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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ode

Die eilfte Ode des ersten Buches ist nichts an-
deres, als dieser Saz: es ist klüger das Gegenwär-
tige zu genießen, als sich ängstlich um das Künftige
zu bekümmern.
Er ist auf die kürzeste und einfa-
cheste Weise in eine Ode verwandelt. Diese Ver-
wandlung wird dadurch bewürkt, daß der Dichter
mit Affekt die Leükonoe anredet, und den allgemei-
nen Gedanken auf den besondern Fall dieser Person
mit Wärme und lebhaftem Jntresse anwendet, da-
neben alles mit starken poetischen Farben mahlet.
Die zehnte Ode des zweyten Buchs ist die ganz
gemeine Lehre, "daß ein weiser Mann sich weder
durch das anscheinende Glük zu großen und gefährli-
chen Unternehmungen verleiten, noch durch jedem klei-
nen Anfall des wiedrigen Glüks kleinmüthig machen
läßt," höchst poetisch vorgetragen und ausgebildet.
Der Dichter redet einen Freund an, dem er diese
Lehre in einem warmen dringenden Ton einschärft.
Erst wird sie in einer kurzen sehr mahlerischen Al-
legorie vorgetragen.

Rectius vives, Licini, neque altum
Semper urguende; neque dum procellas
Cautus horrescis, nimium premende
Littus iniquum.

Denn folget ein affektvolle Anpreisung eines durch
Mäßigung glüklichen Lebens, sehr kurz und lebhaft
durch ein paar mahlerische Meisterzüge ausgedrükt.

Auream quisquis mediocritatem
Diligit, tutus caret obsoleti
Sordibus tecti, caret invidenda
Sobrius aula.

Schon diese beyde Strophen stellen uns eine Ode
dar. Aber es liegt dem Dichter sehr am Herzen,
seinen Freund gänzlich von jener Lehre zu überzeu-
gen. Darum fährt er in dem affektreichen Ton
fort zuerst die heftige Unruh, die die Hoheit beglei-
tet, und die große Gefahr die ihr drohet, durch zwey
höchst treffende allegorische Bilder zu schildern;

Saepius ventis agitatur ingens
Pinus; et celsae graviore casu
Decidunt turres; seriuntque summo[s]
Fulgura montes.

hernach seinen Freund zu erinnern, wie ein wahr-
haftig weiser Mann bey wiedrigem und günstigen
Glücke dessen Veränderlichkeit bedenkt, dessen ihn
auch der Lauf der Natur erinnert. Daraus zieht
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Ode
er den Schluß, daß ein gegenwärtiges wiedriges
Glük, eine bessere Zukunft hoffen lasse.

-- Non si male nunc et olim
Sic erit.

Zulezt stellt er durch ein angenehmes Bild vom
Apollo, der nicht immer in ernsthaften Geschäften
den Bogen spannt, sondern auch bisweilen durch
den Klang der Cither, sich zu angenehmen Zeitver-
treib ermuntert, vor, daß ein weiser Mann sich nicht
ohne Unterlaß mit schweeren Geschäften abgiebt;
und schließt endlich mit der Vermahnung, im wie-
drigem Glüke sich herzhaft, und im günstigem vor-
sichtig zu zeigen, welches ebenfalls in einer sehr kur-
zen und fürtreflichen Allegorie geschieht.

Rebus angustis animosus atque
Fortis appare; sapienter idem
Contrahes vento nimium secunde
Turgida vela.

Hier siehet man sehr deutlich, wie eine gemeine Vor-
stellung durch das Genie des Dichters zur Ode ge-
worden.

Aus der fünften Ode des ersten Buches sehen
wir, wie ein bloßer Verweis, den der Dichter einem
Frauenzimmer wegen ihrer Unbeständigkeit in der
Liebe giebt, zu einer sehr schönen Ode wird. Der
Dichter wollte im Grund nichts sagen, als dieses
einzige: du bist eine Unbeständige, die mich nicht
mehr anloken wird.
Die Wendung die er diesem
Gedanken giebt, und der höchstlebhafte Ausdruk,
macht ihn zur Ode. "Wen magst du nun gefesselt
halten, o! Pyrrha? -- Ach der Unglükliche weiß
nicht wie bald du ihm untreu werden wirst! Jch
bin aus deinen Fesseln, wie aus einem Schifforuch
gerettet, und habe meine nassen Kleider aus Dank-
barkeit dem Neptunus geweyht!"

