findungen ofte sehr nachtheilig, und allemal unna- türlich. Und wo man an sich große Gegenstände zu beschreiben hat, da därf man nur auf gute An- ordnung und richtige Zeichnung sehen; das Feine des Colorits thut wenig dabey.
Politisches Trauerspiehl.
Wir wollen unter diesem Namen von einem Dra- ma von besonderer Art sprechen, das nicht eigent- lich für die Schaubühne gemacht ist, sondern gewisse merkwürdige Vorstellungen und Begebenheiten aus der Geschichte dramatisch behandelt. Wir finden zwar schon unter Shakespears Werken Stüke, die einigermaaßen dahin können gerechnet werden; weil er nicht nur den Stoff aus der Geschichte seines Lan- des genommen, sondern ihn auch, ohne Rüksicht auf die gemeinen Regeln der Schaubühne, politisch behandelt hat. Doch ist, so viel ich weiß, der be- rühmte Präsident Henault der erste, der das politi- sche Trauerspiehl, als eine ganz besondere Gattung des Drama, das mehr zum Lesen, als zur würkli- chen Vorstellung dienen sollte, behandelt hat.
Jch will mich die Mühe nicht verdrießen lassen, mit dieses berühmten Mannes eigenen Worten zu erzählen, wie er auf diese besondere Art des Drama gekommen ist. (+)
"Die Geschichte, sagt er, hat diesen großen Man- gel, daß sie blos erzählt; da man doch gestehen muß, daß dieselben Begebenheiten, die sie vorträgt, wenn man die Handlung selbst sähe, ganz andere Kraft und insonderheit ungleich mehr Klarheit für die Vor- stellungskraft haben würden. Als ich Shakespears Tragödie, HeinrichVI sah, war ich begierig die ganze Geschichte dieses Prinzen in derselben wieder zu lernen -- Jch las Shakespears Stük um die vielfältigen schnell auf einander folgenden und einan- der oft ganz entgegenstreitenden Begebenheiten des- selben mir recht lebhaft vorzustellen -- Jch fand jede beynahe in richtiger Ordnung der Zeit; ich sah die Hauptpersonen derselben Zeit in würklicher Hand- lung begriffen, die vor meinen Augen vorfiel; ich erkannte ihre Sitten, ihre Jnteressen, ihre Leiden- schaften: sie selbst unterrichteten mich davon -- da dachte ich: warum ist unsre Geschichte nicht eben so geschrieben, und warum hat noch Niemand die- sen Einfall gehabt?"
[Spaltenumbruch]
Pol
Nachher merkt er sehr richtig an, daß die Tra- gödie nach der gewöhnlichen Form, da sie nur eine einzige, und kurze Handlung vorstellt, wie das hi- storische Gemähld, uns nicht hinlänglich genug über die wichtigsten Punkte der Geschichte unterrichten kann. Daraus schließt er endlich, es sey vernünf- tig eine Gattung zu versuchen, darin die Vortheile der Geschicht und der Tragödie vereiniget seyen. Er unternahm es, und so entstund sein politisches Trauer- spiehl FranzII König von Frankreich. Aber keiner seiner Landsmänner, die doch so ämsig für die Schau- bühne arbeiten, ahmte ihm hierin nach.
Vor einigen Jahren kamen in Deutschland nach und nach verschiedene dramatische Werke, unter dem Titel politischer Trauerspiehle heraus, davon die meisten unsern Bodmer zum Verfasser hatten. Ob sie nun gleich keine günstige Aufnahm erfahren, und so gar in einigen critischen Schriften derselben Zeit, deren Verfasser es sich zur Maxime scheinen gemacht zu haben, den Vater der wahren Critik in Deutsch- land zu verspotten, so gar verhöhnt wurden; so ha- ben verschiedene Kenner ihren Werth, einiger darin vorkommender in der That unnatürlicher Ausdrüke ungeachtet, nicht verkennt. Sie sahen, daß dieses Trauerspiehl, als eine besondere Gattung sehr schik- lich könnte gebraucht werden, wichtige, politische und patriotische Gemählde, die zu groß und zu weit- läuftig sind, nach den Regeln des eigentlichen Schau- spiehls behandelt zu werden, so vorzustellen, daß sie weit mehr Leben bekommen, und weit größere Wür- kung thun würden, als wenn man sie blos historisch vorstellte. Aus diesem Grunde schien mir diese Gat- tung auch hier einen besondern Artikel zu erfodern. Diesen würde ich auch ausgearbeitet haben, wenn mir nicht ein mir unbekannter Kenner darin zuvor- gekommen wäre. Dieser hat mir vor einigen Mo- naten einen besondern Aufsaz über diese Materie zu- geschikt, deu ich hier, weil er mir die ganze Sach in ihrem eigentlichen Lichte scheint gesezt zu haben, ganz einrüken werde.
