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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Poe

Da überhaupt der Dichter sich alles stärker und
lebhafter vorstellt, als andre Menschen, da seine
feurige Einbildungskraft den leblosen Dingen selbst
Leben giebt; so findet man in seiner Sprach auch
diese Lebhaftigkeit und eine alles belebende Phantasie.
Weil sein Gemüthszustand währendem Dichten et-
was außerordentliches hat, so hat es seine Sprach
ebenfalls. Welcher Mensch würde in einer gemei-
nen und gewöhnlichen Gemüthsfassung sich, wenn
er sagen wollte, er verlasse den großen Haufen de-
rer, die nach Reichthum trachten, und begnüge sich
mit dem höchst nothdürftigen so außerordentlich aus-
drüken, wie Horaz.

-- Nil cupientium
Nudus castra peto et transfuga divitum
Partes linquere gestio.

Wer, als ein in den höchsten poetischen Enthusias-
mus gesezter Mensch würde, anstatt -- Siehe!
Cäsar den man tod gesagt hatte, kommt siegreich
aus Spanien zurüke
-- sich so feyerlich, als Horaz
ausdrüken:

Herculis ritu modo dictus, o, plebs
Morte venalem petiisse laurum
Caesar hispana repetit penates
Victor ab ora.

Es ist nicht wol möglich jede Würkung des poetischen
Geistes, auf die Sprache anzuzeigen; sie kann sich
auf jede Kleinigkeit derselben erstreken. Vielwe-
niger lassen sich eigentliche Gränzen bestimmen, wo
die gemeine Sprach aufhöret, und die poetische an-
fängt. Den eigentlichen förmlichen Vers rechnen
wir nicht hieher; weil er aus überlegter Kunst ent-
standen ist; und weil die Sprach auch ohne ihn sehr
poetisch seyn kann. Bisweilen würket der poetische
Geist nur auf den Ton und den Gang der Rede, die
ohne Veränderung des Ausdruks, blos durch andre
Ordnung vom poetischen ins prosaische kann herun-
tergesezt werden. Folgende schöne Strophe

Viel zu theuer durchs Blut blühender Jünglinge,
Und der Mutter und Braut nächtliche Thrän' erkauft,
Lokt mit Silbergetön ihn die Unsterblichkeit
Jn das eiserne Feld umsonst!

könnte mit Beybehaltung jedes Worts, blos durch
veränderte Stellung derselben in eine zwar edle, aber
gar nicht poetische Prose verwandelt werden. Um-
sonst lokt ihn die Unsterblichkeit u. s. w.
Nur
die Ausdrüke Silbergetön und das eiserne Feld, müß-
[Spaltenumbruch]

Poe
ten etwas herabgestimmt werden. Folgendes Bey-
spiehl zeiget, daß ohne ein einziges Wort zu verän-
dern, eine schöne poetische Rede in eine völlig ge-
meine könne verwandelt werden. Niemand wird
sagen, daß folgende Rede poetisch sey. Equidem
rex, inquit, fatebor tibi cuncta, quaecumque fuerint
vera; neque negabo me de gente argolica: hoc
primum. Nec si improba fortuna finxit Sinonem
miserum, finget etiam vanum mendacemque,
und
doch wird sie, durch andre Ordnung, ohne Verän-
derung einer einzigen Sylbe in eine schöne poetische
Rede vewandelt.

Cuncta equidem tibi Rex fuerint quaecumque satebor,
Vera, inquit; neque me argolica de gente negabo.
Hoc primum; nec si miserum fortuna Sinonem
Finxit, vanum etiam mendacemque improba finget.
(*)

Andremale kommt zu der ungewöhnlichen poetischen
Ordnung und dem empfindungsvollen Gang noch
das hinzu, daß die Verbindungs- und Beziehungs-
wörter vom Dichter übergangen werden, und daß
dadurch seine Sprache poetisch wird, wie folgendes,
darin sonst kein Ausdruk, als das einzige Wort
singen poetisch ist.

Der Liebe Schmerzen, nicht der erwartenden
Noch ungellebten, die Schmerzen nicht,
Denn ich liebe, so liebte
Keiner! so werd ich geliebt!

Die sanftern Schmerzen, welche zum Wiedersehn
Hinbliken, welche zum Wiedersehn

Tief aufathmen, doch lispelt
Stammelnde Freude mit auf!

