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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Scha
angelegen seyn lassen, von dem Schauspiehler Ros-
cius
in diesem wichtigen Theile der Kunst, zu lernen.

Man kann es demnach für eine ausgemachte
Wahrheit halten, daß der Schauspiehler so große
Talente, als irgend ein Künstler, nöthig habe. Wo-
rin diese bestehen, und was für erworbene Fähigkei-
ten er noch darüber besizen müsse, um ein Meister
seiner Kunst zu seyn, hat Niemand besser entwikelt,
als der Verfasser des Werks, das vor einigen Jah-
ren in London unter dem Titel der Schauspiehler
herausgekommen ist (*), dessen fleißiges Lesen wir
jedem Schauspiehler auf das nachdrüklichste em-
pfehlen.

Der Schauspiehler muß so gut, als der Dichter,
oder ein anderer Künstler, zu seinem Beruf geboh-
ren seyn, und kann, wo die Natur nicht das Beste
an ihm gethan hat, so wenig, als ein andrer durch
Regeln gebildet werden. Aber er wird, wie jeder
Künstler, nur durch Uebung vollkommen.

Bey dieser Kunst kommt es zwar hauptsächlich
nur auf zwey Hauptpunkte an; auf den mündlichen
Vortrag, und auf die Sprache der Gebehrden; aber
jeder hat erstaunliche Schwierigkeiten. Die erste
Sorge wendet also der Schauspiehler auf den Vor-
trag der Rolen, die er übernihmt; weil dieser zum
wenigsten eben so viel zur Würkung eines Drama
beyträgt, als die Worte selbst. Dieses allein aber
erfodert eine ausnehmende Urtheilskraft, weil es
ohne diese unmöglich ist, sich so vollkommen, als
hier nöthig ist, in die Gedanken und Empfindungen
eines andern zu sezen, und seinen Worten allen Nach-
druk, und jeden Ton zu geben, den sie in seinem
Munde haben würden. Man muß so zu sagen in
die Seelen andrer Menschen hineinschauen können.
Und doch ist dieses nur erst ein vorläufiger Punkt,
zum wahren Vortrag. Denn der Schauspiehler
muß das, was er in Absicht auf die Richtigkeit des
Tones und des Nachdruks fühlet, auch würklich
durch die Stimme leisten können. Daß hiezu er-
staunlich viel gehöre, kann man nur daraus abneh-
men, was uns Cicero, ein guter Kenner dieses Theils
der Kunst von den Uebungen der Schauspiehler
sagt. (+)

[Spaltenumbruch]
Scha

Noch mehr Schwierigkeit hat der andre Punkt.
Zum mündlichen Vortrag sind Worte vorgeschrieben,
denen man nur ihren wahren dem Charakter der Per-
son und den Umständen angemessenen Ton zu geben
hat. Aber jeder Mensch hat auch da, wo er so
spricht, wie ein andrer, seine eigene Gebehrden,
nihmt eine besondere Mine, Stellung und Bewe-
gung an. Hier ist es also nicht genug, daß der
Schauspiehler alles dieses mit den Worten überein-
stimmend mache, es muß mit dem ganzen Charak-
ter der Person übereinstimmen, der bald groß und
edel, bald vornehm, aber dabey niederträchtig; bald
gemein, aber höchst ehrlich u. s. f. ist. Jch gestehe
es, daß ich von den Talenten der Künstler keinen
mehr bewundre, als diesen, sein ganzes äußerliches
Betragen, nach jedem Charakter völlig schiklich ab-
zuändern. Was für ein genauer Beobachtungs-
geist, was für große Erfahrung und Kenntnis der
Menschen, was für eine erstaunliche Beugsamkeit
des Geistes und des Körpers wird nicht hiezu er-
fodert?

Auf den Regeln, die die Meister dieser Kunst vor-
schreiben, nicht um den wahren Charakter zu tref-
fen, denn dieses kann man nicht durch Regeln ler-
nen, sondern einen gewissen theatralischen Anstand zu
beobachten, und nichts zu übertreiben, halten wir
nicht viel. Wir glauben vielmehr bey den meisten
französischen Schauspiehlern, die auch am fleißigsten
nach diesen Regeln gebildet worden, eine nicht gute
Würkung derselben beobachtet zu haben. Man merkt
es nur gar zu ofte, daß ein Arm gerade nur so weit
und so hoch ausgestrekt ist, als die Regel es vor-
schreibt, und daß die Stellung der Füße und der
Gang selbst, mehr den Tänzer, als die ungezwun-
gene Natur verrathen. Zwischen den gefälligsten
und schönsten Manieren eines in der großen Welt
vollkommen gebildeten Menschen, und des besten
Tänzers ist immer ein erstannlicher Unterschied, ob-
gleich jener auch zum Theil von dem Tänzer gebildet
worden. Gar viel Schauspiehler haben noch etwas
von dem Gepräge der Schule, wo sie die Kunst gelernt
haben, an sich, so wie man gar ofte an einem neuen
Kleide noch einige Spuhren des Schneiders entdekt.
Dieses ist für den feinern Geschmak immer anstößig.

