Gefühl, und nicht die Meinung des Volks zur Führerin.(*)
Wir müssen nun auch die Natur als das allge- meine Magazin betrachten, in welchem der Künst- ler den Stoff zu seinem Werk, oder doch etwas fin- det, nach dessen Aehnlichkeit er sich selbst seine Ma- terie bildet. Der allgemeine Zwek aller schönen Künste ist, wie wir oft angemerkt haben, vermit- telst lebhafter Vorstellung gewisser mit ästhetischer Kraft versehener Gegenstände, auf eine vortheilhafte Weise auf die Gemüther der Menschen zu würken. Da dieses offenbar auch eine von den wolthätigen Absichten der Natur, bey Hervorbringung und Aus- schmükung ihrer Werke gewesen; und da sie in ihren Verrichtungen von der höchsten Weisheit geleitet worden; so finden sich auch unter diesen Werken alle Arten der Gegenstände, die zu jenem Zwek dien- lich sind. Der Künstler hat also nur für jeden be- sondern Fall zu wählen, was ihm dienet; oder, wenn er das, was ihm nöthig ist, nicht gerade so in der Natur findet, welches gar wol geschehen kann, da sie nach allgemeinen Absichten handelte; so kann er nach dem Muster der vorhandenen Gegenstände, andere blos zu seinem Zwek eingerichtete, durch sein eigenes Genie bilden. Für beyde Fälle ist ihm eine genaue und ausgebreitete Kenntnis der in der kör- perlichen und sittlichen Natur vorhandenen Dinge, und der in ihnen liegenden Kräfte höchst nothwen- dig. Da die glükliche Wahl der Materie den mei- sten Antheil an dem Werth eines vollkommenen Werks der Kunst hat; so ist dem Künstler nichts mehr zu empfehlen, als eine unabläßige Beobach- tung der in der Schöpfung vorhandenen Dinge, und ihrer Kräfte. Unaufhörlich muß er seine äus- sern und innern Sinnen gespannt halten; jene da- mit ihm von allen Werken der Natur, die ihm vor- kommen, keines unbemerkt entgehe; diese, damit er allemal genaue Kenntnis von der Würkung be- komme, die jeder beobachtete Gegenstand unter den alsdenn vorhandenen Umständen auf ihn machet. Dieses ist der einzige Weg das Genie zu bereiche- ren, und ihm für jeden Fall, da es für die Kunst arbeitet, den nöthigen Stoff an die Hand zu ge- ben. Man höret oft von reichen Genien und er- finderischen Köpfen sprechen, die in den schönen Kün- sten groß geworden. Diese sind keine andere, als die fleißigsten und scharfsinnigsten Beobachter der Natur. Ein solcher war vorzüglich Homer; dessen [Spaltenumbruch]
Nat
scharfen Auge (was man auch von seiner Blindheit sagt) nichts entgieng. Daher der überschwengli- che Reichthum seiner Vorstellungen.
Es giebt Künstler, welche die Natur nur durch die zweyte Hand kennen; weil sie sie nicht in dem Leben selbst, sondern in den Werken andrer Künstler beobachtet haben. Diese werden, was für Geschik- lichkeit zur Kunst sie sonst haben mögen, allemal nur schwache Nachahmer bleiben, die höchstens ihre eigene Manier in Bearbeitung der Dinge haben. Aber man merkt es, daß sie die Natur nicht selbst gesehen; ihre Gegenstände sind entlehnet, und die Darstellung derselben hat das Leben nicht, das die wahren Meister, die nach der Natur gezeichnet ha- ben, ihnen zu geben vermochten. Es ist sehr natür- lich, daß ein in der Natur vorhandener Gegenstand lebhafter rühret, als sein Schattenbild, das man aus Erzählung, oder Nachzeichnung bekommt: ist aber der Künstler selbst weniger gerührt, so muß nothwendig seine Zeichnung weniger Kraft und Le- ben haben. Man kann alle Geschichtschreiber, die Schlachten und Aufruhr und Tumulte beschrieben haben, auswendig wissen, ohne dadurch so viel ge- wonnen zu haben, eines dieser fürchterlichen Dinge mit wahrer Lebhaftigkeit zu schildern; dazu gehört nothwendig eigene Erfahrung. So ist es mit jeder Vorstellung und mit jeder Empfindung. Darum ist das Studium der Natur immer die Hauptsache jedes Künstlers.
