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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kir
legt, wenn ein Baumeister beyde Arten nach einer-
ley Grundsätzen anlegen wollte.

Die Kirchen, die vorzüglich zur Feyer der Cere-
monien eingerichtet sind, werden natürlicher Weise
so angeordnet, daß der ganze inwendige Raum
in vier Theile abgetheilt wird, die Halle, das
Schiff, die Abseiten, und den Chor. Das Schiff
ist der vornehmste und größte innere Platz auf dem
das Volk zur Feyer der Ceremonien steht. Die
Abseiten
ein Platz oder ein räumlicher Gang um das
Schiff herum, damit man von allen Seiten her, ge-
mächlich in das Schiff kommen könne. Der Chor
ist der Platz, auf dem die Diener der Religion die
heiligen Gebräuche verrichten. Darum ist er am
Ende des Schiffs, um etliche Stufen über dasselbe
erhoben, damit alles was darauf vorgeht, von
dem im Schiffe versammelten Volke könne gesehen
werden. Die Halle ein Vorplatz am Eingang, da-
mit die Thüren der Kirche nicht unmittelbar an
den offenen Platz stoßen.

An der vordern Seite des Chors steht der Altar,
gerade vor dem Schiff. Der Chor selbst ist nach
einer eyförmigen Figur abgeründet, und hat von
oben seine eigene gewölbte Deke. Beydes darum,
weil der Chor der Platz ist, wo die zum Absingen
der Hymnen und andrer Gesänge bestellten Sänger
stehen. Darum muß der Baumeister den Chor
nach den Regeln der Akustik, oder der Wissenschaft,
der besten Verbreitung des Schalles einrichten.
Was in dem Chor gesungen wird, muß ohne ver-
wirrenden Wiederschall leicht, und doch deutlich im
ganzen Schiff vernommen werden.

Neben dem Chor sind noch ein paar besondere
Abtheilungen, davon eine die Sacristey genannt
wird, wo die zum Gottesdienst gehörige Geräth-
schaft, die heiligen Kleider u. d. gl. aufbehalten wer-
den, und wo die Diener der Religion zur gottes-
dienstlichen Feyer sich ankleiden. Die andre Ab-
theilung kann zur Anlegung der Treppe dienen, die
auf den Kirchthurm und unter das Dach der Kirche
führet. Jnsgemein hat das Schiff seine eigene
Wölbung, die auf einem Gebälke ruhet, das von
Pfeilern oder Säulen getragen wird

Der Geschmak, der in einer solchen Kirche, so-
wol in der ganzen innern Einrichtung, als in den
Verzierungen augenscheinlich herschen muß, ist
Größe und feyerliche Pracht. Und es ist kein Werk
[Spaltenumbruch]

Kir
der Baukunst, wo der Baumeister so viel großen
Geschmak nöthig hat, wie bey diesem. Der Anblik,
muß jeden Anwesenden mit Ehrfurcht erfüllen. Von
kleinen Zierrathen, die das Aug vom Ganzen ab-
ziehen, muß nichts da seyn: auch nichts schimmern-
des, das nur blendet. Einfalt mit Größe verbun-
den, ist der Charakter einer vollkommen gebauten
Kirche. Darum sind einzelne, hier und da zer-
streute Gemählde mit Recht zu verwerfen. Ein
ganz durchgehendes Dekengemählde über dem Schiff,
ist das Vorzüglichste. Und wenn man noch andre
Gemählde anbringen will, so müssen sie sich auf je-
nes beziehen, und einigermaaßen Theile desselben
ausmachen, welches allemal möglich ist. Alle ein-
zele Bilder, ohne Beziehung auf das Ganze, so
gebräuchlich sie auch sind, streiten gegen den wah-
ren Geschmak, der in einem solchen Gebäude
herrschen soll.