Es trift sich gerade zu der Zeit, da dieser Aufsaz der Presse soll übergeben werden, daß mir ein neues Drama gerade wie Henault es wünschet: Göz von Berlichingen in die Hand kommt, dessen Verfasser, durch die That selbst, zeiget, daß er das politische Drama einer genauen Bearbeitung würdig hält.
Ver-
(+)[Spaltenumbruch] Folgendes ist aus der Vorede, zu dem Trauerspiehl [Spaltenumbruch]Francois II Roy de france en cinq Actes, genemmen.
[Spaltenumbruch]
Pol
findungen ofte ſehr nachtheilig, und allemal unna- tuͤrlich. Und wo man an ſich große Gegenſtaͤnde zu beſchreiben hat, da daͤrf man nur auf gute An- ordnung und richtige Zeichnung ſehen; das Feine des Colorits thut wenig dabey.
Politiſches Trauerſpiehl.
Wir wollen unter dieſem Namen von einem Dra- ma von beſonderer Art ſprechen, das nicht eigent- lich fuͤr die Schaubuͤhne gemacht iſt, ſondern gewiſſe merkwuͤrdige Vorſtellungen und Begebenheiten aus der Geſchichte dramatiſch behandelt. Wir finden zwar ſchon unter Shakeſpears Werken Stuͤke, die einigermaaßen dahin koͤnnen gerechnet werden; weil er nicht nur den Stoff aus der Geſchichte ſeines Lan- des genommen, ſondern ihn auch, ohne Ruͤkſicht auf die gemeinen Regeln der Schaubuͤhne, politiſch behandelt hat. Doch iſt, ſo viel ich weiß, der be- ruͤhmte Praͤſident Henault der erſte, der das politi- ſche Trauerſpiehl, als eine ganz beſondere Gattung des Drama, das mehr zum Leſen, als zur wuͤrkli- chen Vorſtellung dienen ſollte, behandelt hat.
Jch will mich die Muͤhe nicht verdrießen laſſen, mit dieſes beruͤhmten Mannes eigenen Worten zu erzaͤhlen, wie er auf dieſe beſondere Art des Drama gekommen iſt. (†)
„Die Geſchichte, ſagt er, hat dieſen großen Man- gel, daß ſie blos erzaͤhlt; da man doch geſtehen muß, daß dieſelben Begebenheiten, die ſie vortraͤgt, wenn man die Handlung ſelbſt ſaͤhe, ganz andere Kraft und inſonderheit ungleich mehr Klarheit fuͤr die Vor- ſtellungskraft haben wuͤrden. Als ich Shakeſpears Tragoͤdie, HeinrichVI ſah, war ich begierig die ganze Geſchichte dieſes Prinzen in derſelben wieder zu lernen — Jch las Shakeſpears Stuͤk um die vielfaͤltigen ſchnell auf einander folgenden und einan- der oft ganz entgegenſtreitenden Begebenheiten deſ- ſelben mir recht lebhaft vorzuſtellen — Jch fand jede beynahe in richtiger Ordnung der Zeit; ich ſah die Hauptperſonen derſelben Zeit in wuͤrklicher Hand- lung begriffen, die vor meinen Augen vorfiel; ich erkannte ihre Sitten, ihre Jntereſſen, ihre Leiden- ſchaften: ſie ſelbſt unterrichteten mich davon — da dachte ich: warum iſt unſre Geſchichte nicht eben ſo geſchrieben, und warum hat noch Niemand die- ſen Einfall gehabt?“
[Spaltenumbruch]
Pol
Nachher merkt er ſehr richtig an, daß die Tra- goͤdie nach der gewoͤhnlichen Form, da ſie nur eine einzige, und kurze Handlung vorſtellt, wie das hi- ſtoriſche Gemaͤhld, uns nicht hinlaͤnglich genug uͤber die wichtigſten Punkte der Geſchichte unterrichten kann. Daraus ſchließt er endlich, es ſey vernuͤnf- tig eine Gattung zu verſuchen, darin die Vortheile der Geſchicht und der Tragoͤdie vereiniget ſeyen. Er unternahm es, und ſo entſtund ſein politiſches Trauer- ſpiehl FranzII Koͤnig von Frankreich. Aber keiner ſeiner Landsmaͤnner, die doch ſo aͤmſig fuͤr die Schau- buͤhne arbeiten, ahmte ihm hierin nach.
