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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Pro
braucht; so nennt man die Prosa poetisch; fehlen
sie aber dem Vortrage in Versen, so werden diese
prosaisch genennt.

Es ist bereits in andern Artikeln gezeiget wor-
den (*) worin das Poetische der Sprach, in so fern
es vom Sylbenmaaß unabhänglich ist, bestehe, und
daraus läßt sich auch der innere Charakter der Prosa
bestimmen. Doch ist dabey zu merken, daß einzele,
hier und da etwa vorkommende poetische Redensar-
ten und Wendungen die Prosa noch nicht poetisch,
noch weniger prosaische Wendungen die Poesie pro-
saisch machen. Man braucht diese Ausdrüke von
der Schreibart, oder der Art des Vortrages, darin
der eine, oder der andere dieser Charaktere herr-
schend ist.

Die poetische Prosa, nämlich Gedichte, ohne
Sylbenmaaß, sind ein Einfall der neueren Zeit; und
es ist verschiedentlich darüber gestritten worden, ob
irgend einem prosaischen Werk der Namen eines Ge-
dichts mit Recht könne beygelegt werden. Jzt ist
die Frage fast durchgehends entschieden, und nie-
mand weigert sich unsern Geßner, dessen Werke fast
durchgehends in Prosa geschrieben sind, unter die
Dichter zu zählen. Freylich fehlet es dem schönsten
prosaischen Gedichte noch an einer Vollkommenheit;
und man empfindet den Mangel des Verses desto
lebhafter, je schöner man das übrige findet.

Aber zwey Dinge sind, davor sich jeder in den re-
denden Künsten sorgfältig in Acht zu nehmen hat:
vor dem prosaischen Ton in dem Gedicht und vor
dem poetischen in der gemeinen Rede. Jenes ist
dem Charakter des Gedichts so sehr entgegen, daß
auch im prosaischen Gedichte selbst, der prosaische
Ton ganz wiedrig wäre: dieses wiederspricht dem
Charakter der gemeinen Rede eben so, wie wenn
man bey der alltäglichen, blos nach der Nothdurft
eingerichteten Kleidung irgend einen Theil derselben
nach festlichem Schmuk einrichten wollte. Wie es
abgeschmakte Pedanterie ist, wenn man in den Re-
den über Geschäfte des täglichen Lebens, oder des
gemeinen Umganges ohne Noth Ausdrüke, Redens-
arten und einen Ton annihmt, die dem wissenschaft-
lichen gelehrten Vortrag eigen sind; so ist es auch
eine ins Lächerliche fallende Ziererey, wenn man
in der gemeinen Sprache der Unterredung poetische
Blumen, oder etwas von dem feyerlichen Ton der
Redner oder Romanenschreiber einmischt: ein Feh-
ler, in den junge für die Sprache der Romane zu
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Pro
sehr eingenommene Personen des schönen Geschlech-
tes, nicht selten fallen. Dieses ist aber gerade der
Fall junger Schriftsteller, die ihren prosaischen Vor-
trag hier und da mit poetischen Schönheiten aus-
schmüken. Höchst anstößig ist dieses vornehmlich in
dem Dialog der dramatischen Werke, der dadurch
seine ganze Natur verliehret.

Jch halte es für wichtig genug bey dieser Gele-
genheit unsre Kunstrichter auf diese Fehler, die nicht
selten begangen werden, besonders aufmerksam zu
machen, damit sie sich ihrem Einreißen mit Fleiß
entgegen setzen. (*) Es ist für die Dichtkunst sehr
wichtig, daß sie eine ihr allein zukommende Sprache
behalte. Denn gar ofte hat sie kein anderes Mittel
sich über die gemeine Prose zu erheben und die Auf-
merksamkeit der Leser in der gehörigen Spannung
zu erhalten, als eben den ihr eigenen Ton im Vor-
trage; und ofte blos den Gebrauch gewisser Worte,
die eben deßwegen, weil sie in der gemeinen Sprach
unerhört sind, einen poetischen Charakter haben.
Sollten diese Mittel auch in dem sonst unpoetischen
Vortrag gewöhnlich werden, so würde der Dichter
sich bey manchen Gelegenheiten gar nicht mehr über
den gemeinen Vortrag erheben können.

