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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Red
terhaltung der Einbildungskraft haben. Der Red-
ner hat hier mehr nöthig ein Mahler, als ein Phi-
losoph zu seyn; er braucht mehr Geschmak, als
gründliche Kenntnisse. Die rührende Rede muß vor-
nehmlich stark und eindringend, groß, feuerig und pa-
thetisch seyn. Bey dem Redner wird vorzüglich eine
sehr empfindsame, durch die Leidenschaften leicht zu ent-
flammende Seele, ein stark fühlendes Herz, erfodert.

Dieses betrift eigentlich nur die materiellen Eigen-
schaften der Rede. Es ist aber leicht zu sehen, daß
jede Gattung auch etwas besonders in der Form und
in dem Ton haben müsse, worüber wir uns hier
nicht einlassen, da das Wichtigste in besondern Arti-
keln ist ausgeführt worden. (*)

Ueberhaupt aber, müssen wir noch anmerken,
daß jede förmliche Rede, die den Namen eines
Werks der schönen Kunst verdienen soll, in ihrem
Ton einen gewissen Grad der Würde, Größe und
Wärme haben müsse, der der Feyerlichkeit der Ver-
anlassung angemessen ist, und wodurch sie sich von
einer philosophischen Abhandlung, von einer gemei-
nen historischen oder gesellschaftlichen Erzählung, von
einem unterhaltenden angenehmen Geschwäz und
von einer blos gelegentlich eintretenden paßionirten
Rede unterscheidet. Denn so wie es einen Uebel-
stand macht, wenn der bloße Geschichtschreiber, der
untersuchende Philosoph und der im gemeinen Um-
gang redende Mensch, ins eigentliche Rednerische
geräth, so muß auch der Redner nicht in den Ton
des gemeinen Vortrages fallen; da wir vorausse-
zen, er spreche nur über wichtige Dinge, wol vor-
bereitet, und habe Zuhörer vor sich, die sich in einer
intereßirenden Erwartung befinden. Hier wäre der
gemeine gesellschaftliche, sogenante familiare Ton,
unter der Würde der Gelegenheit zur Rede. Ge-
danken, Ausdruk, Schreibart, Anordnung und
denn auch alles, was zum äußerlichen Vortrag ge-
höret, Stimm und Gebehrden, muß das Gepräg
eines zu öffeutlichem und wichtigen Gebrauch verfer-
tigten Werks haben.

Daß zu einer solchen Rede, von welcher Gat-
tung sie auch sey, sehr wichtige natürliche Fähigkei-
ten, und auch durch Nachdenken und Uebung erwor-
[Spaltenumbruch]

Red
bene Fertigkeiten erfodert werden, läßt sich leichte
begreifen. Wie ein vollkommenes historisches Ge-
mählde das höchste Werk der Mahlerey ist, zu dessen
Verfertigung alle Talente des Mahlers und alle
Theile der Kunst sich vereinigen müssen, so ist auch
eine vollkommene Rede, das höchste Werk der Be-
redsamkeit. Genie, Beurtheilung, Geschmak,
Größe des Herzens, müssen dabey zusammentreffen;
und zu dem allen muß noch erstaunliche Fertigkeit
in der Sprach, und alles, was zur schweeren Kunst
des Vortrages gehört, (*) hinzukommen.

Jch erinnere dieses vornehmlich deswegen, weil
es mir vorkommt, daß man in Deutschland den
Werth eines guten Redners nicht hoch genug schäze.
Viele die von einer schönen Ode, auch wol gar nur
von einem guten Sinngedichte mit Entzüken spre-
chen, scheinen sich für eine sehr gute Rede nur mit-
telmäßig zu intereßiren, und der laute Zuruf des
Wolgefallens, womit man in Deutschland die Dich-
ter beehrt, und belohnet, wird gar selten einem Red-
ner zu Theil. Jn unsern critischen Schriften kann
man hundertmal auf den Namen Horaz, oder Vir-
gil kommen, ehe man einmal den Namen eines
Demosthenes, oder Cicero antrift.

Wenn wir aber auf die Schwierigkeit der Sa-
chen und die zu jeder Art nöthigen Talente sehen;
so werden wir bald begreifen, daß weit mehr dazu
gehört eine vollkommene Rede, als eine vollkom-
mene Ode, oder Elegie zu machen. Hiezu ist oft
eine angenehme Phantasie, feiner Geschmak und eine
warme Empfindung für irgend einen Gegenstand,
der gewöhnlicher Weise auch den kältesten in einiges
Feuer sezt, hinlänglich. Aber wieviel wird nicht
zu einer guten Rede erfodert? "Gar viel mehr, sagt
Cicero, als man sich gemeiniglich vorstellt, und was
nicht anders, als aus viel andern Künsten und Wis-
senschaften kann gesammelt werden. Denn wer
sollte bey einer solchen Menge derer, die sich auf Be-
redsamkeit legen, und bey einer so beträchtlichen An-
zahl guter Köpfe, die sich darunter finden, einen
andern Grund von der Seltenheit guter Redner an-
geben können, als die ungemeine Größe und Schwie-
rigkeit, der Sache selbst?" (+)