Vielleicht ist eine einzige besondere Anmerkung
hinlänglich, einem verständigen Baumeister die vor-
hergehende Anmerkung einleuchtend zu machen. Es
ist in Brüßel eine Kirche, (auf den Namen derselben
besinne ich mich nicht mehr) wo an an jedem Pfei-
ler des Schiffs, die Statüe eines Heiligen steht.
Diese Statüen sind groß, und in gutem Verhältnis
mit dem Gebäude, aber zum Ganzen thun sie nicht
die geringste Würkung, weil jede für sich steht, die
eine vorwerts nach dem Altar, die andre gerade
vor sich, die dritte nach der Halle zu gekehrt u. s. f.
Wie leichte wär es da gewesen, alle diese Statüen
in ein Ganzes, mit dem ganzen Gebände zu verbin-
den? Man hätte sie alle in mannigfaltigen anbe-
tenden Stellungen gegen den Hauptaltar wender
können, als wenn sie dem Volke das Beyspiel der
Anberung gäben; jede nach dem eigenen Charakter
der abgebildeten Person. Dergleichen Verzierungen
dienen die Würkung des Ganzen zu verstärken, und
sind der wahren Absicht der Kunst gemäß.

Es ist sehr gewöhnlich, daß an den Abseiten der
Hauptkirchen verschiedene kleine Capellen angebracht
werden, deren jede ihren eigenen kleinen Altar hat.
Auch dieses ist, ob es gleich durchgehends üblich ist,
ein Mißbrauch, gegen dessen Fortpflanzung die Bau-
meister arbeiten sollten. Denn dieses hebt vollends
die Einheit des Ganzen auf. Für geringere und
für ganz besondere Gelegenheiten dienende gottes-
dienstliche Feyerlichkeiten, dazu nur wenige Men-

schen
D d d d 2

[Spaltenumbruch]

Kir
legt, wenn ein Baumeiſter beyde Arten nach einer-
ley Grundſaͤtzen anlegen wollte.

Die Kirchen, die vorzuͤglich zur Feyer der Cere-
monien eingerichtet ſind, werden natuͤrlicher Weiſe
ſo angeordnet, daß der ganze inwendige Raum
in vier Theile abgetheilt wird, die Halle, das
Schiff, die Abſeiten, und den Chor. Das Schiff
iſt der vornehmſte und groͤßte innere Platz auf dem
das Volk zur Feyer der Ceremonien ſteht. Die
Abſeiten
ein Platz oder ein raͤumlicher Gang um das
Schiff herum, damit man von allen Seiten her, ge-
maͤchlich in das Schiff kommen koͤnne. Der Chor
iſt der Platz, auf dem die Diener der Religion die
heiligen Gebraͤuche verrichten. Darum iſt er am
Ende des Schiffs, um etliche Stufen uͤber daſſelbe
erhoben, damit alles was darauf vorgeht, von
dem im Schiffe verſammelten Volke koͤnne geſehen
werden. Die Halle ein Vorplatz am Eingang, da-
mit die Thuͤren der Kirche nicht unmittelbar an
den offenen Platz ſtoßen.

An der vordern Seite des Chors ſteht der Altar,
gerade vor dem Schiff. Der Chor ſelbſt iſt nach
einer eyfoͤrmigen Figur abgeruͤndet, und hat von
oben ſeine eigene gewoͤlbte Deke. Beydes darum,
weil der Chor der Platz iſt, wo die zum Abſingen
der Hymnen und andrer Geſaͤnge beſtellten Saͤnger
ſtehen. Darum muß der Baumeiſter den Chor
nach den Regeln der Akuſtik, oder der Wiſſenſchaft,
der beſten Verbreitung des Schalles einrichten.
Was in dem Chor geſungen wird, muß ohne ver-
wirrenden Wiederſchall leicht, und doch deutlich im
ganzen Schiff vernommen werden.

