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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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als könnten sie Dinge erklären, die kein anderer
Sterblicher erklären kann.

Ohne mich in die Tiefen des feinen Gefühles der
in allen Geheimnissen der Kunst eingeweyheten Vir-
tuosen und Kenner einzulassen, will ich versuchen,
auf eine verständliche und ungekünstelte Weise zu
sagen, was für Eindrüke ich von verschiedenen Ar-
ten ästhetischer Gegenstände, würklich empfinde, die
dem zuzuschreiben seyn möchten, was die Kunstrich-
ter die Grazie nennen, und was ich unter den Na-
men Reiz verstehe.

Vorher aber will ich anmerken, daß die Grazie
von denen, die sie zuerst als eine absönderliche Eigen-
schaft der Schönheit bezeichnet haben, blos der
weiblichen Schönheit zugeeignet worden. Schon zu
Homers Zeiten, waren die Grazien als beständige
Begleiterinnen und Aufwärterinnen der Venus be-
kannt, (*) und berufen, diese Göttin der Schönheit
und Liebe mit besonderen Reizungen zu schmüken.
Vermuthlich erst lange nachher wurd das Gebieth
ihrer Herrschaft allmählig weiter ausgedähnt, bis
endlich nicht blos das schöne Geschlecht, sondern
auch Dichter, Philosophen, Staatsmänner, kurz
alles, was durch irgend eine besondere Art zu spre-
chen und zu handeln sich angenehm zu machen
wünschte, den Grazien opferte, um ihren Beystand
zu erhalten. (*)

Dieses kläret uns einigermaaßen das ganze Ge-
heimnis auf. Ein gewisser Grad des Gefälligen
und Anmuthigen, das die Zuneigung aller Herzen
gewinnt, das uns für Personen, Handlungen, Re-
den und Betragen völlig einnihmt, muß als eine
Würkung der Grazien angesehen werden. Sehen
wir also die Grazie, oder um Deutsch zu sprechen,
den Reiz, als eine gewissen Gegenständen inhaftende
Eigenschaft an, so wird uns durch die vorhergehen-
den Bemerkungen, die Würkung dieser Eigenschaft
bekannt, und kann uns das Nachforschen über ihre
Natur und Beschaffenheit erleichtern.

Nicht jede Schönheit, nicht jede das Gefühl erwe-
kende Vollkommenheit, würket die innige Zuneigung
und Gewogenheit, die man in dem engern Sinn
Liebe nennt, und die allemal eine gewisse Zärtlich-
keit in sich schließt. Man sieht schöne Personen, de-
ren Gestalt großes Wolgefallen ohne merkliche Zu-
neigung erwekt. Man fühlet die besten Verhält-
nisse und das schönste Ebenmaaß der Form, und die
untadelhafte Gestalt; das Aug verweilet mit Ver-
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gnügen und Wolgefallen darauf: aber alle Wür-
kung dieser Schönheit scheinet blos in einer Belusti-
gung der Phantasie oder der Sinnen zu bestehen,
sie erweket nichts von dem süßen mit Verlangen
verbundenen, tief in dem Herzen sizenden Gefühl.
Es fehlet dieser Schönheit an Reiz, sie ist eine Ve-
nus, ehe die Grazien in ihren Dienst gekommen.

Bisweilen siehet man auch Schönheit mit Hoheit
verbunden, die Hochachtung und Ehrfurcht erwekt;
eine Schönheit wie Juno und wie Minerva sie be-
saßen. Dort kündiget sie die Königin der Götter,
hier die Göttin der Weißheit, des Verstandes und
des Verdienstes an. Jhr Anblik erweket Bewundrung
und Verehrung, zu ernsthafte Regungen, als daß
das Herz sich dabey irgend einen zärtlichen Wunsch
erlaubte. Hier ist aller Reiz in Größe und Hoheit
übergegangen. Die Grazien sind nicht vornehm
genug, diese Hoheit zu begleiten. Wenn Juno
reizend seyn will, muß sie etwas von ihrem Ernst
ablegen, und den Gürtel der Venus auf eine Zeit
borgen.

Nicht anders verhält es sich mit jeder andern
Art des sinnlich Vollkommenen. Unter den ver-
schiedenen Menschen, mit denen wir umgehen, fin-
den sich solche, deren Betragen in jeder Absicht gros-
ses Wolgefallen erweket; man findet sie in allem,
was sie thun, und in der Art, wie sie es thun,
untadelhaft und unverbesserlich, und schöpfet deswe-
gen Vergnügen, aus ihrem Umgange. Aber noch
stellet sich dabey die zärtliche Empfindung, die tief im
Herzen Wunsch und innige Zuneigung hervorbringt,
nicht ein. Auf der andern Seite sehen wir hochach-
tungswürdige Menschen, an denen alles groß, aber
mit Ernst und Hoheit verbunden ist. Der Um-
gang weder mit der einen, noch mit der andern Art
solcher Menschen, hat das, was man eigentlich das
Reizende des Umganges nennt. Dieses stellet sich
nur da ein, wo wir bey dem ganzen Betragen vor-
zügliche Annehmlichkeit empfinden; die im eigent-
lichsten Sinn einnehmend ist.

