Dadurch muß er zu einer solchen Kenntnis seiner selbst kommen, daß er beurtheilen kann, ob seine Art zu denken und zu empfinden über die gemeine Art des großen Haufens erhaben ist. Durch diese Mittel muß er ein solcher Beurtheiler und Kenner der Menschen werden, daß er auch das Kleine im Denken und Empfinden, was seinen Zeitgenossen noch anklebet, zu bemerken im Stande sey.
Die andere Gattung des Kleinen, das unter den guten ästhetischen Stoff aufgenommen zu wer- den verdienet, ist eine Art des Schönen, die Cicero übersehen hat, da er nur von zwey Arten spricht. (+) Der einen Art legt er männliche Würde, der andern weibliche Annehmlichkeit bey. Diese Vergleichung hätte ihn auf die dritte Art führen sollen, die er mit Anmuthigkeit und Artigkeit des kindischen Alters hätte vergleichen können. Vielleicht hat ihn das Ansehen des Aristoteles verhindert, diese Art zu bemerken; weil dieser philosophische Kunstrichter sagt, daß das Kleine nicht schön seyn könne. Für- nehmlich hat die Natur nur dem Guten Schönheit beygelegt, damit es uns desto sicherer reize, aber sie findet sich auch schon in der Blüthe des Guten. Die Schönheit der Blumen ist blos Annehmlichkeit, und so ist die Schönheit des Kindes.
Zu dieser Gattung rechnen wir alles blos Ange- nehme, das sonst zu keinem andern Genuß bestimmt ist, keine Begierde reizt, keine von den würksamen Nerven der Seele rühret, nichts als eine sanfte in sich selbst begränzte Empfindung erweket. Dieses ist also das Kleine, dessen sich auch die Künste, als Nachahmerinnen der Natur bedienen.
Jn der Dichtkunst, rechnen wir hieher, das was die anakreontische Art unschuldiges hat; alle kleine auf unschuldigen Scherz und Vergnügen abziehlende Lieder; in der Mahlerey die Blumen und Frucht- stüke, artige Landschaften; Vorstellungen gesellschaft- licher Ergötzlichkeiten u. d. gl.; in der Musik alles blos Angenehme und sanft Einwiegende, das sonst keinen leidenschaftlichen Charakter hat, und ver- schiedene der gesellschaftlichen Tänze von ebem die- sem Charakter; in der Baukunst, alles was zur Annehmlichkeit unsrer Wohnungen veranstaltet wird. Diese ganze Gattung hat keinen andern Zwek, als Anmuthigkeit und sanftes Vergnügen. Sie ist [Spaltenumbruch]
Kle
weniger schätzbar, als die höhern Arten des Schö- nen, aber darum nicht zu verachten. Man muß sie zur Erholung des Gemüths brauchen, das im- mer gewinnt, wenn es anstatt in völliger Unthätig- keit zu seyn, angenehme Eindrüke von sanfter Art genießt. Das Große dienet zur Erwekung, das Kleine zur Besänftigung der Leidenschaften; jenes zur Stärkung, dieses zur Milderung des Gemüths. Ehemals hatten die Großen in Rom die Gewohn- heit ganz kleine Kinder von schöner Bildung, die nakend in ihren Zimmern spielten, zu halten, um sich an der kindischen Anmuthigkeit zu ergötzen. Solche sanfte unschuldige Gegenstände mögen doch bisweilen die durch so manche Unruh und Sorge halb verwilderten Gemüther dieser Herren der Welt, auf eine Zeitlang besänftiget haben.
Es gehört ein besonderes Genie dazu, das Kleine in den Werken des Geschmaks gut zu behandeln, und man hat vielleicht in jeder andern Gattung mehr vollkommene Muster, als in dieser. Wer nicht einen feinen zärtlichen Geschmak, eine für je- den sanften Eindruk empfindsame Seele hat, würde sich vergeblich in dieses Feld wagen. Ernsthafte nach großen Gedanken und Empfindungen strebende Seelen, müßten in einer ausserordentlichen Gemüths- ruhe seyn, um das Schöne im Kleinen zu erreichen. Es würde einem Michael Angelo leichter gewesen seyn, ein Gemählde vom Weltgericht, als ein schö- nes Blumenstük zu verfertigen. Doch sehen wir an dem Beyspiel des großen Schakespear, daß diese beyden Gemüthslagen, die zum Großen und zum Kleinen tüchtig machen, bisweilen mit einander ab- wechseln. Man hat ehedem geglaubt, daß das Genie der Deutschen für die kleine Schönheit zu rohe sey. Aber diesen Vorwurf haben sie durch die That von sich abgelehnt. Schon Hagedorn hat fürtrefliche Lieder in dieser Gattung; nach ihm ha- ben Gleim, und neulich Jacobi und einige andere bewiesen, daß das deutsche Genie auch hierin an- dern nichts nachgebe.