Von
(*) S.
Lehrende
Rede; rüh-
rende Re-
de; unter-
haltende
Rede.
(*) S.
Vortrag
(mündli-
cher.)
(+) [Spaltenumbruch]
Sed nimirum majus est hoc quiddam, quam homi-
nes opinantur et pluribus ex artibus, studiisque collectum.
Quis enim aliud in maxima discentium multitudine -- prae-
stantissimis hominum ingeniis -- esse causae putet, nisi rei
[Spaltenumbruch] quandam incredibilem magnitudinem ac difficultatem.
Näm-
lich er hatte vorher angemerkt, daß weit mehr gute Dich-
ter als gute Redner angetroffen werden, und giebt izt die-
sen Grund davon an. S. de Orat. L. I.

[Spaltenumbruch]

Red
terhaltung der Einbildungskraft haben. Der Red-
ner hat hier mehr noͤthig ein Mahler, als ein Phi-
loſoph zu ſeyn; er braucht mehr Geſchmak, als
gruͤndliche Kenntniſſe. Die ruͤhrende Rede muß vor-
nehmlich ſtark und eindringend, groß, feuerig und pa-
thetiſch ſeyn. Bey dem Redner wird vorzuͤglich eine
ſehr empfindſame, durch die Leidenſchaften leicht zu ent-
flammende Seele, ein ſtark fuͤhlendes Herz, erfodert.

Dieſes betrift eigentlich nur die materiellen Eigen-
ſchaften der Rede. Es iſt aber leicht zu ſehen, daß
jede Gattung auch etwas beſonders in der Form und
in dem Ton haben muͤſſe, woruͤber wir uns hier
nicht einlaſſen, da das Wichtigſte in beſondern Arti-
keln iſt ausgefuͤhrt worden. (*)

Ueberhaupt aber, muͤſſen wir noch anmerken,
daß jede foͤrmliche Rede, die den Namen eines
Werks der ſchoͤnen Kunſt verdienen ſoll, in ihrem
Ton einen gewiſſen Grad der Wuͤrde, Groͤße und
Waͤrme haben muͤſſe, der der Feyerlichkeit der Ver-
anlaſſung angemeſſen iſt, und wodurch ſie ſich von
einer philoſophiſchen Abhandlung, von einer gemei-
nen hiſtoriſchen oder geſellſchaftlichen Erzaͤhlung, von
einem unterhaltenden angenehmen Geſchwaͤz und
von einer blos gelegentlich eintretenden paßionirten
Rede unterſcheidet. Denn ſo wie es einen Uebel-
ſtand macht, wenn der bloße Geſchichtſchreiber, der
unterſuchende Philoſoph und der im gemeinen Um-
gang redende Menſch, ins eigentliche Redneriſche
geraͤth, ſo muß auch der Redner nicht in den Ton
des gemeinen Vortrages fallen; da wir vorausſe-
zen, er ſpreche nur uͤber wichtige Dinge, wol vor-
bereitet, und habe Zuhoͤrer vor ſich, die ſich in einer
intereßirenden Erwartung befinden. Hier waͤre der
gemeine geſellſchaftliche, ſogenante familiare Ton,
unter der Wuͤrde der Gelegenheit zur Rede. Ge-
danken, Ausdruk, Schreibart, Anordnung und
denn auch alles, was zum aͤußerlichen Vortrag ge-
hoͤret, Stimm und Gebehrden, muß das Gepraͤg
eines zu oͤffeutlichem und wichtigen Gebrauch verfer-
tigten Werks haben.

Daß zu einer ſolchen Rede, von welcher Gat-
tung ſie auch ſey, ſehr wichtige natuͤrliche Faͤhigkei-
ten, und auch durch Nachdenken und Uebung erwor-
[Spaltenumbruch]

Red
bene Fertigkeiten erfodert werden, laͤßt ſich leichte
begreifen. Wie ein vollkommenes hiſtoriſches Ge-
maͤhlde das hoͤchſte Werk der Mahlerey iſt, zu deſſen
Verfertigung alle Talente des Mahlers und alle
Theile der Kunſt ſich vereinigen muͤſſen, ſo iſt auch
eine vollkommene Rede, das hoͤchſte Werk der Be-
redſamkeit. Genie, Beurtheilung, Geſchmak,
Groͤße des Herzens, muͤſſen dabey zuſammentreffen;
und zu dem allen muß noch erſtaunliche Fertigkeit
in der Sprach, und alles, was zur ſchweeren Kunſt
des Vortrages gehoͤrt, (*) hinzukommen.