So gehören zu einer dieser drey Gattungen, alle
gute Schriftsteller, alle gute Künstler mit ihren
Werken; und jedes gute Werk der Kunst hat ent-
weder blos gemeine untadelhafte Schönheit, oder
diese mit Reiz verbunden, oder endlich Hoheit und
Größe. Tiefere Geheimnisse habe ich in dem, was
man von der Würkung der Grazie sagt, nicht ent-
deken können. Es kann wol seyn, daß einige nur

einem
(*) Odyß.
VIII B. vs.
364 u. des-
sen Hym-
nus auf die
Venus.
(*) S.
Wielands
Grazien V.
Buch.

[Spaltenumbruch]

Rei
als koͤnnten ſie Dinge erklaͤren, die kein anderer
Sterblicher erklaͤren kann.

Ohne mich in die Tiefen des feinen Gefuͤhles der
in allen Geheimniſſen der Kunſt eingeweyheten Vir-
tuoſen und Kenner einzulaſſen, will ich verſuchen,
auf eine verſtaͤndliche und ungekuͤnſtelte Weiſe zu
ſagen, was fuͤr Eindruͤke ich von verſchiedenen Ar-
ten aͤſthetiſcher Gegenſtaͤnde, wuͤrklich empfinde, die
dem zuzuſchreiben ſeyn moͤchten, was die Kunſtrich-
ter die Grazie nennen, und was ich unter den Na-
men Reiz verſtehe.

Vorher aber will ich anmerken, daß die Grazie
von denen, die ſie zuerſt als eine abſoͤnderliche Eigen-
ſchaft der Schoͤnheit bezeichnet haben, blos der
weiblichen Schoͤnheit zugeeignet worden. Schon zu
Homers Zeiten, waren die Grazien als beſtaͤndige
Begleiterinnen und Aufwaͤrterinnen der Venus be-
kannt, (*) und berufen, dieſe Goͤttin der Schoͤnheit
und Liebe mit beſonderen Reizungen zu ſchmuͤken.
Vermuthlich erſt lange nachher wurd das Gebieth
ihrer Herrſchaft allmaͤhlig weiter ausgedaͤhnt, bis
endlich nicht blos das ſchoͤne Geſchlecht, ſondern
auch Dichter, Philoſophen, Staatsmaͤnner, kurz
alles, was durch irgend eine beſondere Art zu ſpre-
chen und zu handeln ſich angenehm zu machen
wuͤnſchte, den Grazien opferte, um ihren Beyſtand
zu erhalten. (*)

Dieſes klaͤret uns einigermaaßen das ganze Ge-
heimnis auf. Ein gewiſſer Grad des Gefaͤlligen
und Anmuthigen, das die Zuneigung aller Herzen
gewinnt, das uns fuͤr Perſonen, Handlungen, Re-
den und Betragen voͤllig einnihmt, muß als eine
Wuͤrkung der Grazien angeſehen werden. Sehen
wir alſo die Grazie, oder um Deutſch zu ſprechen,
den Reiz, als eine gewiſſen Gegenſtaͤnden inhaftende
Eigenſchaft an, ſo wird uns durch die vorhergehen-
den Bemerkungen, die Wuͤrkung dieſer Eigenſchaft
bekannt, und kann uns das Nachforſchen uͤber ihre
Natur und Beſchaffenheit erleichtern.

Nicht jede Schoͤnheit, nicht jede das Gefuͤhl erwe-
kende Vollkommenheit, wuͤrket die innige Zuneigung
und Gewogenheit, die man in dem engern Sinn
Liebe nennt, und die allemal eine gewiſſe Zaͤrtlich-
keit in ſich ſchließt. Man ſieht ſchoͤne Perſonen, de-
ren Geſtalt großes Wolgefallen ohne merkliche Zu-
neigung erwekt. Man fuͤhlet die beſten Verhaͤlt-
niſſe und das ſchoͤnſte Ebenmaaß der Form, und die
untadelhafte Geſtalt; das Aug verweilet mit Ver-
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gnuͤgen und Wolgefallen darauf: aber alle Wuͤr-
kung dieſer Schoͤnheit ſcheinet blos in einer Beluſti-
gung der Phantaſie oder der Sinnen zu beſtehen,
ſie erweket nichts von dem ſuͤßen mit Verlangen
verbundenen, tief in dem Herzen ſizenden Gefuͤhl.
Es fehlet dieſer Schoͤnheit an Reiz, ſie iſt eine Ve-
nus, ehe die Grazien in ihren Dienſt gekommen.