Aber das Vergnügen, daß einige Kunstrichter über diese neuen Proben des feinern deutschen Wi- tzes empfunden haben, hat sie zu weit verleitet. Sie haben nach dem Beyspiel einiger französischen Kunstrichter diesem Kleinen einen so großen Werth
bey-
(+)[Spaltenumbruch] Pulchritudinis duo sunt genera quorum in altero venustas sit, in altero dignitas; venustatem ma- [Spaltenumbruch]
liebrem ducere debemus, dignitatem virilem. Offic. L. I.
F f f f 2
[Spaltenumbruch]
Kle
Dadurch muß er zu einer ſolchen Kenntnis ſeiner ſelbſt kommen, daß er beurtheilen kann, ob ſeine Art zu denken und zu empfinden uͤber die gemeine Art des großen Haufens erhaben iſt. Durch dieſe Mittel muß er ein ſolcher Beurtheiler und Kenner der Menſchen werden, daß er auch das Kleine im Denken und Empfinden, was ſeinen Zeitgenoſſen noch anklebet, zu bemerken im Stande ſey.
Die andere Gattung des Kleinen, das unter den guten aͤſthetiſchen Stoff aufgenommen zu wer- den verdienet, iſt eine Art des Schoͤnen, die Cicero uͤberſehen hat, da er nur von zwey Arten ſpricht. (†) Der einen Art legt er maͤnnliche Wuͤrde, der andern weibliche Annehmlichkeit bey. Dieſe Vergleichung haͤtte ihn auf die dritte Art fuͤhren ſollen, die er mit Anmuthigkeit und Artigkeit des kindiſchen Alters haͤtte vergleichen koͤnnen. Vielleicht hat ihn das Anſehen des Ariſtoteles verhindert, dieſe Art zu bemerken; weil dieſer philoſophiſche Kunſtrichter ſagt, daß das Kleine nicht ſchoͤn ſeyn koͤnne. Fuͤr- nehmlich hat die Natur nur dem Guten Schoͤnheit beygelegt, damit es uns deſto ſicherer reize, aber ſie findet ſich auch ſchon in der Bluͤthe des Guten. Die Schoͤnheit der Blumen iſt blos Annehmlichkeit, und ſo iſt die Schoͤnheit des Kindes.
Zu dieſer Gattung rechnen wir alles blos Ange- nehme, das ſonſt zu keinem andern Genuß beſtimmt iſt, keine Begierde reizt, keine von den wuͤrkſamen Nerven der Seele ruͤhret, nichts als eine ſanfte in ſich ſelbſt begraͤnzte Empfindung erweket. Dieſes iſt alſo das Kleine, deſſen ſich auch die Kuͤnſte, als Nachahmerinnen der Natur bedienen.
Jn der Dichtkunſt, rechnen wir hieher, das was die anakreontiſche Art unſchuldiges hat; alle kleine auf unſchuldigen Scherz und Vergnuͤgen abziehlende Lieder; in der Mahlerey die Blumen und Frucht- ſtuͤke, artige Landſchaften; Vorſtellungen geſellſchaft- licher Ergoͤtzlichkeiten u. d. gl.; in der Muſik alles blos Angenehme und ſanft Einwiegende, das ſonſt keinen leidenſchaftlichen Charakter hat, und ver- ſchiedene der geſellſchaftlichen Taͤnze von ebem die- ſem Charakter; in der Baukunſt, alles was zur Annehmlichkeit unſrer Wohnungen veranſtaltet wird. Dieſe ganze Gattung hat keinen andern Zwek, als Anmuthigkeit und ſanftes Vergnuͤgen. Sie iſt [Spaltenumbruch]
Kle
weniger ſchaͤtzbar, als die hoͤhern Arten des Schoͤ- nen, aber darum nicht zu verachten. Man muß ſie zur Erholung des Gemuͤths brauchen, das im- mer gewinnt, wenn es anſtatt in voͤlliger Unthaͤtig- keit zu ſeyn, angenehme Eindruͤke von ſanfter Art genießt. Das Große dienet zur Erwekung, das Kleine zur Beſaͤnftigung der Leidenſchaften; jenes zur Staͤrkung, dieſes zur Milderung des Gemuͤths. Ehemals hatten die Großen in Rom die Gewohn- heit ganz kleine Kinder von ſchoͤner Bildung, die nakend in ihren Zimmern ſpielten, zu halten, um ſich an der kindiſchen Anmuthigkeit zu ergoͤtzen. Solche ſanfte unſchuldige Gegenſtaͤnde moͤgen doch bisweilen die durch ſo manche Unruh und Sorge halb verwilderten Gemuͤther dieſer Herren der Welt, auf eine Zeitlang beſaͤnftiget haben.
