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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Sat
wendig in jedem ordentlichen Staat verbothen sind,
so sollte auf der andern Seite der redliche Satirist,
von den Gesezen geschützt werden.

Freylich würden ihr Schranken zu sezen seyn die
ihrem Mißbrauch zuvorkämen. Gemeine Schwach-
heiten, Vergehungen und Beleidigungen, die aus
Uebereilung geschehen, alles vorübergehende Schlum-
mern das keine wichtige Folgen hat, verdienet Nach-
sicht und freundschaftliche Erinnerung; und alles
Böse, das durch Zuflucht zu den Gesezen kann ge-
hemmt werden, ist von der Satire ausgeschlossen.
Die versönliche Satire würde große Einschränkung
erfodern. Niemand, als der aus Boßheit öffentlich
sündiget, oder dessen Vergehungen seines Ansehens
halber von schädlichen Folgen sind, sollte in Satiren
genennt, oder offenbar bezeichnet werden (+).

Allein wir können uns hier nicht in den ausführ-
lichen Vorschlag zu einer Gesezgebung für die Satire
einlassen. Jch wollte nur erinnern, daß sie nüzlich
wäre, zugleich aber, daß sie große Vorsichtigkeit
erfoderte. Auch möchte es nicht ganz ohne Nuzen
seyn, denen die sich unter uns öffentlich als Richter
und Beurtheiler dessen, was im Reich der Wissen-
schaften und des Geschmaks vorgeht, einige Grund-
maximen in Absicht auf die satirischen Züchtigungen,
die sie bisweilen vornehmen, zur Ueberlegung an-
heimzustellen. Doch es scheinet, daß man den
Mißbrauch eingesehen habe. Es ist an unsern gu-
ten periodischen Schriften, worin die neuesten Schrift-
steller mit republicanischer Freyheit beurtheilt wer-
den, über diesen Punkt wenig mehr zu erinnern,
nachdem die scharfsinnigern Kunstrichter von den ehe-
maligen Aristophanischen Muthwillen, auf eine be-
scheidene Beurtheilung zurüke gekommen sind. Ein-
zele hizige Köpfe, die sich dadurch ein Ansehen u
geben glauben, daß sie mit Muthwillen schimpfen
und spotten, wo sie höchstens ihre Meinung mit Be-
[Spaltenumbruch]

Sat
scheidenheit und einiger Furchtsamkeit sagen sollten,
muß man ihrem Sinn überlassen, bis sie von selbst
verständiger werden.

Wenn man sagt, daß die Satire bey den Römern
aufgekommen sey, so muß man es nur von der be-
sondern Art verstehen, welche die Satire in einem
kleinen Gedicht, das eine moralische, bald lehrende,
bald strafende Rede über die Sitten der Menschen in
Versen ist, behandelt. Denn Aristophanes war un-
streitig ein Satiriker. Die sehr verdorbenen Sitten
der Römer unter den Cäsaren haben drey fürtrefliche
Dichter in dieser Gattung hervorgebracht. Horaz
ist mehr zum Lachen über Thorheiten als zu ernst-
haftern Angriffen der verderblichen Laster geneigt;
Juvenalis ist strenger, zieht schärfer auf die ver-
derbliche Unsittlichkeit seiner Zeit los, und weiß sowol
Unwillen, als Spott und Lachen zu erweken. Per-
sius fällt schon etwas ins Weinerliche, straft und
lehret mit stoischem Ernst.

Jch habe nicht Lust diesen Artikel mit Anführung
und Beurtheilung aller satirischer Dichter der neuern
Zeiten zu verlängern. Wer sie nicht kennet, mag
den sechsten Theil der Briefe zur Bildung des Ge-
schmaks an einen jungen Herrn von Stande, dar-
über nachlesen. Wir sind in diesem Stük etwas
hinter den andern gelehrten europäischen Nationen
zurüke. Von unsern Dichtern sind Caniz und Hal-
ler die einzigen, die sich in der römischen Satire
hervorgethan haben. Liscov, Rost und Rabner,
vornehmlich der erste, haben wahre satirische Ta-
lente gezeiget. Aber sie haben sich meistentheils an
Thorheiten von niedriger Gattung gehalten. Wäre
Liscov dreyßig Jahre späther aufgetreten, so würd
er, allem Ansehen nach, dem guten Geschmak durch
seine Satire weit wichtigere Dienste geleistet haben.
Vielleicht erweket ein guter Genius auch unter uns
bald einige satirische Köpfe, die der Nation ihre