Bisweilen ſiehet man auch Schoͤnheit mit Hoheit
verbunden, die Hochachtung und Ehrfurcht erwekt;
eine Schoͤnheit wie Juno und wie Minerva ſie be-
ſaßen. Dort kuͤndiget ſie die Koͤnigin der Goͤtter,
hier die Goͤttin der Weißheit, des Verſtandes und
des Verdienſtes an. Jhr Anblik erweket Bewundrung
und Verehrung, zu ernſthafte Regungen, als daß
das Herz ſich dabey irgend einen zaͤrtlichen Wunſch
erlaubte. Hier iſt aller Reiz in Groͤße und Hoheit
uͤbergegangen. Die Grazien ſind nicht vornehm
genug, dieſe Hoheit zu begleiten. Wenn Juno
reizend ſeyn will, muß ſie etwas von ihrem Ernſt
ablegen, und den Guͤrtel der Venus auf eine Zeit
borgen.

Nicht anders verhaͤlt es ſich mit jeder andern
Art des ſinnlich Vollkommenen. Unter den ver-
ſchiedenen Menſchen, mit denen wir umgehen, fin-
den ſich ſolche, deren Betragen in jeder Abſicht groſ-
ſes Wolgefallen erweket; man findet ſie in allem,
was ſie thun, und in der Art, wie ſie es thun,
untadelhaft und unverbeſſerlich, und ſchoͤpfet deswe-
gen Vergnuͤgen, aus ihrem Umgange. Aber noch
ſtellet ſich dabey die zaͤrtliche Empfindung, die tief im
Herzen Wunſch und innige Zuneigung hervorbringt,
nicht ein. Auf der andern Seite ſehen wir hochach-
tungswuͤrdige Menſchen, an denen alles groß, aber
mit Ernſt und Hoheit verbunden iſt. Der Um-
gang weder mit der einen, noch mit der andern Art
ſolcher Menſchen, hat das, was man eigentlich das
Reizende des Umganges nennt. Dieſes ſtellet ſich
nur da ein, wo wir bey dem ganzen Betragen vor-
zuͤgliche Annehmlichkeit empfinden; die im eigent-
lichſten Sinn einnehmend iſt.

So gehoͤren zu einer dieſer drey Gattungen, alle
gute Schriftſteller, alle gute Kuͤnſtler mit ihren
Werken; und jedes gute Werk der Kunſt hat ent-
weder blos gemeine untadelhafte Schoͤnheit, oder
dieſe mit Reiz verbunden, oder endlich Hoheit und
Groͤße. Tiefere Geheimniſſe habe ich in dem, was
man von der Wuͤrkung der Grazie ſagt, nicht ent-
deken koͤnnen. Es kann wol ſeyn, daß einige nur

