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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Man
gen Americaner, die nicht über drey zählen (*),
können einen ganzen Tag Gedankenlos sizen und
auf ihren Pfeifen denselben Ton tausendmal wieder-
holen, ohne Langeweile zu fühlen.

Dieser Hang zur Abwechslung trägt sehr viel zur
allmähligen Vervollkommnung des Menschen bey;
denn sie unterhält und vermehret seine Thätigkeit
und verursachet eine tägliche Vermehrung seiner
Vorstellungen, die eigentlich den wahren innern
Reichthum des Menschen ausmachen. Ob gleich die
Liebe des Mannigfaltigen aus der innern Würksam-
keit entstehet, so wird im Gegentheil diese durch jene
wieder verstärkt. Je mehr man die Lust abgewech-
selter und mannigfaltiger Vorstellungen genossen
hat, je stärker wird das Bedürfnis folglich das Be-
streben die Anzahl derselben zu vermehren. Daher
kommt es, daß der Mensch allmählig jedes innere
und äußere natürliche Vermögen, jede Fähigkeit
brauchen lernt; daß er sich allmählig dem Zustande
der Vollkommenheit nähert, um alles zu werden,
dessen er fähig ist.

Da die Werke der schönen Künste nothwendig
unterhaltend seyn, und in allen Theilen der Vor-
stellungskraft neuen Reiz geben müssen (*); so muß
in der Menge der Dinge, die jedes Werk uns dar-
biethet, auch eine hinreichende Mannigfaltigkeit seyn.
Alle Künstler von Genie haben sie in ihren Werken
gezeiget, jeder nach dem Maaße der Fruchtbarkeit
seines Genies. Jn der Jlias ist des Streitens un-
endlich viel und immer abgewechselt; die Helden,
deren besonders Meldung geschieht, sind kaum zu
zählen; aber jeder ist genau und in allem, was zum
Charakter gehört, von jedem andern verschieden.

Die Mannigfaltigkeit aber, die gefallen soll, muß
sich in Gegenständen finden, die eine natürliche Ver-
bindung unter sich haben. Es ist eben so verdrieß-
lich jede Minute des Tages eine neue, mit der vor-
hergehenden nicht verbundene Beschäftigung zu ha-
ben, als jede Minute dasselbe zu wiederholen. Eine
beträchtliche Sammlung einzeler unter sich gar nicht
zusammenhangender Gedanken, deren jeder schön
und wichtig wäre, würde ein Buch von großer
Mannigfaltigkeit des Jnhalts ausmachen, das Nie-
mand lesen könnte. Darum muß ein Faden seyn,
an dem die Menge der verschiedenen Dinge so auf-
gezogen sind, daß, nicht eine willkührliche Zusam-
mensezung, sondern eine natürliche Verbindung un-
ter ihnen sey. Das Mannigfaltige muß als die
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Man
immer abgeänderte Würkung einer einzigen Ursache,
oder als verschiedene Kräfte, die auf einen einzigen
Gegenstand würken, oder, als Dinge von einer Art,
deren jedes durch seine besondere Schattirung aus-
gezeichnet ist, erscheinen. Je genauer die Dinge bey
ihrer Mannigfaltigkeit zusammenhangen, je feiner
ist das Vergnügen, das sie verursachet.

Diese Mannigfaltigkeit muß überall wo vieles
vorkommt beobachtet werden. Der gute Historien-
mahler läßt uns nicht nur Personen von verschiede-
nen Gesichtsbildungen sehen; auch in ihren Stel-
lungen, in den Verhältnissen ihrer Gliedmaaßen, in
ihren Kleidungen, beobachtet er eine gefällige Ab-
wechslung. Der Dichter begnüget sich nicht an der
Mannigfaltigkeit der Gedanken, er beobachtet sie
auch im Ausdruk, in der Wendung, in dem Rhyth-
mus, dem Ton und andern Dingen. Der Ton-
sezer sorget nicht blos für die gefällige Abwechslung
des Tones, auch die Harmonien auf ähnlichen Stel-
len, und die Folge der Töne werden verschieden.