wich-
(+) [Spaltenumbruch]
Es kommt bey der Personalsatire sehr viel auf
den Charakter der Nation an, und hier verdienet ange-
merkt zu werden, daß bey den Griechen und Romern
persönliche Anzüglichkeiten ungerochen dahingiengen, die ge-
genwärtig in den meisten Europäischen Ländern tödtliche
Feindschaft verursachen würden. Es möchte der Mühe
wol werth seyn, den Gründen eines so merklichen Unter-
schieds zwischen jenen alten und den heutigen Sitten nach-
zuspühren. Verräth die gar zu große Empfindlichkeit für
jeden Tadel nicht etwas Kleines in der Gemüthsart? Mir
kommt es so vor, denn es scheinet, daß ein gesezter Mann
[Spaltenumbruch] um so viel weniger den Tadel empfinde, je mehr er sich
selbst fühlet, und je mehr Freyheit er sich selbst nihmt, nach
seiner eigenen Art zu handeln, ohne sich daran zu kehren,
wie andre verfahren. Die allzugroße Empfindlichkeit
scheinet etwas kleinstädtisches zu haben; und die Erfah-
rung lehret, daß in kleinen Orten, wo die Gemüths- und
Lebensart der Menschen eng eingeschränkt ist, heftige Feind-
schaften über Kleinigkeiten entstehen, die unter Personen,
die einen größern Kreis übersehen, kaum scheele Minen
würden veranlasset haben.

[Spaltenumbruch]

Sat
wendig in jedem ordentlichen Staat verbothen ſind,
ſo ſollte auf der andern Seite der redliche Satiriſt,
von den Geſezen geſchuͤtzt werden.

Freylich wuͤrden ihr Schranken zu ſezen ſeyn die
ihrem Mißbrauch zuvorkaͤmen. Gemeine Schwach-
heiten, Vergehungen und Beleidigungen, die aus
Uebereilung geſchehen, alles voruͤbergehende Schlum-
mern das keine wichtige Folgen hat, verdienet Nach-
ſicht und freundſchaftliche Erinnerung; und alles
Boͤſe, das durch Zuflucht zu den Geſezen kann ge-
hemmt werden, iſt von der Satire ausgeſchloſſen.
Die verſoͤnliche Satire wuͤrde große Einſchraͤnkung
erfodern. Niemand, als der aus Boßheit oͤffentlich
ſuͤndiget, oder deſſen Vergehungen ſeines Anſehens
halber von ſchaͤdlichen Folgen ſind, ſollte in Satiren
genennt, oder offenbar bezeichnet werden (†).

Allein wir koͤnnen uns hier nicht in den ausfuͤhr-
lichen Vorſchlag zu einer Geſezgebung fuͤr die Satire
einlaſſen. Jch wollte nur erinnern, daß ſie nuͤzlich
waͤre, zugleich aber, daß ſie große Vorſichtigkeit
erfoderte. Auch moͤchte es nicht ganz ohne Nuzen
ſeyn, denen die ſich unter uns oͤffentlich als Richter
und Beurtheiler deſſen, was im Reich der Wiſſen-
ſchaften und des Geſchmaks vorgeht, einige Grund-
maximen in Abſicht auf die ſatiriſchen Zuͤchtigungen,
die ſie bisweilen vornehmen, zur Ueberlegung an-
heimzuſtellen. Doch es ſcheinet, daß man den
Mißbrauch eingeſehen habe. Es iſt an unſern gu-
ten periodiſchen Schriften, worin die neueſten Schrift-
ſteller mit republicaniſcher Freyheit beurtheilt wer-
den, uͤber dieſen Punkt wenig mehr zu erinnern,
nachdem die ſcharfſinnigern Kunſtrichter von den ehe-
maligen Ariſtophaniſchen Muthwillen, auf eine be-
ſcheidene Beurtheilung zuruͤke gekommen ſind. Ein-
zele hizige Koͤpfe, die ſich dadurch ein Anſehen u
geben glauben, daß ſie mit Muthwillen ſchimpfen
und ſpotten, wo ſie hoͤchſtens ihre Meinung mit Be-
[Spaltenumbruch]

Sat
ſcheidenheit und einiger Furchtſamkeit ſagen ſollten,
muß man ihrem Sinn uͤberlaſſen, bis ſie von ſelbſt
verſtaͤndiger werden.