Jch erinnere dieſes vornehmlich deswegen, weil
es mir vorkommt, daß man in Deutſchland den
Werth eines guten Redners nicht hoch genug ſchaͤze.
Viele die von einer ſchoͤnen Ode, auch wol gar nur
von einem guten Sinngedichte mit Entzuͤken ſpre-
chen, ſcheinen ſich fuͤr eine ſehr gute Rede nur mit-
telmaͤßig zu intereßiren, und der laute Zuruf des
Wolgefallens, womit man in Deutſchland die Dich-
ter beehrt, und belohnet, wird gar ſelten einem Red-
ner zu Theil. Jn unſern critiſchen Schriften kann
man hundertmal auf den Namen Horaz, oder Vir-
gil kommen, ehe man einmal den Namen eines
Demoſthenes, oder Cicero antrift.

Wenn wir aber auf die Schwierigkeit der Sa-
chen und die zu jeder Art noͤthigen Talente ſehen;
ſo werden wir bald begreifen, daß weit mehr dazu
gehoͤrt eine vollkommene Rede, als eine vollkom-
mene Ode, oder Elegie zu machen. Hiezu iſt oft
eine angenehme Phantaſie, feiner Geſchmak und eine
warme Empfindung fuͤr irgend einen Gegenſtand,
der gewoͤhnlicher Weiſe auch den kaͤlteſten in einiges
Feuer ſezt, hinlaͤnglich. Aber wieviel wird nicht
zu einer guten Rede erfodert? „Gar viel mehr, ſagt
Cicero, als man ſich gemeiniglich vorſtellt, und was
nicht anders, als aus viel andern Kuͤnſten und Wiſ-
ſenſchaften kann geſammelt werden. Denn wer
ſollte bey einer ſolchen Menge derer, die ſich auf Be-
redſamkeit legen, und bey einer ſo betraͤchtlichen An-
zahl guter Koͤpfe, die ſich darunter finden, einen
andern Grund von der Seltenheit guter Redner an-
geben koͤnnen, als die ungemeine Groͤße und Schwie-
rigkeit, der Sache ſelbſt?„ (†)