Es denke kein Künstler ohne Genie, wenn er von
Mannigfaltigkeit sprechen höret, daß es dabey auf
eine Zusammenraffung vielerley Gedanken und Bil-
der ankomme. Die Menge und Verschiedenheit
der Sachen so zu finden und zu wählen, daß jede
zum Zwek dienet, und am rechten Orte steht; daß
die Menge nicht nur keine Verwirrung mache, son-
dern als ein Ganzes, dem nichts kann benommen
werden, erscheine, erfodert wahres Genie und einen
sichern Geschmak. Jn den Werken der Künstler,
denen diese beyden Eigenschaften fehlen, wird man
entweder Armuth an Gedanken, oder eine unschik-
liche Zufammenhäufung solcher Vorstellungen, die
sich nicht zu einander schiken, antreffen. So sieht
man in den Werken einiger Tousezer, entweder, daß
sie durch ein ganzes Stük denselben Gedanken, im-
mer in andern Tönen wiederholen, daß die ganze
Harmonie auf zwey oder drey Accorden beruhet;
oder im Gegentheil, daß sie eine Menge einzeler,
sich gar nicht zusammenpassender Gedanken hinter
einander hören lassen. Nur der Tonsezer, der das
zu seiner Kunst nöthige Genie hat, weiß den Haupt-
gedanken in mannigfaltiger Gestalt, durch abgeän-
derte Harmonien unterstüzt, vorzutragen, und ihn
durch mehrere ihm untergeordnete, aber genau da-
mit zusammenhangende Gedanken, so zu verändern,
daß das Gehör von Anfang bis zum Ende bestän-
dig gereizt wird.

Es
(*) S.
Condami-
nes Reise
längst dem
Amazo-
nenfluß.
(*) S.
Werke der
Kunst.

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Man
gen Americaner, die nicht uͤber drey zaͤhlen (*),
koͤnnen einen ganzen Tag Gedankenlos ſizen und
auf ihren Pfeifen denſelben Ton tauſendmal wieder-
holen, ohne Langeweile zu fuͤhlen.

Dieſer Hang zur Abwechslung traͤgt ſehr viel zur
allmaͤhligen Vervollkommnung des Menſchen bey;
denn ſie unterhaͤlt und vermehret ſeine Thaͤtigkeit
und verurſachet eine taͤgliche Vermehrung ſeiner
Vorſtellungen, die eigentlich den wahren innern
Reichthum des Menſchen ausmachen. Ob gleich die
Liebe des Mannigfaltigen aus der innern Wuͤrkſam-
keit entſtehet, ſo wird im Gegentheil dieſe durch jene
wieder verſtaͤrkt. Je mehr man die Luſt abgewech-
ſelter und mannigfaltiger Vorſtellungen genoſſen
hat, je ſtaͤrker wird das Beduͤrfnis folglich das Be-
ſtreben die Anzahl derſelben zu vermehren. Daher
kommt es, daß der Menſch allmaͤhlig jedes innere
und aͤußere natuͤrliche Vermoͤgen, jede Faͤhigkeit
brauchen lernt; daß er ſich allmaͤhlig dem Zuſtande
der Vollkommenheit naͤhert, um alles zu werden,
deſſen er faͤhig iſt.

Da die Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte nothwendig
unterhaltend ſeyn, und in allen Theilen der Vor-
ſtellungskraft neuen Reiz geben muͤſſen (*); ſo muß
in der Menge der Dinge, die jedes Werk uns dar-
biethet, auch eine hinreichende Mannigfaltigkeit ſeyn.
Alle Kuͤnſtler von Genie haben ſie in ihren Werken
gezeiget, jeder nach dem Maaße der Fruchtbarkeit
ſeines Genies. Jn der Jlias iſt des Streitens un-
endlich viel und immer abgewechſelt; die Helden,
deren beſonders Meldung geſchieht, ſind kaum zu
zaͤhlen; aber jeder iſt genau und in allem, was zum
Charakter gehoͤrt, von jedem andern verſchieden.