Es ist freylich nicht möglich die Gränzen, wo
sich das Prosaische des Vortrages von dem Poeti-
schen scheidet, durchaus mit Genauigkeit zu zeichnen.
Wer aber ein etwas geübtes Gefühl hat, der em-
pfindet es bald, wenn sie von der einen oder der an-
dern Seite überschritten werden. Wenn also die
Kunstrichter dergleichen Ausschweifungen über die
Gränzen gehörig rügen, so gewöhnen sich die Schrift-
steller, die sich derselben schuldig gemacht haben,
zum sorgfältigern Nachdenken, wodurch ihr Gefühl
hinlänglich geschärft wird, um solche Fehler künftig
zu vermeiden.

Verschiedene Kunstrichter haben angemerkt, daß
es schweerer sey in einer durchgehends reinen und
den Charakter ihrer Art überall behauptenden Prosa,
als in einer durchaus guten poetischen Sprache zu
schreiben. Dieses scheinet dadurch bestätiget zu
werden, daß bey mehreren Völkern, so wie bey
den Griechen, die Sprache der Dichtkunst weit frü-
her eine gewisse Vollkommenheit erreicht hat, als
die Prosa. Der Grund hievon liegt ohne Zweifel
darin, daß die eine ein Werk der schnellwürkenden
Einbildungskraft, die andere aber ein Werk des
Verstandes ist, dessen Würkungen langsamer und de-

dächt-
(*) S.
Poetisch;
Ton.
(*) Man
sehe einige
gute Erin-
nerungen
hierüber in
der Neuen
Bibl der
schönen
Wissensch

im St.
des X Ban-
des, auf
der 108.
Seite.
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Pro
braucht; ſo nennt man die Proſa poetiſch; fehlen
ſie aber dem Vortrage in Verſen, ſo werden dieſe
proſaiſch genennt.

Es iſt bereits in andern Artikeln gezeiget wor-
den (*) worin das Poetiſche der Sprach, in ſo fern
es vom Sylbenmaaß unabhaͤnglich iſt, beſtehe, und
daraus laͤßt ſich auch der innere Charakter der Proſa
beſtimmen. Doch iſt dabey zu merken, daß einzele,
hier und da etwa vorkommende poetiſche Redensar-
ten und Wendungen die Proſa noch nicht poetiſch,
noch weniger proſaiſche Wendungen die Poeſie pro-
ſaiſch machen. Man braucht dieſe Ausdruͤke von
der Schreibart, oder der Art des Vortrages, darin
der eine, oder der andere dieſer Charaktere herr-
ſchend iſt.

Die poetiſche Proſa, naͤmlich Gedichte, ohne
Sylbenmaaß, ſind ein Einfall der neueren Zeit; und
es iſt verſchiedentlich daruͤber geſtritten worden, ob
irgend einem proſaiſchen Werk der Namen eines Ge-
dichts mit Recht koͤnne beygelegt werden. Jzt iſt
die Frage faſt durchgehends entſchieden, und nie-
mand weigert ſich unſern Geßner, deſſen Werke faſt
durchgehends in Proſa geſchrieben ſind, unter die
Dichter zu zaͤhlen. Freylich fehlet es dem ſchoͤnſten
proſaiſchen Gedichte noch an einer Vollkommenheit;
und man empfindet den Mangel des Verſes deſto
lebhafter, je ſchoͤner man das uͤbrige findet.