Von
(*) S.
Lehrende
Rede; ruͤh-
rende Re-
de; unter-
haltende
Rede.
(*) S.
Vortrag
(muͤndli-
cher.)
(†) [Spaltenumbruch]
Sed nimirum majus eſt hoc quiddam, quam homi-
nes opinantur et pluribus ex artibus, ſtudiisque collectum.
Quis enim aliud in maxima diſcentium multitudine — præ-
ſtantiſſimis hominum ingeniis — eſſe cauſæ putet, niſi rei
[Spaltenumbruch] quandam incredibilem magnitudinem ac difficultatem.
Naͤm-
lich er hatte vorher angemerkt, daß weit mehr gute Dich-
ter als gute Redner angetroffen werden, und giebt izt die-
ſen Grund davon an. S. de Orat. L. I.
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[956[938]/0385] Red Red terhaltung der Einbildungskraft haben. Der Red- ner hat hier mehr noͤthig ein Mahler, als ein Phi- loſoph zu ſeyn; er braucht mehr Geſchmak, als gruͤndliche Kenntniſſe. Die ruͤhrende Rede muß vor- nehmlich ſtark und eindringend, groß, feuerig und pa- thetiſch ſeyn. Bey dem Redner wird vorzuͤglich eine ſehr empfindſame, durch die Leidenſchaften leicht zu ent- flammende Seele, ein ſtark fuͤhlendes Herz, erfodert. Dieſes betrift eigentlich nur die materiellen Eigen- ſchaften der Rede. Es iſt aber leicht zu ſehen, daß jede Gattung auch etwas beſonders in der Form und in dem Ton haben muͤſſe, woruͤber wir uns hier nicht einlaſſen, da das Wichtigſte in beſondern Arti- keln iſt ausgefuͤhrt worden. (*) Ueberhaupt aber, muͤſſen wir noch anmerken, daß jede foͤrmliche Rede, die den Namen eines Werks der ſchoͤnen Kunſt verdienen ſoll, in ihrem Ton einen gewiſſen Grad der Wuͤrde, Groͤße und Waͤrme haben muͤſſe, der der Feyerlichkeit der Ver- anlaſſung angemeſſen iſt, und wodurch ſie ſich von einer philoſophiſchen Abhandlung, von einer gemei- nen hiſtoriſchen oder geſellſchaftlichen Erzaͤhlung, von einem unterhaltenden angenehmen Geſchwaͤz und von einer blos gelegentlich eintretenden paßionirten Rede unterſcheidet. Denn ſo wie es einen Uebel- ſtand macht, wenn der bloße Geſchichtſchreiber, der unterſuchende Philoſoph und der im gemeinen Um- gang redende Menſch, ins eigentliche Redneriſche geraͤth, ſo muß auch der Redner nicht in den Ton des gemeinen Vortrages fallen; da wir vorausſe- zen, er ſpreche nur uͤber wichtige Dinge, wol vor- bereitet, und habe Zuhoͤrer vor ſich, die ſich in einer intereßirenden Erwartung befinden. Hier waͤre der gemeine geſellſchaftliche, ſogenante familiare Ton, unter der Wuͤrde der Gelegenheit zur Rede. Ge- danken, Ausdruk, Schreibart, Anordnung und denn auch alles, was zum aͤußerlichen Vortrag ge- hoͤret, Stimm und Gebehrden, muß das Gepraͤg eines zu oͤffeutlichem und wichtigen Gebrauch verfer- tigten Werks haben. Daß zu einer ſolchen Rede, von welcher Gat- tung ſie auch ſey, ſehr wichtige natuͤrliche Faͤhigkei- ten, und auch durch Nachdenken und Uebung erwor- bene Fertigkeiten erfodert werden, laͤßt ſich leichte begreifen. Wie ein vollkommenes hiſtoriſches Ge- maͤhlde das hoͤchſte Werk der Mahlerey iſt, zu deſſen Verfertigung alle Talente des Mahlers und alle Theile der Kunſt ſich vereinigen muͤſſen, ſo iſt auch eine vollkommene Rede, das hoͤchſte Werk der Be- redſamkeit. Genie, Beurtheilung, Geſchmak, Groͤße des Herzens, muͤſſen dabey zuſammentreffen; und zu dem allen muß noch erſtaunliche Fertigkeit in der Sprach, und alles, was zur ſchweeren Kunſt des Vortrages gehoͤrt, (*) hinzukommen. Jch erinnere dieſes vornehmlich deswegen, weil es mir vorkommt, daß man in Deutſchland den Werth eines guten Redners nicht hoch genug ſchaͤze. Viele die von einer ſchoͤnen Ode, auch wol gar nur von einem guten Sinngedichte mit Entzuͤken ſpre- chen, ſcheinen ſich fuͤr eine ſehr gute Rede nur mit- telmaͤßig zu intereßiren, und der laute Zuruf des Wolgefallens, womit man in Deutſchland die Dich- ter beehrt, und belohnet, wird gar ſelten einem Red- ner zu Theil. Jn unſern critiſchen Schriften kann man hundertmal auf den Namen Horaz, oder Vir- gil kommen, ehe man einmal den Namen eines Demoſthenes, oder Cicero antrift. Wenn wir aber auf die Schwierigkeit der Sa- chen und die zu jeder Art noͤthigen Talente ſehen; ſo werden wir bald begreifen, daß weit mehr dazu gehoͤrt eine vollkommene Rede, als eine vollkom- mene Ode, oder Elegie zu machen. Hiezu iſt oft eine angenehme Phantaſie, feiner Geſchmak und eine warme Empfindung fuͤr irgend einen Gegenſtand, der gewoͤhnlicher Weiſe auch den kaͤlteſten in einiges Feuer ſezt, hinlaͤnglich. Aber wieviel wird nicht zu einer guten Rede erfodert? „Gar viel mehr, ſagt Cicero, als man ſich gemeiniglich vorſtellt, und was nicht anders, als aus viel andern Kuͤnſten und Wiſ- ſenſchaften kann geſammelt werden. Denn wer ſollte bey einer ſolchen Menge derer, die ſich auf Be- redſamkeit legen, und bey einer ſo betraͤchtlichen An- zahl guter Koͤpfe, die ſich darunter finden, einen andern Grund von der Seltenheit guter Redner an- geben koͤnnen, als die ungemeine Groͤße und Schwie- rigkeit, der Sache ſelbſt?„ (†) Von (*) S. Lehrende Rede; ruͤh- rende Re- de; unter- haltende Rede. (*) S. Vortrag (muͤndli- cher.) (†) Sed nimirum majus eſt hoc quiddam, quam homi- nes opinantur et pluribus ex artibus, ſtudiisque collectum. Quis enim aliud in maxima diſcentium multitudine — præ- ſtantiſſimis hominum ingeniis — eſſe cauſæ putet, niſi rei quandam incredibilem magnitudinem ac difficultatem. Naͤm- lich er hatte vorher angemerkt, daß weit mehr gute Dich- ter als gute Redner angetroffen werden, und giebt izt die- ſen Grund davon an. S. de Orat. L. I.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 956[938]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/385>, abgerufen am 28.05.2024.