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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Schö
offenbar, daß die weibliche Schönheit andre Ver-
hältnisse der Gliedmaaßen erfodert, als die männ-
liche. Auch der unachtsameste Mensch empfindet es,
daß das männliche Geschlecht zu schweerern, mühe-
samern, kühnern Verrichtungen gebohren ist, als
das weibliche, und eben daher entstehet das Gefühl,
daß zartere Gliedmaaßen, die etwas weichlicheres
haben, zur weiblichen, und stärkere, etwas dauer-
haftes und kühneres anzeigende, zur männlichen
Schönheit gehören. Auch das Verschiedene in der
Schönheit des Kindes, des Jünglings und des Man-
nes, das gewiß alle Menschen empfinden, bestäti-
get dieses. Ein Kind, es sey von dem einen, oder
andern Geschlecht, das die Bildung des reifen Al-
ters hätte, würde für häßlich gehalten werden. Of-
fenbar nicht deswegen, daß die Gestalt der Erwach-
senen in der Größe des Kindes unangenehm sey.
Der Mahler bildet sie uns noch kleiner vor und sie
bleibet schön; also deswegen, weil das Aeussere mit
dem innern Charakter, nicht übereinkommt, weil
das Kind zu dem, was es seyn soll, solche Glied-
maaßen nicht braucht.

Ueberhaupt also wird nach der allgemeinen Em-
pfindung dieses nothwendig zur Schönheit erfodert,
daß die Form des Körpers die Tüchtigkeit so wol des
Körpers überhaupt, als der besondern Glieder zu
den Verrichtungen, die jedem Geschlecht und Alter
natürlich sind, ankündige. Alles, was ein Ge-
schlecht von dem andern, als der Natur gemäß er-
wartet, muß durch das Ansehen des Körpers ver-
sprochen werden, und die Gestalt ist die schönste, die
hierüber am meisten verspricht.

Aber diese Anfoderungen beruhen nicht bloß auf
äußerliche Verrichtungen und körperliche Bedürf-
nisse. Je weiter die Menschen in der Vervollkom-
mung ihres Charakters gekommen sind, je höher trei-
ben sie auch die Foderungen dessen, was sie erwar-
ten. Verstand, Scharfsinn, und ein Gemüths-
charakter, wie jeder Mensch glaubt, daß ein voll-
kommener Mensch ihn haben müsse, sind Eigenschaf-
ten, die das Aug auch in der äußern Form zur
Schönheit fodert. Ein weibliches Bild das Wollust
athmet, dessen Gestalt und ganzes Wesen Leichtsinn
und Muthwillen verräth, ist für den leichtsinnigen
Wollüstling, die höchste Schönheit, an der aber der
geseztere und in dem Besiz seiner Geliebten mehr als
muthwillige Wollust erwartende Jüngling, noch viel
aussezen würde.

[Spaltenumbruch]
Schö

Auch die Urtheile über die Häßlichkeit bestätigen
unsern angenommenen Grundsaz. Was alle Men-
schen für häßlich halten, leitet unfehlbar auf die
Vermuthung, daß in dem Menschen, in dessen Ge-
stalt es ist, auch irgend ein innerer Fehler gegen die
Menschlichkeit liege, der durch äußere Mißgestalt an-
gezeiget wird. Wir wollen der verwachsenen und
ganz ungestalten Gliedmaaßen, die jedermann für
häßlich hält, nicht erwähnen; weil es zu offenbar
ist, daß sie überhaupt eine Untüchtigkeit zu nothwen-
digen Verrichtungen deutlich anzeigen; sondern nur
von weniger merklichen Fehlern der Form sprechen.

Die Bildung eines Menschen sey im übrigen wie
sie wolle, so wird jedermann etwas häßliches darin
finden, wenn sie einen zornigen Menschen verräth:
oder wenn man irgend eine andre herrschende Leiden-
schaft von finsterer übelthätiger Art darin bemerkt,
und keine Gestalt ist häßlicher, als die, die einen
ganz wiedersinnigen, mürrischen, jeder verkehrten
Handlung fähigen Charakter anzeiget. Aber auch
darin richtet sich das Urtheil, oder der Geschmak,
nach dem Grad der Vervollkommung, auf den man
gekommen ist. Unter einer Nation, die schon zu
Empfindungen der wahren Ehre und zu einem ge-
wissen Adel des Charakters gelanget ist, ist das Ge-
präg der Niederträchtigkeit, das man bisweilen tief
in die Physionomie eingedrükt sieht, etwas sehr
häßliches; aber es wird nur von denen bemerkt, die
jenes Gefühl der Würde und Hoheit besizen.