Wie
(*) The Ac-
tor. Lon-
don 1750
8v.
(+) [Spaltenumbruch]
Et annos complures sedentes declamitant et quo-
tidie antequam pronuntient vocem cubantes sensim excitant,
eandemque, cum egerunt sedentes ab acutissimo sono ad
[Spaltenumbruch] gravissimum recipiunt et quasi quodammode colligunt. De
Orat. L. J.

[Spaltenumbruch]

Scha
angelegen ſeyn laſſen, von dem Schauſpiehler Ros-
cius
in dieſem wichtigen Theile der Kunſt, zu lernen.

Man kann es demnach fuͤr eine ausgemachte
Wahrheit halten, daß der Schauſpiehler ſo große
Talente, als irgend ein Kuͤnſtler, noͤthig habe. Wo-
rin dieſe beſtehen, und was fuͤr erworbene Faͤhigkei-
ten er noch daruͤber beſizen muͤſſe, um ein Meiſter
ſeiner Kunſt zu ſeyn, hat Niemand beſſer entwikelt,
als der Verfaſſer des Werks, das vor einigen Jah-
ren in London unter dem Titel der Schauſpiehler
herausgekommen iſt (*), deſſen fleißiges Leſen wir
jedem Schauſpiehler auf das nachdruͤklichſte em-
pfehlen.

Der Schauſpiehler muß ſo gut, als der Dichter,
oder ein anderer Kuͤnſtler, zu ſeinem Beruf geboh-
ren ſeyn, und kann, wo die Natur nicht das Beſte
an ihm gethan hat, ſo wenig, als ein andrer durch
Regeln gebildet werden. Aber er wird, wie jeder
Kuͤnſtler, nur durch Uebung vollkommen.

Bey dieſer Kunſt kommt es zwar hauptſaͤchlich
nur auf zwey Hauptpunkte an; auf den muͤndlichen
Vortrag, und auf die Sprache der Gebehrden; aber
jeder hat erſtaunliche Schwierigkeiten. Die erſte
Sorge wendet alſo der Schauſpiehler auf den Vor-
trag der Rolen, die er uͤbernihmt; weil dieſer zum
wenigſten eben ſo viel zur Wuͤrkung eines Drama
beytraͤgt, als die Worte ſelbſt. Dieſes allein aber
erfodert eine ausnehmende Urtheilskraft, weil es
ohne dieſe unmoͤglich iſt, ſich ſo vollkommen, als
hier noͤthig iſt, in die Gedanken und Empfindungen
eines andern zu ſezen, und ſeinen Worten allen Nach-
druk, und jeden Ton zu geben, den ſie in ſeinem
Munde haben wuͤrden. Man muß ſo zu ſagen in
die Seelen andrer Menſchen hineinſchauen koͤnnen.
Und doch iſt dieſes nur erſt ein vorlaͤufiger Punkt,
zum wahren Vortrag. Denn der Schauſpiehler
muß das, was er in Abſicht auf die Richtigkeit des
Tones und des Nachdruks fuͤhlet, auch wuͤrklich
durch die Stimme leiſten koͤnnen. Daß hiezu er-
ſtaunlich viel gehoͤre, kann man nur daraus abneh-
men, was uns Cicero, ein guter Kenner dieſes Theils
der Kunſt von den Uebungen der Schauſpiehler
ſagt. (†)