Es trift sich gar ofte, daß der Künstler den ihm nöthigen Gegenstand in der Natur nicht gerade so antrift, wie er ihn braucht. Denn er hat nicht eben gerade den so bestimmten Zwek, den die Na- tur bey Hervorbringung des Gegenstandes gehabt hat. Da stehen ihm zwey Wege offen sich zu helfen. Entweder bildet er sich aus dem mit seiner Absicht am nächsten übereinstimmenden Gegenstand ein Jdeal; so machten es die griechischen Bildhauer, wenn sie Götter, oder Helden abzubilden hatten (*); oder er braucht seine, durch lange Beobachtung genug bereicherte Phantasie, um sich selbst den nöthigen Gegenstand zu erschaffen. Aber da muß er sich ge- nan an die Horazische Regel, Ficta sint proxima veris, halten; sonst schaffet er ein Hirngespinst, ohne Kraft und ohne Leben. Jn solchen Erdichtun- gen kann keiner glüklich seyn, der nicht durch eine lange, dabey scharfe Beobachtung der Natur ein sicheres Gefühl von dem eigentlichen Gepräge, das
natür-
(*) S. Plutarch. im Leben des Cicero.
(*) S. Jdeal.
Zweyter Theil. H h h h h
[Spaltenumbruch]
Nat
Gefuͤhl, und nicht die Meinung des Volks zur Fuͤhrerin.(*)
Wir muͤſſen nun auch die Natur als das allge- meine Magazin betrachten, in welchem der Kuͤnſt- ler den Stoff zu ſeinem Werk, oder doch etwas fin- det, nach deſſen Aehnlichkeit er ſich ſelbſt ſeine Ma- terie bildet. Der allgemeine Zwek aller ſchoͤnen Kuͤnſte iſt, wie wir oft angemerkt haben, vermit- telſt lebhafter Vorſtellung gewiſſer mit aͤſthetiſcher Kraft verſehener Gegenſtaͤnde, auf eine vortheilhafte Weiſe auf die Gemuͤther der Menſchen zu wuͤrken. Da dieſes offenbar auch eine von den wolthaͤtigen Abſichten der Natur, bey Hervorbringung und Aus- ſchmuͤkung ihrer Werke geweſen; und da ſie in ihren Verrichtungen von der hoͤchſten Weisheit geleitet worden; ſo finden ſich auch unter dieſen Werken alle Arten der Gegenſtaͤnde, die zu jenem Zwek dien- lich ſind. Der Kuͤnſtler hat alſo nur fuͤr jeden be- ſondern Fall zu waͤhlen, was ihm dienet; oder, wenn er das, was ihm noͤthig iſt, nicht gerade ſo in der Natur findet, welches gar wol geſchehen kann, da ſie nach allgemeinen Abſichten handelte; ſo kann er nach dem Muſter der vorhandenen Gegenſtaͤnde, andere blos zu ſeinem Zwek eingerichtete, durch ſein eigenes Genie bilden. Fuͤr beyde Faͤlle iſt ihm eine genaue und ausgebreitete Kenntnis der in der koͤr- perlichen und ſittlichen Natur vorhandenen Dinge, und der in ihnen liegenden Kraͤfte hoͤchſt nothwen- dig. Da die gluͤkliche Wahl der Materie den mei- ſten Antheil an dem Werth eines vollkommenen Werks der Kunſt hat; ſo iſt dem Kuͤnſtler nichts mehr zu empfehlen, als eine unablaͤßige Beobach- tung der in der Schoͤpfung vorhandenen Dinge, und ihrer Kraͤfte. Unaufhoͤrlich muß er ſeine aͤuſ- ſern und innern Sinnen geſpannt halten; jene da- mit ihm von allen Werken der Natur, die ihm vor- kommen, keines unbemerkt entgehe; dieſe, damit er allemal genaue Kenntnis von der Wuͤrkung be- komme, die jeder beobachtete Gegenſtand unter den alsdenn vorhandenen Umſtaͤnden auf ihn machet. Dieſes iſt der einzige Weg das Genie zu bereiche- ren, und ihm fuͤr jeden Fall, da es fuͤr die Kunſt arbeitet, den noͤthigen Stoff an die Hand zu ge- ben. Man hoͤret oft von reichen Genien und er- finderiſchen Koͤpfen ſprechen, die in den ſchoͤnen Kuͤn- ſten groß geworden. Dieſe ſind keine andere, als die fleißigſten und ſcharfſinnigſten Beobachter der Natur. Ein ſolcher war vorzuͤglich Homer; deſſen [Spaltenumbruch]
Nat
ſcharfen Auge (was man auch von ſeiner Blindheit ſagt) nichts entgieng. Daher der uͤberſchwengli- che Reichthum ſeiner Vorſtellungen.