Wenn man ſagt, daß die Satire bey den Roͤmern
aufgekommen ſey, ſo muß man es nur von der be-
ſondern Art verſtehen, welche die Satire in einem
kleinen Gedicht, das eine moraliſche, bald lehrende,
bald ſtrafende Rede uͤber die Sitten der Menſchen in
Verſen iſt, behandelt. Denn Ariſtophanes war un-
ſtreitig ein Satiriker. Die ſehr verdorbenen Sitten
der Roͤmer unter den Caͤſaren haben drey fuͤrtrefliche
Dichter in dieſer Gattung hervorgebracht. Horaz
iſt mehr zum Lachen uͤber Thorheiten als zu ernſt-
haftern Angriffen der verderblichen Laſter geneigt;
Juvenalis iſt ſtrenger, zieht ſchaͤrfer auf die ver-
derbliche Unſittlichkeit ſeiner Zeit los, und weiß ſowol
Unwillen, als Spott und Lachen zu erweken. Per-
ſius faͤllt ſchon etwas ins Weinerliche, ſtraft und
lehret mit ſtoiſchem Ernſt.

Jch habe nicht Luſt dieſen Artikel mit Anfuͤhrung
und Beurtheilung aller ſatiriſcher Dichter der neuern
Zeiten zu verlaͤngern. Wer ſie nicht kennet, mag
den ſechsten Theil der Briefe zur Bildung des Ge-
ſchmaks an einen jungen Herrn von Stande, dar-
uͤber nachleſen. Wir ſind in dieſem Stuͤk etwas
hinter den andern gelehrten europaͤiſchen Nationen
zuruͤke. Von unſern Dichtern ſind Caniz und Hal-
ler die einzigen, die ſich in der roͤmiſchen Satire
hervorgethan haben. Liſcov, Roſt und Rabner,
vornehmlich der erſte, haben wahre ſatiriſche Ta-
lente gezeiget. Aber ſie haben ſich meiſtentheils an
Thorheiten von niedriger Gattung gehalten. Waͤre
Liſcov dreyßig Jahre ſpaͤther aufgetreten, ſo wuͤrd
er, allem Anſehen nach, dem guten Geſchmak durch
ſeine Satire weit wichtigere Dienſte geleiſtet haben.
Vielleicht erweket ein guter Genius auch unter uns
bald einige ſatiriſche Koͤpfe, die der Nation ihre

wich-
(†) [Spaltenumbruch]
Es kommt bey der Perſonalſatire ſehr viel auf
den Charakter der Nation an, und hier verdienet ange-
merkt zu werden, daß bey den Griechen und Romern
perſoͤnliche Anzuͤglichkeiten ungerochen dahingiengen, die ge-
genwaͤrtig in den meiſten Europaͤiſchen Laͤndern toͤdtliche
Feindſchaft verurſachen wuͤrden. Es moͤchte der Muͤhe
wol werth ſeyn, den Gruͤnden eines ſo merklichen Unter-
ſchieds zwiſchen jenen alten und den heutigen Sitten nach-
zuſpuͤhren. Verraͤth die gar zu große Empfindlichkeit fuͤr
jeden Tadel nicht etwas Kleines in der Gemuͤthsart? Mir
kommt es ſo vor, denn es ſcheinet, daß ein geſezter Mann
[Spaltenumbruch] um ſo viel weniger den Tadel empfinde, je mehr er ſich
ſelbſt fuͤhlet, und je mehr Freyheit er ſich ſelbſt nihmt, nach
ſeiner eigenen Art zu handeln, ohne ſich daran zu kehren,
wie andre verfahren. Die allzugroße Empfindlichkeit
ſcheinet etwas kleinſtaͤdtiſches zu haben; und die Erfah-
rung lehret, daß in kleinen Orten, wo die Gemuͤths- und
Lebensart der Menſchen eng eingeſchraͤnkt iſt, heftige Feind-
ſchaften uͤber Kleinigkeiten entſtehen, die unter Perſonen,
die einen groͤßern Kreis uͤberſehen, kaum ſcheele Minen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1000[982]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/429>, abgerufen am 26.11.2024.