einem
(*) Odyß.
VIII B. vs.
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ſen Hym-
nus auf die
Venus.
(*) S.
Wielands
Grazien V.
Buch.
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[974[956]/0403] Rei Rei als koͤnnten ſie Dinge erklaͤren, die kein anderer Sterblicher erklaͤren kann. Ohne mich in die Tiefen des feinen Gefuͤhles der in allen Geheimniſſen der Kunſt eingeweyheten Vir- tuoſen und Kenner einzulaſſen, will ich verſuchen, auf eine verſtaͤndliche und ungekuͤnſtelte Weiſe zu ſagen, was fuͤr Eindruͤke ich von verſchiedenen Ar- ten aͤſthetiſcher Gegenſtaͤnde, wuͤrklich empfinde, die dem zuzuſchreiben ſeyn moͤchten, was die Kunſtrich- ter die Grazie nennen, und was ich unter den Na- men Reiz verſtehe. Vorher aber will ich anmerken, daß die Grazie von denen, die ſie zuerſt als eine abſoͤnderliche Eigen- ſchaft der Schoͤnheit bezeichnet haben, blos der weiblichen Schoͤnheit zugeeignet worden. Schon zu Homers Zeiten, waren die Grazien als beſtaͤndige Begleiterinnen und Aufwaͤrterinnen der Venus be- kannt, (*) und berufen, dieſe Goͤttin der Schoͤnheit und Liebe mit beſonderen Reizungen zu ſchmuͤken. Vermuthlich erſt lange nachher wurd das Gebieth ihrer Herrſchaft allmaͤhlig weiter ausgedaͤhnt, bis endlich nicht blos das ſchoͤne Geſchlecht, ſondern auch Dichter, Philoſophen, Staatsmaͤnner, kurz alles, was durch irgend eine beſondere Art zu ſpre- chen und zu handeln ſich angenehm zu machen wuͤnſchte, den Grazien opferte, um ihren Beyſtand zu erhalten. (*) Dieſes klaͤret uns einigermaaßen das ganze Ge- heimnis auf. Ein gewiſſer Grad des Gefaͤlligen und Anmuthigen, das die Zuneigung aller Herzen gewinnt, das uns fuͤr Perſonen, Handlungen, Re- den und Betragen voͤllig einnihmt, muß als eine Wuͤrkung der Grazien angeſehen werden. Sehen wir alſo die Grazie, oder um Deutſch zu ſprechen, den Reiz, als eine gewiſſen Gegenſtaͤnden inhaftende Eigenſchaft an, ſo wird uns durch die vorhergehen- den Bemerkungen, die Wuͤrkung dieſer Eigenſchaft bekannt, und kann uns das Nachforſchen uͤber ihre Natur und Beſchaffenheit erleichtern. Nicht jede Schoͤnheit, nicht jede das Gefuͤhl erwe- kende Vollkommenheit, wuͤrket die innige Zuneigung und Gewogenheit, die man in dem engern Sinn Liebe nennt, und die allemal eine gewiſſe Zaͤrtlich- keit in ſich ſchließt. Man ſieht ſchoͤne Perſonen, de- ren Geſtalt großes Wolgefallen ohne merkliche Zu- neigung erwekt. Man fuͤhlet die beſten Verhaͤlt- niſſe und das ſchoͤnſte Ebenmaaß der Form, und die untadelhafte Geſtalt; das Aug verweilet mit Ver- gnuͤgen und Wolgefallen darauf: aber alle Wuͤr- kung dieſer Schoͤnheit ſcheinet blos in einer Beluſti- gung der Phantaſie oder der Sinnen zu beſtehen, ſie erweket nichts von dem ſuͤßen mit Verlangen verbundenen, tief in dem Herzen ſizenden Gefuͤhl. Es fehlet dieſer Schoͤnheit an Reiz, ſie iſt eine Ve- nus, ehe die Grazien in ihren Dienſt gekommen. Bisweilen ſiehet man auch Schoͤnheit mit Hoheit verbunden, die Hochachtung und Ehrfurcht erwekt; eine Schoͤnheit wie Juno und wie Minerva ſie be- ſaßen. Dort kuͤndiget ſie die Koͤnigin der Goͤtter, hier die Goͤttin der Weißheit, des Verſtandes und des Verdienſtes an. Jhr Anblik erweket Bewundrung und Verehrung, zu ernſthafte Regungen, als daß das Herz ſich dabey irgend einen zaͤrtlichen Wunſch erlaubte. Hier iſt aller Reiz in Groͤße und Hoheit uͤbergegangen. Die Grazien ſind nicht vornehm genug, dieſe Hoheit zu begleiten. Wenn Juno reizend ſeyn will, muß ſie etwas von ihrem Ernſt ablegen, und den Guͤrtel der Venus auf eine Zeit borgen. Nicht anders verhaͤlt es ſich mit jeder andern Art des ſinnlich Vollkommenen. Unter den ver- ſchiedenen Menſchen, mit denen wir umgehen, fin- den ſich ſolche, deren Betragen in jeder Abſicht groſ- ſes Wolgefallen erweket; man findet ſie in allem, was ſie thun, und in der Art, wie ſie es thun, untadelhaft und unverbeſſerlich, und ſchoͤpfet deswe- gen Vergnuͤgen, aus ihrem Umgange. Aber noch ſtellet ſich dabey die zaͤrtliche Empfindung, die tief im Herzen Wunſch und innige Zuneigung hervorbringt, nicht ein. Auf der andern Seite ſehen wir hochach- tungswuͤrdige Menſchen, an denen alles groß, aber mit Ernſt und Hoheit verbunden iſt. Der Um- gang weder mit der einen, noch mit der andern Art ſolcher Menſchen, hat das, was man eigentlich das Reizende des Umganges nennt. Dieſes ſtellet ſich nur da ein, wo wir bey dem ganzen Betragen vor- zuͤgliche Annehmlichkeit empfinden; die im eigent- lichſten Sinn einnehmend iſt. So gehoͤren zu einer dieſer drey Gattungen, alle gute Schriftſteller, alle gute Kuͤnſtler mit ihren Werken; und jedes gute Werk der Kunſt hat ent- weder blos gemeine untadelhafte Schoͤnheit, oder dieſe mit Reiz verbunden, oder endlich Hoheit und Groͤße. Tiefere Geheimniſſe habe ich in dem, was man von der Wuͤrkung der Grazie ſagt, nicht ent- deken koͤnnen. Es kann wol ſeyn, daß einige nur einem (*) Odyß. VIII B. vs. 364 u. deſ- ſen Hym- nus auf die Venus. (*) S. Wielands Grazien V. Buch.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 974[956]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/403>, abgerufen am 24.11.2024.