Vielleicht möchte jemand zweifeln, daß jede
Schönheit der Gestalt etwas von innerlicher Voll-
kommenheit oder Güte, oder jede Häßlichkeit etwas
von dem Gegentheil anzeigte. Wir müssen diesen
Punkt näher erwägen.

Jede Schönheit ist eine gefällige Gestalt irgend
einer würklichen Materie, das ist, sie haftet in ei-
nem in der Natur vorhandenen Stoff. Dieser,
wenn er auch leblos ist, hat seine Kraft, das ist,
er trägt das seinige zu den in der Natur beständig
abwechselnden Veränderungen bey, und hat seinen
Antheil an dem, was in der Welt Gutes oder Bö-
ses geschieht, kann folglich nach der besondern Art
seiner Würksamkeit, (nach den eingeschränkten
menschlichen Begriffen zu reden) unter gute oder
böse Dingen gehören. Jch getraue mir die kühne
Vermuthung zu wagen, daß jede Art der Schön-
heit in dem Stoff darin sie haftet, etwas von Voll-
kommenheit oder Güte anzeige.

Aber

[Spaltenumbruch]

Schoͤ
offenbar, daß die weibliche Schoͤnheit andre Ver-
haͤltniſſe der Gliedmaaßen erfodert, als die maͤnn-
liche. Auch der unachtſameſte Menſch empfindet es,
daß das maͤnnliche Geſchlecht zu ſchweerern, muͤhe-
ſamern, kuͤhnern Verrichtungen gebohren iſt, als
das weibliche, und eben daher entſtehet das Gefuͤhl,
daß zartere Gliedmaaßen, die etwas weichlicheres
haben, zur weiblichen, und ſtaͤrkere, etwas dauer-
haftes und kuͤhneres anzeigende, zur maͤnnlichen
Schoͤnheit gehoͤren. Auch das Verſchiedene in der
Schoͤnheit des Kindes, des Juͤnglings und des Man-
nes, das gewiß alle Menſchen empfinden, beſtaͤti-
get dieſes. Ein Kind, es ſey von dem einen, oder
andern Geſchlecht, das die Bildung des reifen Al-
ters haͤtte, wuͤrde fuͤr haͤßlich gehalten werden. Of-
fenbar nicht deswegen, daß die Geſtalt der Erwach-
ſenen in der Groͤße des Kindes unangenehm ſey.
Der Mahler bildet ſie uns noch kleiner vor und ſie
bleibet ſchoͤn; alſo deswegen, weil das Aeuſſere mit
dem innern Charakter, nicht uͤbereinkommt, weil
das Kind zu dem, was es ſeyn ſoll, ſolche Glied-
maaßen nicht braucht.

Ueberhaupt alſo wird nach der allgemeinen Em-
pfindung dieſes nothwendig zur Schoͤnheit erfodert,
daß die Form des Koͤrpers die Tuͤchtigkeit ſo wol des
Koͤrpers uͤberhaupt, als der beſondern Glieder zu
den Verrichtungen, die jedem Geſchlecht und Alter
natuͤrlich ſind, ankuͤndige. Alles, was ein Ge-
ſchlecht von dem andern, als der Natur gemaͤß er-
wartet, muß durch das Anſehen des Koͤrpers ver-
ſprochen werden, und die Geſtalt iſt die ſchoͤnſte, die
hieruͤber am meiſten verſpricht.

