-
ſehen des Menſchen, als ſein innerer Werth, zwi-
ſchen welchen unſerer Meinung nach, die Natur
eine vollkommene Uebereinſtimmung bewuͤrkt hat, koͤn-
nen durch Zufaͤlle, oder voruͤbergehende Jrrungen
ſo verſtellt werden, daß ein uͤberaus ſcharfes Aug
und mehr, als gemeine Urtheilskraft erfodert wer-
den, wenn man ſich in ſeinem Urtheil uͤber die
wahre Beſchaffenheit der Sache nicht betruͤgen will.
Krankheiten und andre ungluͤkliche Zufaͤlle, koͤnnen
die ſchoͤnſte Leibesgeſtalt entweder fuͤr eine Zeitlang
verdunkeln, oder fuͤr immer verderben. Wie wenig
Menſchen ſind in ſolchen Faͤllen im Stande die ur-
ſpruͤngliche Anlage zu einer vollkommenen Geſtalt,
unter der zufaͤlliger Weiſe verdorbenen Form, noch
zu erkennen? Wer aber dieſes nicht kann, wie ſoll
er die natuͤrliche Harmonie der Geſtalt mit dem in-
nern Werth bemerken koͤnnen?
Noch weit mehr betruͤgen ſich nur zu viel Men-
ſchen in ihren Urtheilen uͤber den innern Charakter.
Wie ofte geſchieht es nicht, daß ein Juͤngling, den
eine voruͤbergehende Leidenſchaft, oder eine blos
zufaͤllige Verblendung, zu allerhand Ausſchweifun-
gen verleitet, die die Anlagen des edelſten Charak-
ters ſo verdunkeln, daß ſchwache Beurtheiler ihn fuͤr
einen ſchlechten Menſchen halten, da er ſich doch
bald hernach in dem fuͤrtrefflichen Charakter zeiget,
den ſein aͤußeres Anſehen, zu verſprechen ſchien?
Wie das ſchoͤnſte Geſicht durch Staub und Schweiß
und eine voruͤbergehende Verunſtaltung auf eine
Zeitlang unkenntlich wird, ſo geſchieht es auch in
Anſehung des innern Charakters.
Und ſo kann im Gegentheil der Menſch von einem
wuͤrklich ſchlechten Charakter durch Zwang, Ver-
ſtellung und aus andern ebenfalls blos zufaͤlligen,
oder voruͤbergehenden Urſachen, von halben Ken-
nern der Menſchen fuͤr edel geſinnt und rechtſchaffen
gehalten werden, ob er gleich im Grunde nichts
werth iſt.
Dieſe Anmerkungen koͤnnen den, dem es der Er-
fahrung entgegen ſcheinet, daß die aͤußere Geſtalt
mit dem inneren des Menſchen harmonire, belehren,
daß es bey den mannigfaltigen Vorurtheilen, die
unnatuͤrliche Sitten in uns veranlaſſen, und bey den
vielfaͤltigen zufalligen Verdunkelungen der aͤuſſern
und innern Geſtalt in manchem Falle gar keine leichte
Sache ſey, ſo wol uͤber die Schoͤnheit, als uͤber
den innern Werth der Menſchen richtig zu urtheilen.
Man muß ſich deswegen huͤten, jeden anſcheinenden
Wiederſpruch in dieſer Sache, fuͤr einen Beweis zu
halten, daß das aͤußere Anſehen des Menſchen keine
Verſicherung ſeines innern Werths gebe. Aber es
iſt Zeit wieder auf die Hauptſache zu kommen.
Da wir gezeiget haben, daß die mannigfaltig
unrichtigen Urtheile und die betrogenen Erwartun-
gen, denen zufolge man das aͤußere Anſehen fuͤr ein
betruͤgeriſches Kennzeichen des innern Werths haͤlt,
nicht vermoͤgend ſind, unſern allgemeinen Saz verdaͤch-
tig zu machen; ſo halten wir uns, alles wol uͤberlegt,
berechtiget zu behaupten, daß die Geſtalt, und das
ganze aͤußere Anſehen des Menſchen, denen, die zu
faſſen und zu urtheilen im Stande ſind, ſeinen wah-
ren Werth erkennen laſſen, und ziehen daraus fuͤr
den Begriff der Schoͤnheit dieſen Schluß: daß der-
jenige der ſchoͤnſte Menſch ſey, deſſen Geſtalt den,
in Ruͤkſicht auf ſeine ganze Beſtimmung, vollkom-
menſten und beſten Menſchen ankuͤndiget.
Dieſem zufolge muͤſſen die Urtheile uͤber Schoͤn-
heit nothwendig eben ſo verſchieden ſeyn, als die
Begriffe uͤber den Werth des Menſchen von einander
abgehen: diejenigen, die uͤber dieſen Werth einſei-
tig urtheilen, werden auch eben ſo einſeitige Urtheile
uͤber Schoͤnheit faͤllen, und indem einige blos auf
Geſundheit, und eine athletiſche Geſtalt ſehen, wer-
den andere blos auf den ſittlichen Charakter des Ge-
ſichtes Achtung geben.
Sind wir nun gleich nicht im Stande die ſichtbare
Schoͤnheit dem Bildhauer, oder dem Mahler weder
zu beſchreiben, noch vorzuzeichnen, ſo koͤnnen wir
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Zweyter Theil. O o o o o o
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1043[1025]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/472>, abgerufen am 24.11.2024.
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