Aber zwey Dinge ſind, davor ſich jeder in den re-
denden Kuͤnſten ſorgfaͤltig in Acht zu nehmen hat:
vor dem proſaiſchen Ton in dem Gedicht und vor
dem poetiſchen in der gemeinen Rede. Jenes iſt
dem Charakter des Gedichts ſo ſehr entgegen, daß
auch im proſaiſchen Gedichte ſelbſt, der proſaiſche
Ton ganz wiedrig waͤre: dieſes wiederſpricht dem
Charakter der gemeinen Rede eben ſo, wie wenn
man bey der alltaͤglichen, blos nach der Nothdurft
eingerichteten Kleidung irgend einen Theil derſelben
nach feſtlichem Schmuk einrichten wollte. Wie es
abgeſchmakte Pedanterie iſt, wenn man in den Re-
den uͤber Geſchaͤfte des taͤglichen Lebens, oder des
gemeinen Umganges ohne Noth Ausdruͤke, Redens-
arten und einen Ton annihmt, die dem wiſſenſchaft-
lichen gelehrten Vortrag eigen ſind; ſo iſt es auch
eine ins Laͤcherliche fallende Ziererey, wenn man
in der gemeinen Sprache der Unterredung poetiſche
Blumen, oder etwas von dem feyerlichen Ton der
Redner oder Romanenſchreiber einmiſcht: ein Feh-
ler, in den junge fuͤr die Sprache der Romane zu
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Pro
ſehr eingenommene Perſonen des ſchoͤnen Geſchlech-
tes, nicht ſelten fallen. Dieſes iſt aber gerade der
Fall junger Schriftſteller, die ihren proſaiſchen Vor-
trag hier und da mit poetiſchen Schoͤnheiten aus-
ſchmuͤken. Hoͤchſt anſtoͤßig iſt dieſes vornehmlich in
dem Dialog der dramatiſchen Werke, der dadurch
ſeine ganze Natur verliehret.

Jch halte es fuͤr wichtig genug bey dieſer Gele-
genheit unſre Kunſtrichter auf dieſe Fehler, die nicht
ſelten begangen werden, beſonders aufmerkſam zu
machen, damit ſie ſich ihrem Einreißen mit Fleiß
entgegen ſetzen. (*) Es iſt fuͤr die Dichtkunſt ſehr
wichtig, daß ſie eine ihr allein zukommende Sprache
behalte. Denn gar ofte hat ſie kein anderes Mittel
ſich uͤber die gemeine Proſe zu erheben und die Auf-
merkſamkeit der Leſer in der gehoͤrigen Spannung
zu erhalten, als eben den ihr eigenen Ton im Vor-
trage; und ofte blos den Gebrauch gewiſſer Worte,
die eben deßwegen, weil ſie in der gemeinen Sprach
unerhoͤrt ſind, einen poetiſchen Charakter haben.
Sollten dieſe Mittel auch in dem ſonſt unpoetiſchen
Vortrag gewoͤhnlich werden, ſo wuͤrde der Dichter
ſich bey manchen Gelegenheiten gar nicht mehr uͤber
den gemeinen Vortrag erheben koͤnnen.

Es iſt freylich nicht moͤglich die Graͤnzen, wo
ſich das Proſaiſche des Vortrages von dem Poeti-
ſchen ſcheidet, durchaus mit Genauigkeit zu zeichnen.
Wer aber ein etwas geuͤbtes Gefuͤhl hat, der em-
pfindet es bald, wenn ſie von der einen oder der an-
dern Seite uͤberſchritten werden. Wenn alſo die
Kunſtrichter dergleichen Ausſchweifungen uͤber die
Graͤnzen gehoͤrig ruͤgen, ſo gewoͤhnen ſich die Schrift-
ſteller, die ſich derſelben ſchuldig gemacht haben,
zum ſorgfaͤltigern Nachdenken, wodurch ihr Gefuͤhl
hinlaͤnglich geſchaͤrft wird, um ſolche Fehler kuͤnftig
zu vermeiden.

Verſchiedene Kunſtrichter haben angemerkt, daß
es ſchweerer ſey in einer durchgehends reinen und
den Charakter ihrer Art uͤberall behauptenden Proſa,
als in einer durchaus guten poetiſchen Sprache zu
ſchreiben. Dieſes ſcheinet dadurch beſtaͤtiget zu
werden, daß bey mehreren Voͤlkern, ſo wie bey
den Griechen, die Sprache der Dichtkunſt weit fruͤ-
her eine gewiſſe Vollkommenheit erreicht hat, als
die Proſa. Der Grund hievon liegt ohne Zweifel
darin, daß die eine ein Werk der ſchnellwuͤrkenden
Einbildungskraft, die andere aber ein Werk des
Verſtandes iſt, deſſen Wuͤrkungen langſamer und de-

daͤcht-
(*) S.
Poetiſch;
Ton.
(*) Man
ſehe einige
gute Erin-
nerungen
hieruͤber in
der Neuen
Bibl der
ſchoͤnen
Wiſſenſch

im St.
des X Ban-
des, auf
der 108.
Seite.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 927[909]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/345>, abgerufen am 25.11.2024.