Die Schmerzen wollt ich singen -- (*)

Durch gehörige Versezungen und Einschaltung der
von dem Dichter übergangenen Verbindungs- und
Beziehungswörter könnte man diese recht pindari-
sche Strophen in eine gute gar nichts poetisches an
sich habende Rede verwandeln.

Dieses sind die einfachesten aber nicht die leichte-
sten Schritte zur poetischen Sprache. Man findet
bey den erhabensten Odendichtern, als bey Pindar
und Klopstok nicht selten dergleichen Strophen, und
doch ließt man sie mit Entzükung, blos weil die
Stellung und Verbindung der Wörter ihnen einen
hohen poetischen Ton geben.

Andremale wird die Sprache durch Einmischung
besonders ausgesuchter sehr starker, oder sehr mah-

lerischer
(*) S.
Parrha-
siana.
(*) Klopst.
Ode an
Cidli.
U u u u u 3
[Spaltenumbruch]
Poe

Da uͤberhaupt der Dichter ſich alles ſtaͤrker und
lebhafter vorſtellt, als andre Menſchen, da ſeine
feurige Einbildungskraft den lebloſen Dingen ſelbſt
Leben giebt; ſo findet man in ſeiner Sprach auch
dieſe Lebhaftigkeit und eine alles belebende Phantaſie.
Weil ſein Gemuͤthszuſtand waͤhrendem Dichten et-
was außerordentliches hat, ſo hat es ſeine Sprach
ebenfalls. Welcher Menſch wuͤrde in einer gemei-
nen und gewoͤhnlichen Gemuͤthsfaſſung ſich, wenn
er ſagen wollte, er verlaſſe den großen Haufen de-
rer, die nach Reichthum trachten, und begnuͤge ſich
mit dem hoͤchſt nothduͤrftigen ſo außerordentlich aus-
druͤken, wie Horaz.

Nil cupientium
Nudus caſtra peto et transfuga divitum
Partes linquere geſtio.

Wer, als ein in den hoͤchſten poetiſchen Enthuſias-
mus geſezter Menſch wuͤrde, anſtatt — Siehe!
Caͤſar den man tod geſagt hatte, kommt ſiegreich
aus Spanien zuruͤke
— ſich ſo feyerlich, als Horaz
ausdruͤken:

Herculis ritu modo dictus, o, plebs
Morte venalem petiiſſe laurum
Cæſar hiſpana repetit penates
Victor ab ora.

Es iſt nicht wol moͤglich jede Wuͤrkung des poetiſchen
Geiſtes, auf die Sprache anzuzeigen; ſie kann ſich
auf jede Kleinigkeit derſelben erſtreken. Vielwe-
niger laſſen ſich eigentliche Graͤnzen beſtimmen, wo
die gemeine Sprach aufhoͤret, und die poetiſche an-
faͤngt. Den eigentlichen foͤrmlichen Vers rechnen
wir nicht hieher; weil er aus uͤberlegter Kunſt ent-
ſtanden iſt; und weil die Sprach auch ohne ihn ſehr
poetiſch ſeyn kann. Bisweilen wuͤrket der poetiſche
Geiſt nur auf den Ton und den Gang der Rede, die
ohne Veraͤnderung des Ausdruks, blos durch andre
Ordnung vom poetiſchen ins proſaiſche kann herun-
tergeſezt werden. Folgende ſchoͤne Strophe

Viel zu theuer durchs Blut bluͤhender Juͤnglinge,
Und der Mutter und Braut naͤchtliche Thraͤn’ erkauft,
Lokt mit Silbergetoͤn ihn die Unſterblichkeit
Jn das eiſerne Feld umſonſt!

koͤnnte mit Beybehaltung jedes Worts, blos durch
veraͤnderte Stellung derſelben in eine zwar edle, aber
gar nicht poetiſche Proſe verwandelt werden. Um-
ſonſt lokt ihn die Unſterblichkeit u. ſ. w.
Nur
die Ausdruͤke Silbergetoͤn und das eiſerne Feld, muͤß-
[Spaltenumbruch]

Poe
ten etwas herabgeſtimmt werden. Folgendes Bey-
ſpiehl zeiget, daß ohne ein einziges Wort zu veraͤn-
dern, eine ſchoͤne poetiſche Rede in eine voͤllig ge-
meine koͤnne verwandelt werden. Niemand wird
ſagen, daß folgende Rede poetiſch ſey. Equidem
rex, inquit, fatebor tibi cuncta, quæcumque fuerint
vera; neque negabo me de gente argolica: hoc
primum. Nec ſi improba fortuna finxit Sinonem
miſerum, finget etiam vanum mendacemque,
und
doch wird ſie, durch andre Ordnung, ohne Veraͤn-
derung einer einzigen Sylbe in eine ſchoͤne poetiſche
Rede vewandelt.