[Spaltenumbruch]
Scha

Noch mehr Schwierigkeit hat der andre Punkt.
Zum muͤndlichen Vortrag ſind Worte vorgeſchrieben,
denen man nur ihren wahren dem Charakter der Per-
ſon und den Umſtaͤnden angemeſſenen Ton zu geben
hat. Aber jeder Menſch hat auch da, wo er ſo
ſpricht, wie ein andrer, ſeine eigene Gebehrden,
nihmt eine beſondere Mine, Stellung und Bewe-
gung an. Hier iſt es alſo nicht genug, daß der
Schauſpiehler alles dieſes mit den Worten uͤberein-
ſtimmend mache, es muß mit dem ganzen Charak-
ter der Perſon uͤbereinſtimmen, der bald groß und
edel, bald vornehm, aber dabey niedertraͤchtig; bald
gemein, aber hoͤchſt ehrlich u. ſ. f. iſt. Jch geſtehe
es, daß ich von den Talenten der Kuͤnſtler keinen
mehr bewundre, als dieſen, ſein ganzes aͤußerliches
Betragen, nach jedem Charakter voͤllig ſchiklich ab-
zuaͤndern. Was fuͤr ein genauer Beobachtungs-
geiſt, was fuͤr große Erfahrung und Kenntnis der
Menſchen, was fuͤr eine erſtaunliche Beugſamkeit
des Geiſtes und des Koͤrpers wird nicht hiezu er-
fodert?

Auf den Regeln, die die Meiſter dieſer Kunſt vor-
ſchreiben, nicht um den wahren Charakter zu tref-
fen, denn dieſes kann man nicht durch Regeln ler-
nen, ſondern einen gewiſſen theatraliſchen Anſtand zu
beobachten, und nichts zu uͤbertreiben, halten wir
nicht viel. Wir glauben vielmehr bey den meiſten
franzoͤſiſchen Schauſpiehlern, die auch am fleißigſten
nach dieſen Regeln gebildet worden, eine nicht gute
Wuͤrkung derſelben beobachtet zu haben. Man merkt
es nur gar zu ofte, daß ein Arm gerade nur ſo weit
und ſo hoch ausgeſtrekt iſt, als die Regel es vor-
ſchreibt, und daß die Stellung der Fuͤße und der
Gang ſelbſt, mehr den Taͤnzer, als die ungezwun-
gene Natur verrathen. Zwiſchen den gefaͤlligſten
und ſchoͤnſten Manieren eines in der großen Welt
vollkommen gebildeten Menſchen, und des beſten
Taͤnzers iſt immer ein erſtannlicher Unterſchied, ob-
gleich jener auch zum Theil von dem Taͤnzer gebildet
worden. Gar viel Schauſpiehler haben noch etwas
von dem Gepraͤge der Schule, wo ſie die Kunſt gelernt
haben, an ſich, ſo wie man gar ofte an einem neuen
Kleide noch einige Spuhren des Schneiders entdekt.
Dieſes iſt fuͤr den feinern Geſchmak immer anſtoͤßig.

