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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Die erste Bestürzung ist in hohen Tönen ausgedrükt.
Danach sinkt die Stimme, und steigt mit der Har-
monie immer um einen Grad höher, bis zu der
lezten Ausrufung, O dispietata! Jn solchen stei-
genden Fällen sind die Transpositionen
[Abbildung] von ungemein guter Würkung. Graun bedient
sich ihrer hauptsächlich bey dem Ausdruk des Er-
staunens, und der zunehmenden Freude sehr oft.
S. XV.

Transpositionen, wie bey XVI. in steigenden Af-
fekten sind traurig, und klagend; doch ist die erste
und lezte heftiger, als die mittelste.

Es versteht sich, daß die Singstimme zugleich mit
der Harmonie steigen und fallen müsse, wenn die
Transpositionen ihre Würkung thun sollen. So
ist von der mittelsten Transposition bey XVII ein gu-
tes Exempel von Graun: auch das folgende aus
der Oper Demofonte: S. XVIII.

Die Transpositionen bey XIX, die das entgegen-
gesezte der vorhergehenden sind, sind sehr gut zu
sinkenden und traurigen Affekten zu gebrauchen: die
im zweyten Beyspiehle sind noch trauriger, als die
im ersten. So hat Scheibe in seiner Ariadne auf
Naxos, da wo sie mit Schauer und Entsezen von
der Untreue ihres Theseus spricht, bey folgenden
Worten: Jch die ich ihn den ausgestrekten etc. S.
XX. die wahre Harmonie, und die nach und nach
heruntersinkenden Töne in der Singstimme wohl ge-
wählt, und den rechten Ausdruk getroffen, wenn
er nur etwas richtiger deklamirt hätte. Hingegen
bey folgender Stelle (S. XXI), wo die Stimme sich
bey den Worten, o Verräther! hätte erheben, und
recht sehr heftig werden sollen, ist es gerad umge-
kehrt. Auch die Harmonie, womit das o Verräther
anfängt, ist viel zu weich an diesem Orte.

Graun wußte sich in solchen Contrasten besser
zu helfen. S. XXII. Nach dem d im Baß, im zwey-
ten Takt erwartet man den b E Mollaccord. An
dessen statt hört man den rauhen Dominantenaccord
von C, und wird noch mehr erschüttert, wenn Ro-
delinde bey den Worten Grimoaldo crudel ihre Stim-
me aufs höchste erhebt, da sie vorher in tiefern Tö-
nen seufzte.

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Rec

Jn der Oper Demofonte glaubt Timante, daß
sein Vater, der ihn verheyrathen will, von sei-
ner geliebten Dircea, mit der er schon heimlich
verheyrathet ist, spreche, und ist darüber voller Freu-
den; am Ende des Gesprächs hört er einen ganz
fremden Namen. Tausend quälende Vorstellungen
überfallen ihn auf einmal. Der Vater verlangt
Erklärung; er antwortet, wie bey XXIII zu sehen.

Nichts kann rührender seyn, als diese Folge von
Tönen, und doch beruhen sie bis auf den lezten
Takt, auf simple Quintenfortschreitungen der Har-
monie, nämlich:
[Abbildung] die man sonst nur zu gleichgültigen Säzen braucht.
Ein großer Beweiß, daß bey kurzen Absäzen leicht
auf einander folgende Harmonien weit bessere Wür-
kung thun, als entlegene und in einander ver-
wikelte.

Zur neunten Regel. Ganze Cadenzen in der
Recitativstimme, mit denen eine ganze Periode ge-
schlossen werden kann, sind folgende in Dur und
Moll:
[Abbildung] deren förmlicher Schluß durch folgende nachschla-
gende Baßcadenz bewürkt wird.

[Abbildung]

Man sehe N. XXIV*. Da aber nicht jede Periode
eine Schlußperiode ist, sondern ofte mit der folgenden
mehr oder weniger zusammenhängt, so hat der Ton-
sezer hierauf wohl Acht zu geben, damit er diese
Schlußcadenz nur alsdenn anbringe, wenn der Re-
desaz förmlich schließt, oder der darauf folgende
eine von der vorhergehenden ganz abgesonderte Em-
pfindung schildert. Außerdem begnügt man sich
an der bloßen Cadenz der Recitativstimme, und ei-
ner der darauf folgenden Pause, wozu die Beglei-
tung entweder den bloßen Dreyklang, oder den Sex-

ten-
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Rec

Die erſte Beſtuͤrzung iſt in hohen Toͤnen ausgedruͤkt.
Danach ſinkt die Stimme, und ſteigt mit der Har-
monie immer um einen Grad hoͤher, bis zu der
lezten Ausrufung, O dispietata! Jn ſolchen ſtei-
genden Faͤllen ſind die Transpoſitionen
[Abbildung] von ungemein guter Wuͤrkung. Graun bedient
ſich ihrer hauptſaͤchlich bey dem Ausdruk des Er-
ſtaunens, und der zunehmenden Freude ſehr oft.
S. XV.

