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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Jn vielstimmigen Sachen verdoppelt man bey dem
Orgelpunkt die Töne, die bey dem eigentlichen
Basse, der da stehen müßte, wenn der liegen-
de Baßton weggenommen würde, zu verdoppeln
wären.

Jnsgemein bringt man in Fugen bey dem Haupt-
schluß einen Orgelpunkt so an, daß die verschiedenen
Säze und Gegensäze, die in der Fuge vorgekommen
auf einen liegendem Basse so weit es angehet, verei-
niget werden. Doch wird er auch bey andern Kir-
chensachen, die nicht als Fugen behandelt werden,
angebracht.

Originalgeist.
(Schöne Künste.)

Diesen Namen verdienen die Menschen, die in
ihrem Denken und Handeln so viel Eigenes haben,
daß sie sich von andern merklich auszeichnen; deren
Charakter eine besondere Art ausmacht, in der sie
die einzigen sind. Hier betrachten wir den Original-
geist in so fern er sich in den Werken der Kunst zei-
get, denen er ein eigenes, sich von der Art aller
andern Künstler stark auszeichnendes Gepräg giebt.
Der Originalgeist wird dem Nachahmer entgegen
gestellt, wie wir schon anderswo erinnert haben. (*)
Es ist in verschiedenen Stellen dieses Werks (*) an-
gemerket worden, daß der wahre Ursprung aller
schönen Künste in der Natur des menschlichen Ge-
müthes anzutreffen ist; daß Menschen von mehr
als gewöhnlicher Lebhaftigkeit der Phantasie und der
Empfindung, die zugleich ein schärferes Gefühl des
Schönen haben, als andere, aus eigenem Trieb
und nicht durch fremdes Beyspiehl gereizt, gewissen
Werken, oder Aeußerungen des Genies und der
Empfindung durch überlegte Bearbeitung eine Form
und einen Charakter geben, wodurch sie zu Werken
der schönen Kunst werden. Diese sind in den schö-
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Ori
nen Künsten Erfinder, auch denn, wenn sie in ihrer
Gattung nicht die ersten sind, sondern bereits Vor-
gänger gehabt haben: sie sind Originalgeister, in
so fern sie nicht aus Nachahmung, sondern aus
Trieb des eigenen Genies Werke der schönen Kunst
verfertiget haben. Gemeiniglich werden dergleichen
Genie in ihren Erfindungen und auch in ihrem Ge-
schmak, genug Eigenes haben, daß sie auch darin
Original sind. Wenn diese Köpfe keine Vorgänger
gehabt hätten, so würden sie die ersten Urheber ihrer
Kunst gewesen seyn, weil die Natur ihnen alles da-
zu nöthige gegeben hat. Sie sind, wie Young sagt,
zufällige Originale.

Man erkennet dergleichen Originalgeister daran,
daß sie einen unwiederstehlichen Trieb zu ihrer Kunst
haben; daß sie alle Hindernisse, die sich ihnen gegen
die Ausübung derselben in den Weg legen, über-
winden; daß ihnen Ersindung und Ausübung leicht
wird; daß die zu einem Werk nöthige Materie ihnen
gleichsam in vollem Strohm zufließt, und daß sie,
wenn gleich die Natur mehrere ihnen ähnliche Genie
sollte hervorgebracht haben, doch allemal in einigen
Theilen viel eigenes und besonderes zeigen. Es
giebt zwar auch hierin Grade, und ein solcher Ori-
ginalgeist hat vor dem andern mehr Muth und Kühn-
heit: daher kann es kommen, daß einige Erfinder
neuer Arten sind, andere sich an die Formen und
Arten halten, die sie eingeführt finden, und in die-
sem Punkt Nachahmer sind. So ist in der Dicht-
kunst Horaz ein Originalgeist, der in den Formen
das Bekannte nachgeahmt hat; Klopstok aber hat
neue Formen erfunden: in der Musik war unser
Graun unstreitig ein Originalgeist, aber er hat in
den Formen nichts Neues: in der Mahlerey war
Raphael gewiß Original, aber in den Formen hat
er sich ungleich mehr an das gewöhnliche gehalten,
als Hogarth. Man kann also ein Originalgeist
seyn und doch in gar viel Dingen sich nach dem ge-
wöhnlichen richten: so ist auch Virgil in vielen Stü-
ken ein bloßer Nachahmer, und doch ist er in eige-
nem reich genug um unter die Originalgeister gesezt
zu werden.