Wie
(*) The Ac-
tor. Lon-
don 1750
8v.
(†) [Spaltenumbruch]
Et annos complures ſedentes declamitant et quo-
tidie antequam pronuntient vocem cubantes ſenſim excitant,
eandemque, cum egerunt ſedentes ab acutiſſimo ſono ad
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[1028[1010]/0457] Scha Scha angelegen ſeyn laſſen, von dem Schauſpiehler Ros- cius in dieſem wichtigen Theile der Kunſt, zu lernen. Man kann es demnach fuͤr eine ausgemachte Wahrheit halten, daß der Schauſpiehler ſo große Talente, als irgend ein Kuͤnſtler, noͤthig habe. Wo- rin dieſe beſtehen, und was fuͤr erworbene Faͤhigkei- ten er noch daruͤber beſizen muͤſſe, um ein Meiſter ſeiner Kunſt zu ſeyn, hat Niemand beſſer entwikelt, als der Verfaſſer des Werks, das vor einigen Jah- ren in London unter dem Titel der Schauſpiehler herausgekommen iſt (*), deſſen fleißiges Leſen wir jedem Schauſpiehler auf das nachdruͤklichſte em- pfehlen. Der Schauſpiehler muß ſo gut, als der Dichter, oder ein anderer Kuͤnſtler, zu ſeinem Beruf geboh- ren ſeyn, und kann, wo die Natur nicht das Beſte an ihm gethan hat, ſo wenig, als ein andrer durch Regeln gebildet werden. Aber er wird, wie jeder Kuͤnſtler, nur durch Uebung vollkommen. Bey dieſer Kunſt kommt es zwar hauptſaͤchlich nur auf zwey Hauptpunkte an; auf den muͤndlichen Vortrag, und auf die Sprache der Gebehrden; aber jeder hat erſtaunliche Schwierigkeiten. Die erſte Sorge wendet alſo der Schauſpiehler auf den Vor- trag der Rolen, die er uͤbernihmt; weil dieſer zum wenigſten eben ſo viel zur Wuͤrkung eines Drama beytraͤgt, als die Worte ſelbſt. Dieſes allein aber erfodert eine ausnehmende Urtheilskraft, weil es ohne dieſe unmoͤglich iſt, ſich ſo vollkommen, als hier noͤthig iſt, in die Gedanken und Empfindungen eines andern zu ſezen, und ſeinen Worten allen Nach- druk, und jeden Ton zu geben, den ſie in ſeinem Munde haben wuͤrden. Man muß ſo zu ſagen in die Seelen andrer Menſchen hineinſchauen koͤnnen. Und doch iſt dieſes nur erſt ein vorlaͤufiger Punkt, zum wahren Vortrag. Denn der Schauſpiehler muß das, was er in Abſicht auf die Richtigkeit des Tones und des Nachdruks fuͤhlet, auch wuͤrklich durch die Stimme leiſten koͤnnen. Daß hiezu er- ſtaunlich viel gehoͤre, kann man nur daraus abneh- men, was uns Cicero, ein guter Kenner dieſes Theils der Kunſt von den Uebungen der Schauſpiehler ſagt. (†) Noch mehr Schwierigkeit hat der andre Punkt. Zum muͤndlichen Vortrag ſind Worte vorgeſchrieben, denen man nur ihren wahren dem Charakter der Per- ſon und den Umſtaͤnden angemeſſenen Ton zu geben hat. Aber jeder Menſch hat auch da, wo er ſo ſpricht, wie ein andrer, ſeine eigene Gebehrden, nihmt eine beſondere Mine, Stellung und Bewe- gung an. Hier iſt es alſo nicht genug, daß der Schauſpiehler alles dieſes mit den Worten uͤberein- ſtimmend mache, es muß mit dem ganzen Charak- ter der Perſon uͤbereinſtimmen, der bald groß und edel, bald vornehm, aber dabey niedertraͤchtig; bald gemein, aber hoͤchſt ehrlich u. ſ. f. iſt. Jch geſtehe es, daß ich von den Talenten der Kuͤnſtler keinen mehr bewundre, als dieſen, ſein ganzes aͤußerliches Betragen, nach jedem Charakter voͤllig ſchiklich ab- zuaͤndern. Was fuͤr ein genauer Beobachtungs- geiſt, was fuͤr große Erfahrung und Kenntnis der Menſchen, was fuͤr eine erſtaunliche Beugſamkeit des Geiſtes und des Koͤrpers wird nicht hiezu er- fodert? Auf den Regeln, die die Meiſter dieſer Kunſt vor- ſchreiben, nicht um den wahren Charakter zu tref- fen, denn dieſes kann man nicht durch Regeln ler- nen, ſondern einen gewiſſen theatraliſchen Anſtand zu beobachten, und nichts zu uͤbertreiben, halten wir nicht viel. Wir glauben vielmehr bey den meiſten franzoͤſiſchen Schauſpiehlern, die auch am fleißigſten nach dieſen Regeln gebildet worden, eine nicht gute Wuͤrkung derſelben beobachtet zu haben. Man merkt es nur gar zu ofte, daß ein Arm gerade nur ſo weit und ſo hoch ausgeſtrekt iſt, als die Regel es vor- ſchreibt, und daß die Stellung der Fuͤße und der Gang ſelbſt, mehr den Taͤnzer, als die ungezwun- gene Natur verrathen. Zwiſchen den gefaͤlligſten und ſchoͤnſten Manieren eines in der großen Welt vollkommen gebildeten Menſchen, und des beſten Taͤnzers iſt immer ein erſtannlicher Unterſchied, ob- gleich jener auch zum Theil von dem Taͤnzer gebildet worden. Gar viel Schauſpiehler haben noch etwas von dem Gepraͤge der Schule, wo ſie die Kunſt gelernt haben, an ſich, ſo wie man gar ofte an einem neuen Kleide noch einige Spuhren des Schneiders entdekt. Dieſes iſt fuͤr den feinern Geſchmak immer anſtoͤßig. Wie (*) The Ac- tor. Lon- don 1750 8v. (†) Et annos complures ſedentes declamitant et quo- tidie antequam pronuntient vocem cubantes ſenſim excitant, eandemque, cum egerunt ſedentes ab acutiſſimo ſono ad graviſſimum recipiunt et quaſi quodammode colligunt. De Orat. L. J.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1028[1010]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/457>, abgerufen am 18.06.2024.