Vor einigen Jahren kamen in Deutſchland nach und nach verſchiedene dramatiſche Werke, unter dem Titel politiſcher Trauerſpiehle heraus, davon die meiſten unſern Bodmer zum Verfaſſer hatten. Ob ſie nun gleich keine guͤnſtige Aufnahm erfahren, und ſo gar in einigen critiſchen Schriften derſelben Zeit, deren Verfaſſer es ſich zur Maxime ſcheinen gemacht zu haben, den Vater der wahren Critik in Deutſch- land zu verſpotten, ſo gar verhoͤhnt wurden; ſo ha- ben verſchiedene Kenner ihren Werth, einiger darin vorkommender in der That unnatuͤrlicher Ausdruͤke ungeachtet, nicht verkennt. Sie ſahen, daß dieſes Trauerſpiehl, als eine beſondere Gattung ſehr ſchik- lich koͤnnte gebraucht werden, wichtige, politiſche und patriotiſche Gemaͤhlde, die zu groß und zu weit- laͤuftig ſind, nach den Regeln des eigentlichen Schau- ſpiehls behandelt zu werden, ſo vorzuſtellen, daß ſie weit mehr Leben bekommen, und weit groͤßere Wuͤr- kung thun wuͤrden, als wenn man ſie blos hiſtoriſch vorſtellte. Aus dieſem Grunde ſchien mir dieſe Gat- tung auch hier einen beſondern Artikel zu erfodern. Dieſen wuͤrde ich auch ausgearbeitet haben, wenn mir nicht ein mir unbekannter Kenner darin zuvor- gekommen waͤre. Dieſer hat mir vor einigen Mo- naten einen beſondern Aufſaz uͤber dieſe Materie zu- geſchikt, deu ich hier, weil er mir die ganze Sach in ihrem eigentlichen Lichte ſcheint geſezt zu haben, ganz einruͤken werde.
Es trift ſich gerade zu der Zeit, da dieſer Aufſaz der Preſſe ſoll uͤbergeben werden, daß mir ein neues Drama gerade wie Henault es wuͤnſchet: Goͤz von Berlichingen in die Hand kommt, deſſen Verfaſſer, durch die That ſelbſt, zeiget, daß er das politiſche Drama einer genauen Bearbeitung wuͤrdig haͤlt.
Ver-
(†)[Spaltenumbruch] Folgendes iſt aus der Vorede, zu dem Trauerſpiehl [Spaltenumbruch]François II Roy de france en cinq Actes, genemmen.
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[913[895]/0331]
Pol
Pol
findungen ofte ſehr nachtheilig, und allemal unna-
tuͤrlich. Und wo man an ſich große Gegenſtaͤnde
zu beſchreiben hat, da daͤrf man nur auf gute An-
ordnung und richtige Zeichnung ſehen; das Feine
des Colorits thut wenig dabey.
Politiſches Trauerſpiehl.
Wir wollen unter dieſem Namen von einem Dra-
ma von beſonderer Art ſprechen, das nicht eigent-
lich fuͤr die Schaubuͤhne gemacht iſt, ſondern gewiſſe
merkwuͤrdige Vorſtellungen und Begebenheiten aus
der Geſchichte dramatiſch behandelt. Wir finden
zwar ſchon unter Shakeſpears Werken Stuͤke, die
einigermaaßen dahin koͤnnen gerechnet werden; weil
er nicht nur den Stoff aus der Geſchichte ſeines Lan-
des genommen, ſondern ihn auch, ohne Ruͤkſicht
auf die gemeinen Regeln der Schaubuͤhne, politiſch
behandelt hat. Doch iſt, ſo viel ich weiß, der be-
ruͤhmte Praͤſident Henault der erſte, der das politi-
ſche Trauerſpiehl, als eine ganz beſondere Gattung
des Drama, das mehr zum Leſen, als zur wuͤrkli-
chen Vorſtellung dienen ſollte, behandelt hat.