Die Originalgeister, in welchem Stük der Kunst
sie es seyen, sind aus mehr, als einem Grunde,
wie Young sich ausdrükt, unsre großen Lieblinge,
und sie müssen es auch seyn; denn sie sind große
Wolthäter; sie erweitern das Reich der Wissenschaf-
ten und vergrößern ihr Gebieth mit einer neuen

Pro-
(*) S.
Nachah-
mung.
(*) S.
Künste,
Dichtkunst
Gesang,
Musik u. a.
O o o o o 2
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Jn vielſtimmigen Sachen verdoppelt man bey dem
Orgelpunkt die Toͤne, die bey dem eigentlichen
Baſſe, der da ſtehen muͤßte, wenn der liegen-
de Baßton weggenommen wuͤrde, zu verdoppeln
waͤren.

Jnsgemein bringt man in Fugen bey dem Haupt-
ſchluß einen Orgelpunkt ſo an, daß die verſchiedenen
Saͤze und Gegenſaͤze, die in der Fuge vorgekommen
auf einen liegendem Baſſe ſo weit es angehet, verei-
niget werden. Doch wird er auch bey andern Kir-
chenſachen, die nicht als Fugen behandelt werden,
angebracht.

Originalgeiſt.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Dieſen Namen verdienen die Menſchen, die in
ihrem Denken und Handeln ſo viel Eigenes haben,
daß ſie ſich von andern merklich auszeichnen; deren
Charakter eine beſondere Art ausmacht, in der ſie
die einzigen ſind. Hier betrachten wir den Original-
geiſt in ſo fern er ſich in den Werken der Kunſt zei-
get, denen er ein eigenes, ſich von der Art aller
andern Kuͤnſtler ſtark auszeichnendes Gepraͤg giebt.
Der Originalgeiſt wird dem Nachahmer entgegen
geſtellt, wie wir ſchon anderswo erinnert haben. (*)
Es iſt in verſchiedenen Stellen dieſes Werks (*) an-
gemerket worden, daß der wahre Urſprung aller
ſchoͤnen Kuͤnſte in der Natur des menſchlichen Ge-
muͤthes anzutreffen iſt; daß Menſchen von mehr
als gewoͤhnlicher Lebhaftigkeit der Phantaſie und der
Empfindung, die zugleich ein ſchaͤrferes Gefuͤhl des
Schoͤnen haben, als andere, aus eigenem Trieb
und nicht durch fremdes Beyſpiehl gereizt, gewiſſen
Werken, oder Aeußerungen des Genies und der
Empfindung durch uͤberlegte Bearbeitung eine Form
und einen Charakter geben, wodurch ſie zu Werken
der ſchoͤnen Kunſt werden. Dieſe ſind in den ſchoͤ-
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Ori
nen Kuͤnſten Erfinder, auch denn, wenn ſie in ihrer
Gattung nicht die erſten ſind, ſondern bereits Vor-
gaͤnger gehabt haben: ſie ſind Originalgeiſter, in
ſo fern ſie nicht aus Nachahmung, ſondern aus
Trieb des eigenen Genies Werke der ſchoͤnen Kunſt
verfertiget haben. Gemeiniglich werden dergleichen
Genie in ihren Erfindungen und auch in ihrem Ge-
ſchmak, genug Eigenes haben, daß ſie auch darin
Original ſind. Wenn dieſe Koͤpfe keine Vorgaͤnger
gehabt haͤtten, ſo wuͤrden ſie die erſten Urheber ihrer
Kunſt geweſen ſeyn, weil die Natur ihnen alles da-
zu noͤthige gegeben hat. Sie ſind, wie Young ſagt,
zufaͤllige Originale.