Man siehet aus diesen Beyspiehlen, wie ganz ge-
meine Gedanken durch den starken Affekt in dem sie vor-
getragen werden, und durch Einkleidung in lebhafte
Bilder zur Ode werden. Würde jemand sagen; seit-
dem Sybaris die Lydia liebt, hasset er die freye Luft
und die Leibesübungen etc. so lag ehedem der Sohn
der Thetis verstekt;
so weiß man nicht, ob er ein
satyrisches Epigramma machen, oder blos die selt-
fame Würkung der Liebe an diesem Beyspiehl, in
philosophischem Ernste zeigen will. Wenn aber die-
ser Zustand des Verliebten einen Dichter von leb-
haftem Genie in leidenschaftliche Empfindung sezet;

wenn
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Ode

Die eilfte Ode des erſten Buches iſt nichts an-
deres, als dieſer Saz: es iſt kluͤger das Gegenwaͤr-
tige zu genießen, als ſich aͤngſtlich um das Kuͤnftige
zu bekuͤmmern.
Er iſt auf die kuͤrzeſte und einfa-
cheſte Weiſe in eine Ode verwandelt. Dieſe Ver-
wandlung wird dadurch bewuͤrkt, daß der Dichter
mit Affekt die Leuͤkonoe anredet, und den allgemei-
nen Gedanken auf den beſondern Fall dieſer Perſon
mit Waͤrme und lebhaftem Jntreſſe anwendet, da-
neben alles mit ſtarken poetiſchen Farben mahlet.
Die zehnte Ode des zweyten Buchs iſt die ganz
gemeine Lehre, „daß ein weiſer Mann ſich weder
durch das anſcheinende Gluͤk zu großen und gefaͤhrli-
chen Unternehmungen verleiten, noch durch jedem klei-
nen Anfall des wiedrigen Gluͤks kleinmuͤthig machen
laͤßt,„ hoͤchſt poetiſch vorgetragen und ausgebildet.
Der Dichter redet einen Freund an, dem er dieſe
Lehre in einem warmen dringenden Ton einſchaͤrft.
Erſt wird ſie in einer kurzen ſehr mahleriſchen Al-
legorie vorgetragen.

Rectius vives, Licini, neque altum
Semper urguende; neque dum procellas
Cautus horreſcis, nimium premende
Littus iniquum.

Denn folget ein affektvolle Anpreiſung eines durch
Maͤßigung gluͤklichen Lebens, ſehr kurz und lebhaft
durch ein paar mahleriſche Meiſterzuͤge ausgedruͤkt.

Auream quisquis mediocritatem
Diligit, tutus caret obſoleti
Sordibus tecti, caret invidenda
Sobrius aula.

Schon dieſe beyde Strophen ſtellen uns eine Ode
dar. Aber es liegt dem Dichter ſehr am Herzen,
ſeinen Freund gaͤnzlich von jener Lehre zu uͤberzeu-
gen. Darum faͤhrt er in dem affektreichen Ton
fort zuerſt die heftige Unruh, die die Hoheit beglei-
tet, und die große Gefahr die ihr drohet, durch zwey
hoͤchſt treffende allegoriſche Bilder zu ſchildern;

Sæpius ventis agitatur ingens
Pinus; et celſæ graviore caſu
Decidunt turres; ſeriuntque ſummo[s]
Fulgura montes.

hernach ſeinen Freund zu erinnern, wie ein wahr-
haftig weiſer Mann bey wiedrigem und guͤnſtigen
Gluͤcke deſſen Veraͤnderlichkeit bedenkt, deſſen ihn
auch der Lauf der Natur erinnert. Daraus zieht
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Ode
er den Schluß, daß ein gegenwaͤrtiges wiedriges
Gluͤk, eine beſſere Zukunft hoffen laſſe.

Non ſi male nunc et olim
Sic erit.