Es gehoͤrt ein beſonderes Genie dazu, das Kleine in den Werken des Geſchmaks gut zu behandeln, und man hat vielleicht in jeder andern Gattung mehr vollkommene Muſter, als in dieſer. Wer nicht einen feinen zaͤrtlichen Geſchmak, eine fuͤr je- den ſanften Eindruk empfindſame Seele hat, wuͤrde ſich vergeblich in dieſes Feld wagen. Ernſthafte nach großen Gedanken und Empfindungen ſtrebende Seelen, muͤßten in einer auſſerordentlichen Gemuͤths- ruhe ſeyn, um das Schoͤne im Kleinen zu erreichen. Es wuͤrde einem Michael Angelo leichter geweſen ſeyn, ein Gemaͤhlde vom Weltgericht, als ein ſchoͤ- nes Blumenſtuͤk zu verfertigen. Doch ſehen wir an dem Beyſpiel des großen Schakeſpear, daß dieſe beyden Gemuͤthslagen, die zum Großen und zum Kleinen tuͤchtig machen, bisweilen mit einander ab- wechſeln. Man hat ehedem geglaubt, daß das Genie der Deutſchen fuͤr die kleine Schoͤnheit zu rohe ſey. Aber dieſen Vorwurf haben ſie durch die That von ſich abgelehnt. Schon Hagedorn hat fuͤrtrefliche Lieder in dieſer Gattung; nach ihm ha- ben Gleim, und neulich Jacobi und einige andere bewieſen, daß das deutſche Genie auch hierin an- dern nichts nachgebe.
Aber das Vergnuͤgen, daß einige Kunſtrichter uͤber dieſe neuen Proben des feinern deutſchen Wi- tzes empfunden haben, hat ſie zu weit verleitet. Sie haben nach dem Beyſpiel einiger franzoͤſiſchen Kunſtrichter dieſem Kleinen einen ſo großen Werth
bey-
(†)[Spaltenumbruch] Pulchritudinis duo ſunt genera quorum in altero venuſtas ſit, in altero dignitas; venuſtatem ma- [Spaltenumbruch]
liebrem ducere debemus, dignitatem virilem. Offic. L. I.