Man erkennet dergleichen Originalgeiſter daran,
daß ſie einen unwiederſtehlichen Trieb zu ihrer Kunſt
haben; daß ſie alle Hinderniſſe, die ſich ihnen gegen
die Ausuͤbung derſelben in den Weg legen, uͤber-
winden; daß ihnen Erſindung und Ausuͤbung leicht
wird; daß die zu einem Werk noͤthige Materie ihnen
gleichſam in vollem Strohm zufließt, und daß ſie,
wenn gleich die Natur mehrere ihnen aͤhnliche Genie
ſollte hervorgebracht haben, doch allemal in einigen
Theilen viel eigenes und beſonderes zeigen. Es
giebt zwar auch hierin Grade, und ein ſolcher Ori-
ginalgeiſt hat vor dem andern mehr Muth und Kuͤhn-
heit: daher kann es kommen, daß einige Erfinder
neuer Arten ſind, andere ſich an die Formen und
Arten halten, die ſie eingefuͤhrt finden, und in die-
ſem Punkt Nachahmer ſind. So iſt in der Dicht-
kunſt Horaz ein Originalgeiſt, der in den Formen
das Bekannte nachgeahmt hat; Klopſtok aber hat
neue Formen erfunden: in der Muſik war unſer
Graun unſtreitig ein Originalgeiſt, aber er hat in
den Formen nichts Neues: in der Mahlerey war
Raphael gewiß Original, aber in den Formen hat
er ſich ungleich mehr an das gewoͤhnliche gehalten,
als Hogarth. Man kann alſo ein Originalgeiſt
ſeyn und doch in gar viel Dingen ſich nach dem ge-
woͤhnlichen richten: ſo iſt auch Virgil in vielen Stuͤ-
ken ein bloßer Nachahmer, und doch iſt er in eige-
nem reich genug um unter die Originalgeiſter geſezt
zu werden.

Die Originalgeiſter, in welchem Stuͤk der Kunſt
ſie es ſeyen, ſind aus mehr, als einem Grunde,
wie Young ſich ausdruͤkt, unſre großen Lieblinge,
und ſie muͤſſen es auch ſeyn; denn ſie ſind große
Wolthaͤter; ſie erweitern das Reich der Wiſſenſchaf-
ten und vergroͤßern ihr Gebieth mit einer neuen