Transpoſitionen, wie bey XVI. in ſteigenden Af-
fekten ſind traurig, und klagend; doch iſt die erſte
und lezte heftiger, als die mittelſte.

Es verſteht ſich, daß die Singſtimme zugleich mit
der Harmonie ſteigen und fallen muͤſſe, wenn die
Transpoſitionen ihre Wuͤrkung thun ſollen. So
iſt von der mittelſten Transpoſition bey XVII ein gu-
tes Exempel von Graun: auch das folgende aus
der Oper Demofonte: S. XVIII.

Die Transpoſitionen bey XIX, die das entgegen-
geſezte der vorhergehenden ſind, ſind ſehr gut zu
ſinkenden und traurigen Affekten zu gebrauchen: die
im zweyten Beyſpiehle ſind noch trauriger, als die
im erſten. So hat Scheibe in ſeiner Ariadne auf
Naxos, da wo ſie mit Schauer und Entſezen von
der Untreue ihres Theſeus ſpricht, bey folgenden
Worten: Jch die ich ihn den ausgeſtrekten ꝛc. S.
XX. die wahre Harmonie, und die nach und nach
herunterſinkenden Toͤne in der Singſtimme wohl ge-
waͤhlt, und den rechten Ausdruk getroffen, wenn
er nur etwas richtiger deklamirt haͤtte. Hingegen
bey folgender Stelle (S. XXI), wo die Stimme ſich
bey den Worten, o Verraͤther! haͤtte erheben, und
recht ſehr heftig werden ſollen, iſt es gerad umge-
kehrt. Auch die Harmonie, womit das o Verraͤther
anfaͤngt, iſt viel zu weich an dieſem Orte.

Graun wußte ſich in ſolchen Contraſten beſſer
zu helfen. S. XXII. Nach dem d im Baß, im zwey-
ten Takt erwartet man den b E Mollaccord. An
deſſen ſtatt hoͤrt man den rauhen Dominantenaccord
von C, und wird noch mehr erſchuͤttert, wenn Ro-
delinde bey den Worten Grimoaldo crudel ihre Stim-
me aufs hoͤchſte erhebt, da ſie vorher in tiefern Toͤ-
nen ſeufzte.

[Spaltenumbruch]
Rec

Jn der Oper Demofonte glaubt Timante, daß
ſein Vater, der ihn verheyrathen will, von ſei-
ner geliebten Dircea, mit der er ſchon heimlich
verheyrathet iſt, ſpreche, und iſt daruͤber voller Freu-
den; am Ende des Geſpraͤchs hoͤrt er einen ganz
fremden Namen. Tauſend quaͤlende Vorſtellungen
uͤberfallen ihn auf einmal. Der Vater verlangt
Erklaͤrung; er antwortet, wie bey XXIII zu ſehen.

Nichts kann ruͤhrender ſeyn, als dieſe Folge von
Toͤnen, und doch beruhen ſie bis auf den lezten
Takt, auf ſimple Quintenfortſchreitungen der Har-
monie, naͤmlich:
[Abbildung] die man ſonſt nur zu gleichguͤltigen Saͤzen braucht.
Ein großer Beweiß, daß bey kurzen Abſaͤzen leicht
auf einander folgende Harmonien weit beſſere Wuͤr-
kung thun, als entlegene und in einander ver-
wikelte.

Zur neunten Regel. Ganze Cadenzen in der
Recitativſtimme, mit denen eine ganze Periode ge-
ſchloſſen werden kann, ſind folgende in Dur und
Moll:
[Abbildung] deren foͤrmlicher Schluß durch folgende nachſchla-
gende Baßcadenz bewuͤrkt wird.

[Abbildung]

Man ſehe N. XXIV*. Da aber nicht jede Periode
eine Schlußperiode iſt, ſondern ofte mit der folgenden
mehr oder weniger zuſammenhaͤngt, ſo hat der Ton-
ſezer hierauf wohl Acht zu geben, damit er dieſe
Schlußcadenz nur alsdenn anbringe, wenn der Re-
deſaz foͤrmlich ſchließt, oder der darauf folgende
eine von der vorhergehenden ganz abgeſonderte Em-
pfindung ſchildert. Außerdem begnuͤgt man ſich
an der bloßen Cadenz der Recitativſtimme, und ei-
ner der darauf folgenden Pauſe, wozu die Beglei-
tung entweder den bloßen Dreyklang, oder den Sex-