F f f f 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0030"n="595"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kle</hi></fw><lb/>
Dadurch muß er zu einer ſolchen Kenntnis ſeiner<lb/>ſelbſt kommen, daß er beurtheilen kann, ob ſeine<lb/>
Art zu denken und zu empfinden uͤber die gemeine<lb/>
Art des großen Haufens erhaben iſt. Durch dieſe<lb/>
Mittel muß er ein ſolcher Beurtheiler und Kenner<lb/>
der Menſchen werden, daß er auch das Kleine im<lb/>
Denken und Empfinden, was ſeinen Zeitgenoſſen<lb/>
noch anklebet, zu bemerken im Stande ſey.</p><lb/><p>Die andere Gattung des Kleinen, das unter<lb/>
den guten aͤſthetiſchen Stoff aufgenommen zu wer-<lb/>
den verdienet, iſt eine Art des Schoͤnen, die Cicero<lb/>
uͤberſehen hat, da er nur von zwey Arten ſpricht. <noteplace="foot"n="(†)"><cb/><lb/><hirendition="#aq">Pulchritudinis duo ſunt genera quorum in<lb/>
altero venuſtas ſit, in altero dignitas; venuſtatem ma-<lb/><cb/>
liebrem ducere debemus, dignitatem virilem. Offic.<lb/>
L. I.</hi></note><lb/>
Der einen Art legt er maͤnnliche Wuͤrde, der andern<lb/>
weibliche Annehmlichkeit bey. Dieſe Vergleichung<lb/>
haͤtte ihn auf die dritte Art fuͤhren ſollen, die er<lb/>
mit Anmuthigkeit und Artigkeit des kindiſchen Alters<lb/>
haͤtte vergleichen koͤnnen. Vielleicht hat ihn das<lb/>
Anſehen des Ariſtoteles verhindert, dieſe Art zu<lb/>
bemerken; weil dieſer philoſophiſche Kunſtrichter<lb/>ſagt, daß das Kleine nicht ſchoͤn ſeyn koͤnne. Fuͤr-<lb/>
nehmlich hat die Natur nur dem Guten Schoͤnheit<lb/>
beygelegt, damit es uns deſto ſicherer reize, aber<lb/>ſie findet ſich auch ſchon in der Bluͤthe des Guten.<lb/>
Die Schoͤnheit der Blumen iſt blos Annehmlichkeit,<lb/>
und ſo iſt die Schoͤnheit des Kindes.</p><lb/><p>Zu dieſer Gattung rechnen wir alles blos Ange-<lb/>
nehme, das ſonſt zu keinem andern Genuß beſtimmt<lb/>
iſt, keine Begierde reizt, keine von den wuͤrkſamen<lb/>
Nerven der Seele ruͤhret, nichts als eine ſanfte in<lb/>ſich ſelbſt begraͤnzte Empfindung erweket. Dieſes<lb/>
iſt alſo das Kleine, deſſen ſich auch die Kuͤnſte, als<lb/>
Nachahmerinnen der Natur bedienen.</p><lb/><p>Jn der Dichtkunſt, rechnen wir hieher, das was<lb/>
die anakreontiſche Art unſchuldiges hat; alle kleine<lb/>
auf unſchuldigen Scherz und Vergnuͤgen abziehlende<lb/>
Lieder; in der Mahlerey die Blumen und Frucht-<lb/>ſtuͤke, artige Landſchaften; Vorſtellungen geſellſchaft-<lb/>
licher Ergoͤtzlichkeiten u. d. gl.; in der Muſik alles<lb/>
blos Angenehme und ſanft Einwiegende, das ſonſt<lb/>
keinen leidenſchaftlichen Charakter hat, und ver-<lb/>ſchiedene der geſellſchaftlichen Taͤnze von ebem die-<lb/>ſem Charakter; in der Baukunſt, alles was zur<lb/>
Annehmlichkeit unſrer Wohnungen veranſtaltet wird.<lb/>
Dieſe ganze Gattung hat keinen andern Zwek, als<lb/>
Anmuthigkeit und ſanftes Vergnuͤgen. Sie iſt<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kle</hi></fw><lb/>
weniger ſchaͤtzbar, als die hoͤhern Arten des Schoͤ-<lb/>
nen, aber darum nicht zu verachten. Man muß<lb/>ſie zur Erholung des Gemuͤths brauchen, das im-<lb/>
mer gewinnt, wenn es anſtatt in voͤlliger Unthaͤtig-<lb/>
keit zu ſeyn, angenehme Eindruͤke von ſanfter Art<lb/>
genießt. Das Große dienet zur Erwekung, das<lb/>
Kleine zur Beſaͤnftigung der Leidenſchaften; jenes<lb/>
zur Staͤrkung, dieſes zur Milderung des Gemuͤths.<lb/>
Ehemals hatten die Großen in Rom die Gewohn-<lb/>
heit ganz kleine Kinder von ſchoͤner Bildung, die<lb/>
nakend in ihren Zimmern ſpielten, zu halten, um<lb/>ſich an der kindiſchen Anmuthigkeit zu ergoͤtzen.<lb/>