Cuncta equidem tibi Rex fuerint quæcumque ſatebor,
Vera, inquit; neque me argolica de gente negabo.
Hoc primum; nec ſi miſerum fortuna Sinonem
Finxit, vanum etiam mendacemque improba finget.
(*)

Andremale kommt zu der ungewoͤhnlichen poetiſchen
Ordnung und dem empfindungsvollen Gang noch
das hinzu, daß die Verbindungs- und Beziehungs-
woͤrter vom Dichter uͤbergangen werden, und daß
dadurch ſeine Sprache poetiſch wird, wie folgendes,
darin ſonſt kein Ausdruk, als das einzige Wort
ſingen poetiſch iſt.

Der Liebe Schmerzen, nicht der erwartenden
Noch ungellebten, die Schmerzen nicht,
Denn ich liebe, ſo liebte
Keiner! ſo werd ich geliebt!

Die ſanftern Schmerzen, welche zum Wiederſehn
Hinbliken, welche zum Wiederſehn

Tief aufathmen, doch liſpelt
Stammelnde Freude mit auf!

Die Schmerzen wollt ich ſingen — (*)

Durch gehoͤrige Verſezungen und Einſchaltung der
von dem Dichter uͤbergangenen Verbindungs- und
Beziehungswoͤrter koͤnnte man dieſe recht pindari-
ſche Strophen in eine gute gar nichts poetiſches an
ſich habende Rede verwandeln.

Dieſes ſind die einfacheſten aber nicht die leichte-
ſten Schritte zur poetiſchen Sprache. Man findet
bey den erhabenſten Odendichtern, als bey Pindar
und Klopſtok nicht ſelten dergleichen Strophen, und
doch ließt man ſie mit Entzuͤkung, blos weil die
Stellung und Verbindung der Woͤrter ihnen einen
hohen poetiſchen Ton geben.

Andremale wird die Sprache durch Einmiſchung
beſonders ausgeſuchter ſehr ſtarker, oder ſehr mah-