Es giebt Kuͤnſtler, welche die Natur nur durch die zweyte Hand kennen; weil ſie ſie nicht in dem Leben ſelbſt, ſondern in den Werken andrer Kuͤnſtler beobachtet haben. Dieſe werden, was fuͤr Geſchik- lichkeit zur Kunſt ſie ſonſt haben moͤgen, allemal nur ſchwache Nachahmer bleiben, die hoͤchſtens ihre eigene Manier in Bearbeitung der Dinge haben. Aber man merkt es, daß ſie die Natur nicht ſelbſt geſehen; ihre Gegenſtaͤnde ſind entlehnet, und die Darſtellung derſelben hat das Leben nicht, das die wahren Meiſter, die nach der Natur gezeichnet ha- ben, ihnen zu geben vermochten. Es iſt ſehr natuͤr- lich, daß ein in der Natur vorhandener Gegenſtand lebhafter ruͤhret, als ſein Schattenbild, das man aus Erzaͤhlung, oder Nachzeichnung bekommt: iſt aber der Kuͤnſtler ſelbſt weniger geruͤhrt, ſo muß nothwendig ſeine Zeichnung weniger Kraft und Le- ben haben. Man kann alle Geſchichtſchreiber, die Schlachten und Aufruhr und Tumulte beſchrieben haben, auswendig wiſſen, ohne dadurch ſo viel ge- wonnen zu haben, eines dieſer fuͤrchterlichen Dinge mit wahrer Lebhaftigkeit zu ſchildern; dazu gehoͤrt nothwendig eigene Erfahrung. So iſt es mit jeder Vorſtellung und mit jeder Empfindung. Darum iſt das Studium der Natur immer die Hauptſache jedes Kuͤnſtlers.
Es trift ſich gar ofte, daß der Kuͤnſtler den ihm noͤthigen Gegenſtand in der Natur nicht gerade ſo antrift, wie er ihn braucht. Denn er hat nicht eben gerade den ſo beſtimmten Zwek, den die Na- tur bey Hervorbringung des Gegenſtandes gehabt hat. Da ſtehen ihm zwey Wege offen ſich zu helfen. Entweder bildet er ſich aus dem mit ſeiner Abſicht am naͤchſten uͤbereinſtimmenden Gegenſtand ein Jdeal; ſo machten es die griechiſchen Bildhauer, wenn ſie Goͤtter, oder Helden abzubilden hatten (*); oder er braucht ſeine, durch lange Beobachtung genug bereicherte Phantaſie, um ſich ſelbſt den noͤthigen Gegenſtand zu erſchaffen. Aber da muß er ſich ge- nan an die Horaziſche Regel, Ficta ſint proxima veris, halten; ſonſt ſchaffet er ein Hirngeſpinſt, ohne Kraft und ohne Leben. Jn ſolchen Erdichtun- gen kann keiner gluͤklich ſeyn, der nicht durch eine lange, dabey ſcharfe Beobachtung der Natur ein ſicheres Gefuͤhl von dem eigentlichen Gepraͤge, das
natuͤr-
(*) S. Plutarch. im Leben des Cicero.
(*) S. Jdeal.
Zweyter Theil. H h h h h
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[811[793]/0228]
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Gefuͤhl, und nicht die Meinung des Volks zur
Fuͤhrerin. (*)
Wir muͤſſen nun auch die Natur als das allge-
meine Magazin betrachten, in welchem der Kuͤnſt-
ler den Stoff zu ſeinem Werk, oder doch etwas fin-
det, nach deſſen Aehnlichkeit er ſich ſelbſt ſeine Ma-
terie bildet. Der allgemeine Zwek aller ſchoͤnen
Kuͤnſte iſt, wie wir oft angemerkt haben, vermit-
telſt lebhafter Vorſtellung gewiſſer mit aͤſthetiſcher
Kraft verſehener Gegenſtaͤnde, auf eine vortheilhafte
Weiſe auf die Gemuͤther der Menſchen zu wuͤrken.
Da dieſes offenbar auch eine von den wolthaͤtigen
Abſichten der Natur, bey Hervorbringung und Aus-
ſchmuͤkung ihrer Werke geweſen; und da ſie in ihren
Verrichtungen von der hoͤchſten Weisheit geleitet
worden; ſo finden ſich auch unter dieſen Werken
alle Arten der Gegenſtaͤnde, die zu jenem Zwek dien-
lich ſind. Der Kuͤnſtler hat alſo nur fuͤr jeden be-
ſondern Fall zu waͤhlen, was ihm dienet; oder,
wenn er das, was ihm noͤthig iſt, nicht gerade ſo
in der Natur findet, welches gar wol geſchehen kann,
da ſie nach allgemeinen Abſichten handelte; ſo kann
er nach dem Muſter der vorhandenen Gegenſtaͤnde,
andere blos zu ſeinem Zwek eingerichtete, durch ſein
eigenes Genie bilden. Fuͤr beyde Faͤlle iſt ihm eine
genaue und ausgebreitete Kenntnis der in der koͤr-
perlichen und ſittlichen Natur vorhandenen Dinge,
und der in ihnen liegenden Kraͤfte hoͤchſt nothwen-
dig. Da die gluͤkliche Wahl der Materie den mei-
ſten Antheil an dem Werth eines vollkommenen
Werks der Kunſt hat; ſo iſt dem Kuͤnſtler nichts
mehr zu empfehlen, als eine unablaͤßige Beobach-
tung der in der Schoͤpfung vorhandenen Dinge,
und ihrer Kraͤfte. Unaufhoͤrlich muß er ſeine aͤuſ-
ſern und innern Sinnen geſpannt halten; jene da-
mit ihm von allen Werken der Natur, die ihm vor-
kommen, keines unbemerkt entgehe; dieſe, damit
er allemal genaue Kenntnis von der Wuͤrkung be-
komme, die jeder beobachtete Gegenſtand unter den
alsdenn vorhandenen Umſtaͤnden auf ihn machet.