Jch will mich die Muͤhe nicht verdrießen laſſen,
mit dieſes beruͤhmten Mannes eigenen Worten zu
erzaͤhlen, wie er auf dieſe beſondere Art des Drama
gekommen iſt. (†)
„Die Geſchichte, ſagt er, hat dieſen großen Man-
gel, daß ſie blos erzaͤhlt; da man doch geſtehen muß,
daß dieſelben Begebenheiten, die ſie vortraͤgt, wenn
man die Handlung ſelbſt ſaͤhe, ganz andere Kraft
und inſonderheit ungleich mehr Klarheit fuͤr die Vor-
ſtellungskraft haben wuͤrden. Als ich Shakeſpears
Tragoͤdie, Heinrich VI ſah, war ich begierig die
ganze Geſchichte dieſes Prinzen in derſelben wieder
zu lernen — Jch las Shakeſpears Stuͤk um die
vielfaͤltigen ſchnell auf einander folgenden und einan-
der oft ganz entgegenſtreitenden Begebenheiten deſ-
ſelben mir recht lebhaft vorzuſtellen — Jch fand
jede beynahe in richtiger Ordnung der Zeit; ich ſah
die Hauptperſonen derſelben Zeit in wuͤrklicher Hand-
lung begriffen, die vor meinen Augen vorfiel; ich
erkannte ihre Sitten, ihre Jntereſſen, ihre Leiden-
ſchaften: ſie ſelbſt unterrichteten mich davon — da
dachte ich: warum iſt unſre Geſchichte nicht eben
ſo geſchrieben, und warum hat noch Niemand die-
ſen Einfall gehabt?“
Nachher merkt er ſehr richtig an, daß die Tra-
goͤdie nach der gewoͤhnlichen Form, da ſie nur eine
einzige, und kurze Handlung vorſtellt, wie das hi-
ſtoriſche Gemaͤhld, uns nicht hinlaͤnglich genug uͤber
die wichtigſten Punkte der Geſchichte unterrichten
kann. Daraus ſchließt er endlich, es ſey vernuͤnf-
tig eine Gattung zu verſuchen, darin die Vortheile
der Geſchicht und der Tragoͤdie vereiniget ſeyen. Er
unternahm es, und ſo entſtund ſein politiſches Trauer-
ſpiehl Franz II Koͤnig von Frankreich. Aber keiner
ſeiner Landsmaͤnner, die doch ſo aͤmſig fuͤr die Schau-
buͤhne arbeiten, ahmte ihm hierin nach.
Vor einigen Jahren kamen in Deutſchland nach
und nach verſchiedene dramatiſche Werke, unter dem
Titel politiſcher Trauerſpiehle heraus, davon die
meiſten unſern Bodmer zum Verfaſſer hatten. Ob
ſie nun gleich keine guͤnſtige Aufnahm erfahren, und
ſo gar in einigen critiſchen Schriften derſelben Zeit,
deren Verfaſſer es ſich zur Maxime ſcheinen gemacht
zu haben, den Vater der wahren Critik in Deutſch-
land zu verſpotten, ſo gar verhoͤhnt wurden; ſo ha-
ben verſchiedene Kenner ihren Werth, einiger darin
vorkommender in der That unnatuͤrlicher Ausdruͤke
ungeachtet, nicht verkennt. Sie ſahen, daß dieſes
Trauerſpiehl, als eine beſondere Gattung ſehr ſchik-
lich koͤnnte gebraucht werden, wichtige, politiſche
und patriotiſche Gemaͤhlde, die zu groß und zu weit-
laͤuftig ſind, nach den Regeln des eigentlichen Schau-
ſpiehls behandelt zu werden, ſo vorzuſtellen, daß ſie
weit mehr Leben bekommen, und weit groͤßere Wuͤr-
kung thun wuͤrden, als wenn man ſie blos hiſtoriſch
vorſtellte. Aus dieſem Grunde ſchien mir dieſe Gat-
tung auch hier einen beſondern Artikel zu erfodern.
Dieſen wuͤrde ich auch ausgearbeitet haben, wenn
mir nicht ein mir unbekannter Kenner darin zuvor-
gekommen waͤre. Dieſer hat mir vor einigen Mo-
naten einen beſondern Aufſaz uͤber dieſe Materie zu-
geſchikt, deu ich hier, weil er mir die ganze Sach
in ihrem eigentlichen Lichte ſcheint geſezt zu haben,
ganz einruͤken werde.
Es trift ſich gerade zu der Zeit, da dieſer Aufſaz
der Preſſe ſoll uͤbergeben werden, daß mir ein neues
Drama gerade wie Henault es wuͤnſchet: Goͤz von
Berlichingen in die Hand kommt, deſſen Verfaſſer,
durch die That ſelbſt, zeiget, daß er das politiſche
Drama einer genauen Bearbeitung wuͤrdig haͤlt.
Ver-
(†)
Folgendes iſt aus der Vorede, zu dem Trauerſpiehl
François II Roy de france en cinq Actes, genemmen.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 913[895]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/331>, abgerufen am 26.11.2024.
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