Solche ſanfte unſchuldige Gegenſtaͤnde moͤgen doch<lb/>
bisweilen die durch ſo manche Unruh und Sorge<lb/>
halb verwilderten Gemuͤther dieſer Herren der Welt,<lb/>
auf eine Zeitlang beſaͤnftiget haben.</p><lb/><p>Es gehoͤrt ein beſonderes Genie dazu, das Kleine<lb/>
in den Werken des Geſchmaks gut zu behandeln,<lb/>
und man hat vielleicht in jeder andern Gattung<lb/>
mehr vollkommene Muſter, als in dieſer. Wer<lb/>
nicht einen feinen zaͤrtlichen Geſchmak, eine fuͤr je-<lb/>
den ſanften Eindruk empfindſame Seele hat, wuͤrde<lb/>ſich vergeblich in dieſes Feld wagen. Ernſthafte<lb/>
nach großen Gedanken und Empfindungen ſtrebende<lb/>
Seelen, muͤßten in einer auſſerordentlichen Gemuͤths-<lb/>
ruhe ſeyn, um das Schoͤne im Kleinen zu erreichen.<lb/>
Es wuͤrde einem Michael Angelo leichter geweſen<lb/>ſeyn, ein Gemaͤhlde vom Weltgericht, als ein ſchoͤ-<lb/>
nes Blumenſtuͤk zu verfertigen. Doch ſehen wir<lb/>
an dem Beyſpiel des großen Schakeſpear, daß dieſe<lb/>
beyden Gemuͤthslagen, die zum Großen und zum<lb/>
Kleinen tuͤchtig machen, bisweilen mit einander ab-<lb/>
wechſeln. Man hat ehedem geglaubt, daß das<lb/>
Genie der Deutſchen fuͤr die kleine Schoͤnheit zu<lb/>
rohe ſey. Aber dieſen Vorwurf haben ſie durch die<lb/>
That von ſich abgelehnt. Schon <hirendition="#fr">Hagedorn</hi> hat<lb/>
fuͤrtrefliche Lieder in dieſer Gattung; nach ihm ha-<lb/>
ben <hirendition="#fr">Gleim,</hi> und neulich <hirendition="#fr">Jacobi</hi> und einige andere<lb/>
bewieſen, daß das deutſche Genie auch hierin an-<lb/>
dern nichts nachgebe.</p><lb/><p>Aber das Vergnuͤgen, daß einige Kunſtrichter<lb/>
uͤber dieſe neuen Proben des feinern deutſchen Wi-<lb/>
tzes empfunden haben, hat ſie zu weit verleitet.<lb/>
Sie haben nach dem Beyſpiel einiger franzoͤſiſchen<lb/>
Kunſtrichter dieſem Kleinen einen ſo großen Werth<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F f f f 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">bey-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[595/0030]
Kle
Kle
Dadurch muß er zu einer ſolchen Kenntnis ſeiner
ſelbſt kommen, daß er beurtheilen kann, ob ſeine
Art zu denken und zu empfinden uͤber die gemeine
Art des großen Haufens erhaben iſt. Durch dieſe
Mittel muß er ein ſolcher Beurtheiler und Kenner
der Menſchen werden, daß er auch das Kleine im
Denken und Empfinden, was ſeinen Zeitgenoſſen
noch anklebet, zu bemerken im Stande ſey.
Die andere Gattung des Kleinen, das unter
den guten aͤſthetiſchen Stoff aufgenommen zu wer-
den verdienet, iſt eine Art des Schoͤnen, die Cicero
uͤberſehen hat, da er nur von zwey Arten ſpricht. (†)
Der einen Art legt er maͤnnliche Wuͤrde, der andern
weibliche Annehmlichkeit bey. Dieſe Vergleichung
haͤtte ihn auf die dritte Art fuͤhren ſollen, die er
mit Anmuthigkeit und Artigkeit des kindiſchen Alters
haͤtte vergleichen koͤnnen. Vielleicht hat ihn das
Anſehen des Ariſtoteles verhindert, dieſe Art zu
bemerken; weil dieſer philoſophiſche Kunſtrichter
ſagt, daß das Kleine nicht ſchoͤn ſeyn koͤnne. Fuͤr-
nehmlich hat die Natur nur dem Guten Schoͤnheit
beygelegt, damit es uns deſto ſicherer reize, aber
ſie findet ſich auch ſchon in der Bluͤthe des Guten.
Die Schoͤnheit der Blumen iſt blos Annehmlichkeit,
und ſo iſt die Schoͤnheit des Kindes.
Zu dieſer Gattung rechnen wir alles blos Ange-
nehme, das ſonſt zu keinem andern Genuß beſtimmt
iſt, keine Begierde reizt, keine von den wuͤrkſamen
Nerven der Seele ruͤhret, nichts als eine ſanfte in
ſich ſelbſt begraͤnzte Empfindung erweket. Dieſes
iſt alſo das Kleine, deſſen ſich auch die Kuͤnſte, als
Nachahmerinnen der Natur bedienen.