Dieſes iſt der einzige Weg das Genie zu bereiche-
ren, und ihm fuͤr jeden Fall, da es fuͤr die Kunſt
arbeitet, den noͤthigen Stoff an die Hand zu ge-
ben. Man hoͤret oft von reichen Genien und er-
finderiſchen Koͤpfen ſprechen, die in den ſchoͤnen Kuͤn-
ſten groß geworden. Dieſe ſind keine andere, als
die fleißigſten und ſcharfſinnigſten Beobachter der
Natur. Ein ſolcher war vorzuͤglich Homer; deſſen
ſcharfen Auge (was man auch von ſeiner Blindheit
ſagt) nichts entgieng. Daher der uͤberſchwengli-
che Reichthum ſeiner Vorſtellungen.
Es giebt Kuͤnſtler, welche die Natur nur durch
die zweyte Hand kennen; weil ſie ſie nicht in dem
Leben ſelbſt, ſondern in den Werken andrer Kuͤnſtler
beobachtet haben. Dieſe werden, was fuͤr Geſchik-
lichkeit zur Kunſt ſie ſonſt haben moͤgen, allemal
nur ſchwache Nachahmer bleiben, die hoͤchſtens ihre
eigene Manier in Bearbeitung der Dinge haben.
Aber man merkt es, daß ſie die Natur nicht ſelbſt
geſehen; ihre Gegenſtaͤnde ſind entlehnet, und die
Darſtellung derſelben hat das Leben nicht, das die
wahren Meiſter, die nach der Natur gezeichnet ha-
ben, ihnen zu geben vermochten. Es iſt ſehr natuͤr-
lich, daß ein in der Natur vorhandener Gegenſtand
lebhafter ruͤhret, als ſein Schattenbild, das man
aus Erzaͤhlung, oder Nachzeichnung bekommt: iſt
aber der Kuͤnſtler ſelbſt weniger geruͤhrt, ſo muß
nothwendig ſeine Zeichnung weniger Kraft und Le-
ben haben. Man kann alle Geſchichtſchreiber, die
Schlachten und Aufruhr und Tumulte beſchrieben
haben, auswendig wiſſen, ohne dadurch ſo viel ge-
wonnen zu haben, eines dieſer fuͤrchterlichen Dinge
mit wahrer Lebhaftigkeit zu ſchildern; dazu gehoͤrt
nothwendig eigene Erfahrung. So iſt es mit jeder
Vorſtellung und mit jeder Empfindung. Darum
iſt das Studium der Natur immer die Hauptſache
jedes Kuͤnſtlers.
Es trift ſich gar ofte, daß der Kuͤnſtler den ihm
noͤthigen Gegenſtand in der Natur nicht gerade ſo
antrift, wie er ihn braucht. Denn er hat nicht
eben gerade den ſo beſtimmten Zwek, den die Na-
tur bey Hervorbringung des Gegenſtandes gehabt
hat. Da ſtehen ihm zwey Wege offen ſich zu helfen.
Entweder bildet er ſich aus dem mit ſeiner Abſicht
am naͤchſten uͤbereinſtimmenden Gegenſtand ein Jdeal;
ſo machten es die griechiſchen Bildhauer, wenn ſie
Goͤtter, oder Helden abzubilden hatten (*); oder
er braucht ſeine, durch lange Beobachtung genug
bereicherte Phantaſie, um ſich ſelbſt den noͤthigen
Gegenſtand zu erſchaffen. Aber da muß er ſich ge-
nan an die Horaziſche Regel, Ficta ſint proxima
veris, halten; ſonſt ſchaffet er ein Hirngeſpinſt,
ohne Kraft und ohne Leben. Jn ſolchen Erdichtun-
gen kann keiner gluͤklich ſeyn, der nicht durch eine
lange, dabey ſcharfe Beobachtung der Natur ein
ſicheres Gefuͤhl von dem eigentlichen Gepraͤge, das
natuͤr-
(*) S.
Plutarch.
im Leben
des Cicero.
(*) S.
Jdeal.
Zweyter Theil. H h h h h
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 811[793]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/228>, abgerufen am 25.11.2024.
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