Zulezt ſtellt er durch ein angenehmes Bild vom
Apollo, der nicht immer in ernſthaften Geſchaͤften
den Bogen ſpannt, ſondern auch bisweilen durch
den Klang der Cither, ſich zu angenehmen Zeitver-
treib ermuntert, vor, daß ein weiſer Mann ſich nicht
ohne Unterlaß mit ſchweeren Geſchaͤften abgiebt;
und ſchließt endlich mit der Vermahnung, im wie-
drigem Gluͤke ſich herzhaft, und im guͤnſtigem vor-
ſichtig zu zeigen, welches ebenfalls in einer ſehr kur-
zen und fuͤrtreflichen Allegorie geſchieht.

Rebus anguſtis animoſus atque
Fortis appare; ſapienter idem
Contrahes vento nimium ſecunde
Turgida vela.

Hier ſiehet man ſehr deutlich, wie eine gemeine Vor-
ſtellung durch das Genie des Dichters zur Ode ge-
worden.

Aus der fuͤnften Ode des erſten Buches ſehen
wir, wie ein bloßer Verweis, den der Dichter einem
Frauenzimmer wegen ihrer Unbeſtaͤndigkeit in der
Liebe giebt, zu einer ſehr ſchoͤnen Ode wird. Der
Dichter wollte im Grund nichts ſagen, als dieſes
einzige: du biſt eine Unbeſtaͤndige, die mich nicht
mehr anloken wird.
Die Wendung die er dieſem
Gedanken giebt, und der hoͤchſtlebhafte Ausdruk,
macht ihn zur Ode. „Wen magſt du nun gefeſſelt
halten, o! Pyrrha? — Ach der Ungluͤkliche weiß
nicht wie bald du ihm untreu werden wirſt! Jch
bin aus deinen Feſſeln, wie aus einem Schifforuch
gerettet, und habe meine naſſen Kleider aus Dank-
barkeit dem Neptunus geweyht!„

Man ſiehet aus dieſen Beyſpiehlen, wie ganz ge-
meine Gedanken durch den ſtarken Affekt in dem ſie vor-
getragen werden, und durch Einkleidung in lebhafte
Bilder zur Ode werden. Wuͤrde jemand ſagen; ſeit-
dem Sybaris die Lydia liebt, haſſet er die freye Luft
und die Leibesuͤbungen ꝛc. ſo lag ehedem der Sohn
der Thetis verſtekt;
ſo weiß man nicht, ob er ein
ſatyriſches Epigramma machen, oder blos die ſelt-
fame Wuͤrkung der Liebe an dieſem Beyſpiehl, in
philoſophiſchem Ernſte zeigen will. Wenn aber die-
ſer Zuſtand des Verliebten einen Dichter von leb-
haftem Genie in leidenſchaftliche Empfindung ſezet;