Neben dem Chor ſind noch ein paar beſondere
Abtheilungen, davon eine die Sacriſtey genannt
wird, wo die zum Gottesdienſt gehoͤrige Geraͤth-
ſchaft, die heiligen Kleider u. d. gl. aufbehalten wer-
den, und wo die Diener der Religion zur gottes-
dienſtlichen Feyer ſich ankleiden. Die andre Ab-
theilung kann zur Anlegung der Treppe dienen, die
auf den Kirchthurm und unter das Dach der Kirche
fuͤhret. Jnsgemein hat das Schiff ſeine eigene
Woͤlbung, die auf einem Gebaͤlke ruhet, das von
Pfeilern oder Saͤulen getragen wird

Der Geſchmak, der in einer ſolchen Kirche, ſo-
wol in der ganzen innern Einrichtung, als in den
Verzierungen augenſcheinlich herſchen muß, iſt
Groͤße und feyerliche Pracht. Und es iſt kein Werk
[Spaltenumbruch]

Kir
der Baukunſt, wo der Baumeiſter ſo viel großen
Geſchmak noͤthig hat, wie bey dieſem. Der Anblik,
muß jeden Anweſenden mit Ehrfurcht erfuͤllen. Von
kleinen Zierrathen, die das Aug vom Ganzen ab-
ziehen, muß nichts da ſeyn: auch nichts ſchimmern-
des, das nur blendet. Einfalt mit Groͤße verbun-
den, iſt der Charakter einer vollkommen gebauten
Kirche. Darum ſind einzelne, hier und da zer-
ſtreute Gemaͤhlde mit Recht zu verwerfen. Ein
ganz durchgehendes Dekengemaͤhlde uͤber dem Schiff,
iſt das Vorzuͤglichſte. Und wenn man noch andre
Gemaͤhlde anbringen will, ſo muͤſſen ſie ſich auf je-
nes beziehen, und einigermaaßen Theile deſſelben
ausmachen, welches allemal moͤglich iſt. Alle ein-
zele Bilder, ohne Beziehung auf das Ganze, ſo
gebraͤuchlich ſie auch ſind, ſtreiten gegen den wah-
ren Geſchmak, der in einem ſolchen Gebaͤude
herrſchen ſoll.

Vielleicht iſt eine einzige beſondere Anmerkung
hinlaͤnglich, einem verſtaͤndigen Baumeiſter die vor-
hergehende Anmerkung einleuchtend zu machen. Es
iſt in Bruͤßel eine Kirche, (auf den Namen derſelben
beſinne ich mich nicht mehr) wo an an jedem Pfei-
ler des Schiffs, die Statuͤe eines Heiligen ſteht.
Dieſe Statuͤen ſind groß, und in gutem Verhaͤltnis
mit dem Gebaͤude, aber zum Ganzen thun ſie nicht
die geringſte Wuͤrkung, weil jede fuͤr ſich ſteht, die
eine vorwerts nach dem Altar, die andre gerade
vor ſich, die dritte nach der Halle zu gekehrt u. ſ. f.
Wie leichte waͤr es da geweſen, alle dieſe Statuͤen
in ein Ganzes, mit dem ganzen Gebaͤnde zu verbin-
den? Man haͤtte ſie alle in mannigfaltigen anbe-
tenden Stellungen gegen den Hauptaltar wender
koͤnnen, als wenn ſie dem Volke das Beyſpiel der
Anberung gaͤben; jede nach dem eigenen Charakter
der abgebildeten Perſon. Dergleichen Verzierungen
dienen die Wuͤrkung des Ganzen zu verſtaͤrken, und
ſind der wahren Abſicht der Kunſt gemaͤß.

Es iſt ſehr gewoͤhnlich, daß an den Abſeiten der
Hauptkirchen verſchiedene kleine Capellen angebracht
werden, deren jede ihren eigenen kleinen Altar hat.
Auch dieſes iſt, ob es gleich durchgehends uͤblich iſt,
ein Mißbrauch, gegen deſſen Fortpflanzung die Bau-
meiſter arbeiten ſollten. Denn dieſes hebt vollends
die Einheit des Ganzen auf. Fuͤr geringere und
fuͤr ganz beſondere Gelegenheiten dienende gottes-
dienſtliche Feyerlichkeiten, dazu nur wenige Men-