Die Mannigfaltigkeit aber, die gefallen ſoll, muß
ſich in Gegenſtaͤnden finden, die eine natuͤrliche Ver-
bindung unter ſich haben. Es iſt eben ſo verdrieß-
lich jede Minute des Tages eine neue, mit der vor-
hergehenden nicht verbundene Beſchaͤftigung zu ha-
ben, als jede Minute daſſelbe zu wiederholen. Eine
betraͤchtliche Sammlung einzeler unter ſich gar nicht
zuſammenhangender Gedanken, deren jeder ſchoͤn
und wichtig waͤre, wuͤrde ein Buch von großer
Mannigfaltigkeit des Jnhalts ausmachen, das Nie-
mand leſen koͤnnte. Darum muß ein Faden ſeyn,
an dem die Menge der verſchiedenen Dinge ſo auf-
gezogen ſind, daß, nicht eine willkuͤhrliche Zuſam-
menſezung, ſondern eine natuͤrliche Verbindung un-
ter ihnen ſey. Das Mannigfaltige muß als die
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Man
immer abgeaͤnderte Wuͤrkung einer einzigen Urſache,
oder als verſchiedene Kraͤfte, die auf einen einzigen
Gegenſtand wuͤrken, oder, als Dinge von einer Art,
deren jedes durch ſeine beſondere Schattirung aus-
gezeichnet iſt, erſcheinen. Je genauer die Dinge bey
ihrer Mannigfaltigkeit zuſammenhangen, je feiner
iſt das Vergnuͤgen, das ſie verurſachet.

Dieſe Mannigfaltigkeit muß uͤberall wo vieles
vorkommt beobachtet werden. Der gute Hiſtorien-
mahler laͤßt uns nicht nur Perſonen von verſchiede-
nen Geſichtsbildungen ſehen; auch in ihren Stel-
lungen, in den Verhaͤltniſſen ihrer Gliedmaaßen, in
ihren Kleidungen, beobachtet er eine gefaͤllige Ab-
wechslung. Der Dichter begnuͤget ſich nicht an der
Mannigfaltigkeit der Gedanken, er beobachtet ſie
auch im Ausdruk, in der Wendung, in dem Rhyth-
mus, dem Ton und andern Dingen. Der Ton-
ſezer ſorget nicht blos fuͤr die gefaͤllige Abwechslung
des Tones, auch die Harmonien auf aͤhnlichen Stel-
len, und die Folge der Toͤne werden verſchieden.

Es denke kein Kuͤnſtler ohne Genie, wenn er von
Mannigfaltigkeit ſprechen hoͤret, daß es dabey auf
eine Zuſammenraffung vielerley Gedanken und Bil-
der ankomme. Die Menge und Verſchiedenheit
der Sachen ſo zu finden und zu waͤhlen, daß jede
zum Zwek dienet, und am rechten Orte ſteht; daß
die Menge nicht nur keine Verwirrung mache, ſon-
dern als ein Ganzes, dem nichts kann benommen
werden, erſcheine, erfodert wahres Genie und einen
ſichern Geſchmak. Jn den Werken der Kuͤnſtler,
denen dieſe beyden Eigenſchaften fehlen, wird man
entweder Armuth an Gedanken, oder eine unſchik-
liche Zufammenhaͤufung ſolcher Vorſtellungen, die
ſich nicht zu einander ſchiken, antreffen. So ſieht
man in den Werken einiger Touſezer, entweder, daß
ſie durch ein ganzes Stuͤk denſelben Gedanken, im-
mer in andern Toͤnen wiederholen, daß die ganze
Harmonie auf zwey oder drey Accorden beruhet;
oder im Gegentheil, daß ſie eine Menge einzeler,
ſich gar nicht zuſammenpaſſender Gedanken hinter
einander hoͤren laſſen. Nur der Tonſezer, der das
zu ſeiner Kunſt noͤthige Genie hat, weiß den Haupt-
gedanken in mannigfaltiger Geſtalt, durch abgeaͤn-
derte Harmonien unterſtuͤzt, vorzutragen, und ihn
durch mehrere ihm untergeordnete, aber genau da-
mit zuſammenhangende Gedanken, ſo zu veraͤndern,
daß das Gehoͤr von Anfang bis zum Ende beſtaͤn-
dig gereizt wird.

Es
(*) S.
Condami-
nes Reiſe
laͤngſt dem
Amazo-
nenfluß.
(*) S.
Werke der
Kunſt.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 742[724]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/159>, abgerufen am 23.11.2024.