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(*) S.
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mung.
(*) S.
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[861[843]/0278] Ori Ori [Abbildung] Jn vielſtimmigen Sachen verdoppelt man bey dem Orgelpunkt die Toͤne, die bey dem eigentlichen Baſſe, der da ſtehen muͤßte, wenn der liegen- de Baßton weggenommen wuͤrde, zu verdoppeln waͤren. Jnsgemein bringt man in Fugen bey dem Haupt- ſchluß einen Orgelpunkt ſo an, daß die verſchiedenen Saͤze und Gegenſaͤze, die in der Fuge vorgekommen auf einen liegendem Baſſe ſo weit es angehet, verei- niget werden. Doch wird er auch bey andern Kir- chenſachen, die nicht als Fugen behandelt werden, angebracht. Originalgeiſt. (Schoͤne Kuͤnſte.) Dieſen Namen verdienen die Menſchen, die in ihrem Denken und Handeln ſo viel Eigenes haben, daß ſie ſich von andern merklich auszeichnen; deren Charakter eine beſondere Art ausmacht, in der ſie die einzigen ſind. Hier betrachten wir den Original- geiſt in ſo fern er ſich in den Werken der Kunſt zei- get, denen er ein eigenes, ſich von der Art aller andern Kuͤnſtler ſtark auszeichnendes Gepraͤg giebt. Der Originalgeiſt wird dem Nachahmer entgegen geſtellt, wie wir ſchon anderswo erinnert haben. (*) Es iſt in verſchiedenen Stellen dieſes Werks (*) an- gemerket worden, daß der wahre Urſprung aller ſchoͤnen Kuͤnſte in der Natur des menſchlichen Ge- muͤthes anzutreffen iſt; daß Menſchen von mehr als gewoͤhnlicher Lebhaftigkeit der Phantaſie und der Empfindung, die zugleich ein ſchaͤrferes Gefuͤhl des Schoͤnen haben, als andere, aus eigenem Trieb und nicht durch fremdes Beyſpiehl gereizt, gewiſſen Werken, oder Aeußerungen des Genies und der Empfindung durch uͤberlegte Bearbeitung eine Form und einen Charakter geben, wodurch ſie zu Werken der ſchoͤnen Kunſt werden. Dieſe ſind in den ſchoͤ- nen Kuͤnſten Erfinder, auch denn, wenn ſie in ihrer Gattung nicht die erſten ſind, ſondern bereits Vor- gaͤnger gehabt haben: ſie ſind Originalgeiſter, in ſo fern ſie nicht aus Nachahmung, ſondern aus Trieb des eigenen Genies Werke der ſchoͤnen Kunſt verfertiget haben. Gemeiniglich werden dergleichen Genie in ihren Erfindungen und auch in ihrem Ge- ſchmak, genug Eigenes haben, daß ſie auch darin Original ſind. Wenn dieſe Koͤpfe keine Vorgaͤnger gehabt haͤtten, ſo wuͤrden ſie die erſten Urheber ihrer Kunſt geweſen ſeyn, weil die Natur ihnen alles da- zu noͤthige gegeben hat. Sie ſind, wie Young ſagt, zufaͤllige Originale. Man erkennet dergleichen Originalgeiſter daran, daß ſie einen unwiederſtehlichen Trieb zu ihrer Kunſt haben; daß ſie alle Hinderniſſe, die ſich ihnen gegen die Ausuͤbung derſelben in den Weg legen, uͤber- winden; daß ihnen Erſindung und Ausuͤbung leicht wird; daß die zu einem Werk noͤthige Materie ihnen gleichſam in vollem Strohm zufließt, und daß ſie, wenn gleich die Natur mehrere ihnen aͤhnliche Genie ſollte hervorgebracht haben, doch allemal in einigen Theilen viel eigenes und beſonderes zeigen. Es giebt zwar auch hierin Grade, und ein ſolcher Ori- ginalgeiſt hat vor dem andern mehr Muth und Kuͤhn- heit: daher kann es kommen, daß einige Erfinder neuer Arten ſind, andere ſich an die Formen und Arten halten, die ſie eingefuͤhrt finden, und in die- ſem Punkt Nachahmer ſind. So iſt in der Dicht- kunſt Horaz ein Originalgeiſt, der in den Formen das Bekannte nachgeahmt hat; Klopſtok aber hat neue Formen erfunden: in der Muſik war unſer Graun unſtreitig ein Originalgeiſt, aber er hat in den Formen nichts Neues: in der Mahlerey war Raphael gewiß Original, aber in den Formen hat er ſich ungleich mehr an das gewoͤhnliche gehalten, als Hogarth. Man kann alſo ein Originalgeiſt ſeyn und doch in gar viel Dingen ſich nach dem ge- woͤhnlichen richten: ſo iſt auch Virgil in vielen Stuͤ- ken ein bloßer Nachahmer, und doch iſt er in eige- nem reich genug um unter die Originalgeiſter geſezt zu werden. Die Originalgeiſter, in welchem Stuͤk der Kunſt ſie es ſeyen, ſind aus mehr, als einem Grunde, wie Young ſich ausdruͤkt, unſre großen Lieblinge, und ſie muͤſſen es auch ſeyn; denn ſie ſind große Wolthaͤter; ſie erweitern das Reich der Wiſſenſchaf- ten und vergroͤßern ihr Gebieth mit einer neuen Pro- (*) S. Nachah- mung. (*) S. Kuͤnſte, Dichtkunſt Geſang, Muſik u. a. O o o o o 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 861[843]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/278>, abgerufen am 29.11.2024.