Aber dieſe Anfoderungen beruhen nicht bloß auf
aͤußerliche Verrichtungen und koͤrperliche Beduͤrf-
niſſe. Je weiter die Menſchen in der Vervollkom-
mung ihres Charakters gekommen ſind, je hoͤher trei-
ben ſie auch die Foderungen deſſen, was ſie erwar-
ten. Verſtand, Scharfſinn, und ein Gemuͤths-
charakter, wie jeder Menſch glaubt, daß ein voll-
kommener Menſch ihn haben muͤſſe, ſind Eigenſchaf-
ten, die das Aug auch in der aͤußern Form zur
Schoͤnheit fodert. Ein weibliches Bild das Wolluſt
athmet, deſſen Geſtalt und ganzes Weſen Leichtſinn
und Muthwillen verraͤth, iſt fuͤr den leichtſinnigen
Wolluͤſtling, die hoͤchſte Schoͤnheit, an der aber der
geſeztere und in dem Beſiz ſeiner Geliebten mehr als
muthwillige Wolluſt erwartende Juͤngling, noch viel
ausſezen wuͤrde.

[Spaltenumbruch]
Schoͤ

Auch die Urtheile uͤber die Haͤßlichkeit beſtaͤtigen
unſern angenommenen Grundſaz. Was alle Men-
ſchen fuͤr haͤßlich halten, leitet unfehlbar auf die
Vermuthung, daß in dem Menſchen, in deſſen Ge-
ſtalt es iſt, auch irgend ein innerer Fehler gegen die
Menſchlichkeit liege, der durch aͤußere Mißgeſtalt an-
gezeiget wird. Wir wollen der verwachſenen und
ganz ungeſtalten Gliedmaaßen, die jedermann fuͤr
haͤßlich haͤlt, nicht erwaͤhnen; weil es zu offenbar
iſt, daß ſie uͤberhaupt eine Untuͤchtigkeit zu nothwen-
digen Verrichtungen deutlich anzeigen; ſondern nur
von weniger merklichen Fehlern der Form ſprechen.

Die Bildung eines Menſchen ſey im uͤbrigen wie
ſie wolle, ſo wird jedermann etwas haͤßliches darin
finden, wenn ſie einen zornigen Menſchen verraͤth:
oder wenn man irgend eine andre herrſchende Leiden-
ſchaft von finſterer uͤbelthaͤtiger Art darin bemerkt,
und keine Geſtalt iſt haͤßlicher, als die, die einen
ganz wiederſinnigen, muͤrriſchen, jeder verkehrten
Handlung faͤhigen Charakter anzeiget. Aber auch
darin richtet ſich das Urtheil, oder der Geſchmak,
nach dem Grad der Vervollkommung, auf den man
gekommen iſt. Unter einer Nation, die ſchon zu
Empfindungen der wahren Ehre und zu einem ge-
wiſſen Adel des Charakters gelanget iſt, iſt das Ge-
praͤg der Niedertraͤchtigkeit, das man bisweilen tief
in die Phyſionomie eingedruͤkt ſieht, etwas ſehr
haͤßliches; aber es wird nur von denen bemerkt, die
jenes Gefuͤhl der Wuͤrde und Hoheit beſizen.

Vielleicht moͤchte jemand zweifeln, daß jede
Schoͤnheit der Geſtalt etwas von innerlicher Voll-
kommenheit oder Guͤte, oder jede Haͤßlichkeit etwas
von dem Gegentheil anzeigte. Wir muͤſſen dieſen
Punkt naͤher erwaͤgen.

Jede Schoͤnheit iſt eine gefaͤllige Geſtalt irgend
einer wuͤrklichen Materie, das iſt, ſie haftet in ei-
nem in der Natur vorhandenen Stoff. Dieſer,
wenn er auch leblos iſt, hat ſeine Kraft, das iſt,
er traͤgt das ſeinige zu den in der Natur beſtaͤndig
abwechſelnden Veraͤnderungen bey, und hat ſeinen
Antheil an dem, was in der Welt Gutes oder Boͤ-
ſes geſchieht, kann folglich nach der beſondern Art
ſeiner Wuͤrkſamkeit, (nach den eingeſchraͤnkten
menſchlichen Begriffen zu reden) unter gute oder
boͤſe Dingen gehoͤren. Jch getraue mir die kuͤhne
Vermuthung zu wagen, daß jede Art der Schoͤn-
heit in dem Stoff darin ſie haftet, etwas von Voll-
kommenheit oder Guͤte anzeige.

Aber
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1041[1023]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/470>, abgerufen am 24.11.2024.