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[949[931]/0378] Rec Rec Die erſte Beſtuͤrzung iſt in hohen Toͤnen ausgedruͤkt. Danach ſinkt die Stimme, und ſteigt mit der Har- monie immer um einen Grad hoͤher, bis zu der lezten Ausrufung, O dispietata! Jn ſolchen ſtei- genden Faͤllen ſind die Transpoſitionen [Abbildung] von ungemein guter Wuͤrkung. Graun bedient ſich ihrer hauptſaͤchlich bey dem Ausdruk des Er- ſtaunens, und der zunehmenden Freude ſehr oft. S. XV. Transpoſitionen, wie bey XVI. in ſteigenden Af- fekten ſind traurig, und klagend; doch iſt die erſte und lezte heftiger, als die mittelſte. Es verſteht ſich, daß die Singſtimme zugleich mit der Harmonie ſteigen und fallen muͤſſe, wenn die Transpoſitionen ihre Wuͤrkung thun ſollen. So iſt von der mittelſten Transpoſition bey XVII ein gu- tes Exempel von Graun: auch das folgende aus der Oper Demofonte: S. XVIII. Die Transpoſitionen bey XIX, die das entgegen- geſezte der vorhergehenden ſind, ſind ſehr gut zu ſinkenden und traurigen Affekten zu gebrauchen: die im zweyten Beyſpiehle ſind noch trauriger, als die im erſten. So hat Scheibe in ſeiner Ariadne auf Naxos, da wo ſie mit Schauer und Entſezen von der Untreue ihres Theſeus ſpricht, bey folgenden Worten: Jch die ich ihn den ausgeſtrekten ꝛc. S. XX. die wahre Harmonie, und die nach und nach herunterſinkenden Toͤne in der Singſtimme wohl ge- waͤhlt, und den rechten Ausdruk getroffen, wenn er nur etwas richtiger deklamirt haͤtte. Hingegen bey folgender Stelle (S. XXI), wo die Stimme ſich bey den Worten, o Verraͤther! haͤtte erheben, und recht ſehr heftig werden ſollen, iſt es gerad umge- kehrt. Auch die Harmonie, womit das o Verraͤther anfaͤngt, iſt viel zu weich an dieſem Orte. Graun wußte ſich in ſolchen Contraſten beſſer zu helfen. S. XXII. Nach dem d im Baß, im zwey- ten Takt erwartet man den b E Mollaccord. An deſſen ſtatt hoͤrt man den rauhen Dominantenaccord von C, und wird noch mehr erſchuͤttert, wenn Ro- delinde bey den Worten Grimoaldo crudel ihre Stim- me aufs hoͤchſte erhebt, da ſie vorher in tiefern Toͤ- nen ſeufzte. Jn der Oper Demofonte glaubt Timante, daß ſein Vater, der ihn verheyrathen will, von ſei- ner geliebten Dircea, mit der er ſchon heimlich verheyrathet iſt, ſpreche, und iſt daruͤber voller Freu- den; am Ende des Geſpraͤchs hoͤrt er einen ganz fremden Namen. Tauſend quaͤlende Vorſtellungen uͤberfallen ihn auf einmal. Der Vater verlangt Erklaͤrung; er antwortet, wie bey XXIII zu ſehen. Nichts kann ruͤhrender ſeyn, als dieſe Folge von Toͤnen, und doch beruhen ſie bis auf den lezten Takt, auf ſimple Quintenfortſchreitungen der Har- monie, naͤmlich: [Abbildung] die man ſonſt nur zu gleichguͤltigen Saͤzen braucht. Ein großer Beweiß, daß bey kurzen Abſaͤzen leicht auf einander folgende Harmonien weit beſſere Wuͤr- kung thun, als entlegene und in einander ver- wikelte. Zur neunten Regel. Ganze Cadenzen in der Recitativſtimme, mit denen eine ganze Periode ge- ſchloſſen werden kann, ſind folgende in Dur und Moll: [Abbildung] deren foͤrmlicher Schluß durch folgende nachſchla- gende Baßcadenz bewuͤrkt wird. [Abbildung] Man ſehe N. XXIV*. Da aber nicht jede Periode eine Schlußperiode iſt, ſondern ofte mit der folgenden mehr oder weniger zuſammenhaͤngt, ſo hat der Ton- ſezer hierauf wohl Acht zu geben, damit er dieſe Schlußcadenz nur alsdenn anbringe, wenn der Re- deſaz foͤrmlich ſchließt, oder der darauf folgende eine von der vorhergehenden ganz abgeſonderte Em- pfindung ſchildert. Außerdem begnuͤgt man ſich an der bloßen Cadenz der Recitativſtimme, und ei- ner der darauf folgenden Pauſe, wozu die Beglei- tung entweder den bloßen Dreyklang, oder den Sex- ten- B b b b b b 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 949[931]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/378>, abgerufen am 24.11.2024.