leriſcher
(*) S.
Parrha-
ſiana.
(*) Klopſt.
Ode an
Cidli.
U u u u u 3
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[911[893]/0329] Poe Poe Da uͤberhaupt der Dichter ſich alles ſtaͤrker und lebhafter vorſtellt, als andre Menſchen, da ſeine feurige Einbildungskraft den lebloſen Dingen ſelbſt Leben giebt; ſo findet man in ſeiner Sprach auch dieſe Lebhaftigkeit und eine alles belebende Phantaſie. Weil ſein Gemuͤthszuſtand waͤhrendem Dichten et- was außerordentliches hat, ſo hat es ſeine Sprach ebenfalls. Welcher Menſch wuͤrde in einer gemei- nen und gewoͤhnlichen Gemuͤthsfaſſung ſich, wenn er ſagen wollte, er verlaſſe den großen Haufen de- rer, die nach Reichthum trachten, und begnuͤge ſich mit dem hoͤchſt nothduͤrftigen ſo außerordentlich aus- druͤken, wie Horaz. — Nil cupientium Nudus caſtra peto et transfuga divitum Partes linquere geſtio. Wer, als ein in den hoͤchſten poetiſchen Enthuſias- mus geſezter Menſch wuͤrde, anſtatt — Siehe! Caͤſar den man tod geſagt hatte, kommt ſiegreich aus Spanien zuruͤke — ſich ſo feyerlich, als Horaz ausdruͤken: Herculis ritu modo dictus, o, plebs Morte venalem petiiſſe laurum Cæſar hiſpana repetit penates Victor ab ora. Es iſt nicht wol moͤglich jede Wuͤrkung des poetiſchen Geiſtes, auf die Sprache anzuzeigen; ſie kann ſich auf jede Kleinigkeit derſelben erſtreken. Vielwe- niger laſſen ſich eigentliche Graͤnzen beſtimmen, wo die gemeine Sprach aufhoͤret, und die poetiſche an- faͤngt. Den eigentlichen foͤrmlichen Vers rechnen wir nicht hieher; weil er aus uͤberlegter Kunſt ent- ſtanden iſt; und weil die Sprach auch ohne ihn ſehr poetiſch ſeyn kann. Bisweilen wuͤrket der poetiſche Geiſt nur auf den Ton und den Gang der Rede, die ohne Veraͤnderung des Ausdruks, blos durch andre Ordnung vom poetiſchen ins proſaiſche kann herun- tergeſezt werden. Folgende ſchoͤne Strophe Viel zu theuer durchs Blut bluͤhender Juͤnglinge, Und der Mutter und Braut naͤchtliche Thraͤn’ erkauft, Lokt mit Silbergetoͤn ihn die Unſterblichkeit Jn das eiſerne Feld umſonſt! koͤnnte mit Beybehaltung jedes Worts, blos durch veraͤnderte Stellung derſelben in eine zwar edle, aber gar nicht poetiſche Proſe verwandelt werden. Um- ſonſt lokt ihn die Unſterblichkeit u. ſ. w. Nur die Ausdruͤke Silbergetoͤn und das eiſerne Feld, muͤß- ten etwas herabgeſtimmt werden. Folgendes Bey- ſpiehl zeiget, daß ohne ein einziges Wort zu veraͤn- dern, eine ſchoͤne poetiſche Rede in eine voͤllig ge- meine koͤnne verwandelt werden. Niemand wird ſagen, daß folgende Rede poetiſch ſey. Equidem rex, inquit, fatebor tibi cuncta, quæcumque fuerint vera; neque negabo me de gente argolica: hoc primum. Nec ſi improba fortuna finxit Sinonem miſerum, finget etiam vanum mendacemque, und doch wird ſie, durch andre Ordnung, ohne Veraͤn- derung einer einzigen Sylbe in eine ſchoͤne poetiſche Rede vewandelt. Cuncta equidem tibi Rex fuerint quæcumque ſatebor, Vera, inquit; neque me argolica de gente negabo. Hoc primum; nec ſi miſerum fortuna Sinonem Finxit, vanum etiam mendacemque improba finget. (*) Andremale kommt zu der ungewoͤhnlichen poetiſchen Ordnung und dem empfindungsvollen Gang noch das hinzu, daß die Verbindungs- und Beziehungs- woͤrter vom Dichter uͤbergangen werden, und daß dadurch ſeine Sprache poetiſch wird, wie folgendes, darin ſonſt kein Ausdruk, als das einzige Wort ſingen poetiſch iſt. Der Liebe Schmerzen, nicht der erwartenden Noch ungellebten, die Schmerzen nicht, Denn ich liebe, ſo liebte Keiner! ſo werd ich geliebt! Die ſanftern Schmerzen, welche zum Wiederſehn Hinbliken, welche zum Wiederſehn Tief aufathmen, doch liſpelt Stammelnde Freude mit auf! Die Schmerzen wollt ich ſingen — (*) Durch gehoͤrige Verſezungen und Einſchaltung der von dem Dichter uͤbergangenen Verbindungs- und Beziehungswoͤrter koͤnnte man dieſe recht pindari- ſche Strophen in eine gute gar nichts poetiſches an ſich habende Rede verwandeln. Dieſes ſind die einfacheſten aber nicht die leichte- ſten Schritte zur poetiſchen Sprache. Man findet bey den erhabenſten Odendichtern, als bey Pindar und Klopſtok nicht ſelten dergleichen Strophen, und doch ließt man ſie mit Entzuͤkung, blos weil die Stellung und Verbindung der Woͤrter ihnen einen hohen poetiſchen Ton geben. Andremale wird die Sprache durch Einmiſchung beſonders ausgeſuchter ſehr ſtarker, oder ſehr mah- leriſcher (*) S. Parrha- ſiana. (*) Klopſt. Ode an Cidli. U u u u u 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 911[893]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/329>, abgerufen am 26.11.2024.