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[836[818]/0253] Ode Ode Die eilfte Ode des erſten Buches iſt nichts an- deres, als dieſer Saz: es iſt kluͤger das Gegenwaͤr- tige zu genießen, als ſich aͤngſtlich um das Kuͤnftige zu bekuͤmmern. Er iſt auf die kuͤrzeſte und einfa- cheſte Weiſe in eine Ode verwandelt. Dieſe Ver- wandlung wird dadurch bewuͤrkt, daß der Dichter mit Affekt die Leuͤkonoe anredet, und den allgemei- nen Gedanken auf den beſondern Fall dieſer Perſon mit Waͤrme und lebhaftem Jntreſſe anwendet, da- neben alles mit ſtarken poetiſchen Farben mahlet. Die zehnte Ode des zweyten Buchs iſt die ganz gemeine Lehre, „daß ein weiſer Mann ſich weder durch das anſcheinende Gluͤk zu großen und gefaͤhrli- chen Unternehmungen verleiten, noch durch jedem klei- nen Anfall des wiedrigen Gluͤks kleinmuͤthig machen laͤßt,„ hoͤchſt poetiſch vorgetragen und ausgebildet. Der Dichter redet einen Freund an, dem er dieſe Lehre in einem warmen dringenden Ton einſchaͤrft. Erſt wird ſie in einer kurzen ſehr mahleriſchen Al- legorie vorgetragen. Rectius vives, Licini, neque altum Semper urguende; neque dum procellas Cautus horreſcis, nimium premende Littus iniquum. Denn folget ein affektvolle Anpreiſung eines durch Maͤßigung gluͤklichen Lebens, ſehr kurz und lebhaft durch ein paar mahleriſche Meiſterzuͤge ausgedruͤkt. Auream quisquis mediocritatem Diligit, tutus caret obſoleti Sordibus tecti, caret invidenda Sobrius aula. Schon dieſe beyde Strophen ſtellen uns eine Ode dar. Aber es liegt dem Dichter ſehr am Herzen, ſeinen Freund gaͤnzlich von jener Lehre zu uͤberzeu- gen. Darum faͤhrt er in dem affektreichen Ton fort zuerſt die heftige Unruh, die die Hoheit beglei- tet, und die große Gefahr die ihr drohet, durch zwey hoͤchſt treffende allegoriſche Bilder zu ſchildern; Sæpius ventis agitatur ingens Pinus; et celſæ graviore caſu Decidunt turres; ſeriuntque ſummos Fulgura montes. hernach ſeinen Freund zu erinnern, wie ein wahr- haftig weiſer Mann bey wiedrigem und guͤnſtigen Gluͤcke deſſen Veraͤnderlichkeit bedenkt, deſſen ihn auch der Lauf der Natur erinnert. Daraus zieht er den Schluß, daß ein gegenwaͤrtiges wiedriges Gluͤk, eine beſſere Zukunft hoffen laſſe. — Non ſi male nunc et olim Sic erit. Zulezt ſtellt er durch ein angenehmes Bild vom Apollo, der nicht immer in ernſthaften Geſchaͤften den Bogen ſpannt, ſondern auch bisweilen durch den Klang der Cither, ſich zu angenehmen Zeitver- treib ermuntert, vor, daß ein weiſer Mann ſich nicht ohne Unterlaß mit ſchweeren Geſchaͤften abgiebt; und ſchließt endlich mit der Vermahnung, im wie- drigem Gluͤke ſich herzhaft, und im guͤnſtigem vor- ſichtig zu zeigen, welches ebenfalls in einer ſehr kur- zen und fuͤrtreflichen Allegorie geſchieht. Rebus anguſtis animoſus atque Fortis appare; ſapienter idem Contrahes vento nimium ſecunde Turgida vela. Hier ſiehet man ſehr deutlich, wie eine gemeine Vor- ſtellung durch das Genie des Dichters zur Ode ge- worden. Aus der fuͤnften Ode des erſten Buches ſehen wir, wie ein bloßer Verweis, den der Dichter einem Frauenzimmer wegen ihrer Unbeſtaͤndigkeit in der Liebe giebt, zu einer ſehr ſchoͤnen Ode wird. Der Dichter wollte im Grund nichts ſagen, als dieſes einzige: du biſt eine Unbeſtaͤndige, die mich nicht mehr anloken wird. Die Wendung die er dieſem Gedanken giebt, und der hoͤchſtlebhafte Ausdruk, macht ihn zur Ode. „Wen magſt du nun gefeſſelt halten, o! Pyrrha? — Ach der Ungluͤkliche weiß nicht wie bald du ihm untreu werden wirſt! Jch bin aus deinen Feſſeln, wie aus einem Schifforuch gerettet, und habe meine naſſen Kleider aus Dank- barkeit dem Neptunus geweyht!„ Man ſiehet aus dieſen Beyſpiehlen, wie ganz ge- meine Gedanken durch den ſtarken Affekt in dem ſie vor- getragen werden, und durch Einkleidung in lebhafte Bilder zur Ode werden. Wuͤrde jemand ſagen; ſeit- dem Sybaris die Lydia liebt, haſſet er die freye Luft und die Leibesuͤbungen ꝛc. ſo lag ehedem der Sohn der Thetis verſtekt; ſo weiß man nicht, ob er ein ſatyriſches Epigramma machen, oder blos die ſelt- fame Wuͤrkung der Liebe an dieſem Beyſpiehl, in philoſophiſchem Ernſte zeigen will. Wenn aber die- ſer Zuſtand des Verliebten einen Dichter von leb- haftem Genie in leidenſchaftliche Empfindung ſezet; wenn

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 836[818]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/253>, abgerufen am 22.11.2024.