Jn der Dichtkunſt, rechnen wir hieher, das was
die anakreontiſche Art unſchuldiges hat; alle kleine
auf unſchuldigen Scherz und Vergnuͤgen abziehlende
Lieder; in der Mahlerey die Blumen und Frucht-
ſtuͤke, artige Landſchaften; Vorſtellungen geſellſchaft-
licher Ergoͤtzlichkeiten u. d. gl.; in der Muſik alles
blos Angenehme und ſanft Einwiegende, das ſonſt
keinen leidenſchaftlichen Charakter hat, und ver-
ſchiedene der geſellſchaftlichen Taͤnze von ebem die-
ſem Charakter; in der Baukunſt, alles was zur
Annehmlichkeit unſrer Wohnungen veranſtaltet wird.
Dieſe ganze Gattung hat keinen andern Zwek, als
Anmuthigkeit und ſanftes Vergnuͤgen. Sie iſt
weniger ſchaͤtzbar, als die hoͤhern Arten des Schoͤ-
nen, aber darum nicht zu verachten. Man muß
ſie zur Erholung des Gemuͤths brauchen, das im-
mer gewinnt, wenn es anſtatt in voͤlliger Unthaͤtig-
keit zu ſeyn, angenehme Eindruͤke von ſanfter Art
genießt. Das Große dienet zur Erwekung, das
Kleine zur Beſaͤnftigung der Leidenſchaften; jenes
zur Staͤrkung, dieſes zur Milderung des Gemuͤths.
Ehemals hatten die Großen in Rom die Gewohn-
heit ganz kleine Kinder von ſchoͤner Bildung, die
nakend in ihren Zimmern ſpielten, zu halten, um
ſich an der kindiſchen Anmuthigkeit zu ergoͤtzen.
Solche ſanfte unſchuldige Gegenſtaͤnde moͤgen doch
bisweilen die durch ſo manche Unruh und Sorge
halb verwilderten Gemuͤther dieſer Herren der Welt,
auf eine Zeitlang beſaͤnftiget haben.
Es gehoͤrt ein beſonderes Genie dazu, das Kleine
in den Werken des Geſchmaks gut zu behandeln,
und man hat vielleicht in jeder andern Gattung
mehr vollkommene Muſter, als in dieſer. Wer
nicht einen feinen zaͤrtlichen Geſchmak, eine fuͤr je-
den ſanften Eindruk empfindſame Seele hat, wuͤrde
ſich vergeblich in dieſes Feld wagen. Ernſthafte
nach großen Gedanken und Empfindungen ſtrebende
Seelen, muͤßten in einer auſſerordentlichen Gemuͤths-
ruhe ſeyn, um das Schoͤne im Kleinen zu erreichen.
Es wuͤrde einem Michael Angelo leichter geweſen
ſeyn, ein Gemaͤhlde vom Weltgericht, als ein ſchoͤ-
nes Blumenſtuͤk zu verfertigen. Doch ſehen wir
an dem Beyſpiel des großen Schakeſpear, daß dieſe
beyden Gemuͤthslagen, die zum Großen und zum
Kleinen tuͤchtig machen, bisweilen mit einander ab-
wechſeln. Man hat ehedem geglaubt, daß das
Genie der Deutſchen fuͤr die kleine Schoͤnheit zu
rohe ſey. Aber dieſen Vorwurf haben ſie durch die
That von ſich abgelehnt. Schon Hagedorn hat
fuͤrtrefliche Lieder in dieſer Gattung; nach ihm ha-
ben Gleim, und neulich Jacobi und einige andere
bewieſen, daß das deutſche Genie auch hierin an-
dern nichts nachgebe.
Aber das Vergnuͤgen, daß einige Kunſtrichter
uͤber dieſe neuen Proben des feinern deutſchen Wi-
tzes empfunden haben, hat ſie zu weit verleitet.
Sie haben nach dem Beyſpiel einiger franzoͤſiſchen
Kunſtrichter dieſem Kleinen einen ſo großen Werth
bey-
(†)
Pulchritudinis duo ſunt genera quorum in
altero venuſtas ſit, in altero dignitas; venuſtatem ma-
liebrem ducere debemus, dignitatem virilem. Offic.
L. I.
F f f f 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/30>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.