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D d d d 2
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[579/0014] Kir Kir legt, wenn ein Baumeiſter beyde Arten nach einer- ley Grundſaͤtzen anlegen wollte. Die Kirchen, die vorzuͤglich zur Feyer der Cere- monien eingerichtet ſind, werden natuͤrlicher Weiſe ſo angeordnet, daß der ganze inwendige Raum in vier Theile abgetheilt wird, die Halle, das Schiff, die Abſeiten, und den Chor. Das Schiff iſt der vornehmſte und groͤßte innere Platz auf dem das Volk zur Feyer der Ceremonien ſteht. Die Abſeiten ein Platz oder ein raͤumlicher Gang um das Schiff herum, damit man von allen Seiten her, ge- maͤchlich in das Schiff kommen koͤnne. Der Chor iſt der Platz, auf dem die Diener der Religion die heiligen Gebraͤuche verrichten. Darum iſt er am Ende des Schiffs, um etliche Stufen uͤber daſſelbe erhoben, damit alles was darauf vorgeht, von dem im Schiffe verſammelten Volke koͤnne geſehen werden. Die Halle ein Vorplatz am Eingang, da- mit die Thuͤren der Kirche nicht unmittelbar an den offenen Platz ſtoßen. An der vordern Seite des Chors ſteht der Altar, gerade vor dem Schiff. Der Chor ſelbſt iſt nach einer eyfoͤrmigen Figur abgeruͤndet, und hat von oben ſeine eigene gewoͤlbte Deke. Beydes darum, weil der Chor der Platz iſt, wo die zum Abſingen der Hymnen und andrer Geſaͤnge beſtellten Saͤnger ſtehen. Darum muß der Baumeiſter den Chor nach den Regeln der Akuſtik, oder der Wiſſenſchaft, der beſten Verbreitung des Schalles einrichten. Was in dem Chor geſungen wird, muß ohne ver- wirrenden Wiederſchall leicht, und doch deutlich im ganzen Schiff vernommen werden. Neben dem Chor ſind noch ein paar beſondere Abtheilungen, davon eine die Sacriſtey genannt wird, wo die zum Gottesdienſt gehoͤrige Geraͤth- ſchaft, die heiligen Kleider u. d. gl. aufbehalten wer- den, und wo die Diener der Religion zur gottes- dienſtlichen Feyer ſich ankleiden. Die andre Ab- theilung kann zur Anlegung der Treppe dienen, die auf den Kirchthurm und unter das Dach der Kirche fuͤhret. Jnsgemein hat das Schiff ſeine eigene Woͤlbung, die auf einem Gebaͤlke ruhet, das von Pfeilern oder Saͤulen getragen wird Der Geſchmak, der in einer ſolchen Kirche, ſo- wol in der ganzen innern Einrichtung, als in den Verzierungen augenſcheinlich herſchen muß, iſt Groͤße und feyerliche Pracht. Und es iſt kein Werk der Baukunſt, wo der Baumeiſter ſo viel großen Geſchmak noͤthig hat, wie bey dieſem. Der Anblik, muß jeden Anweſenden mit Ehrfurcht erfuͤllen. Von kleinen Zierrathen, die das Aug vom Ganzen ab- ziehen, muß nichts da ſeyn: auch nichts ſchimmern- des, das nur blendet. Einfalt mit Groͤße verbun- den, iſt der Charakter einer vollkommen gebauten Kirche. Darum ſind einzelne, hier und da zer- ſtreute Gemaͤhlde mit Recht zu verwerfen. Ein ganz durchgehendes Dekengemaͤhlde uͤber dem Schiff, iſt das Vorzuͤglichſte. Und wenn man noch andre Gemaͤhlde anbringen will, ſo muͤſſen ſie ſich auf je- nes beziehen, und einigermaaßen Theile deſſelben ausmachen, welches allemal moͤglich iſt. Alle ein- zele Bilder, ohne Beziehung auf das Ganze, ſo gebraͤuchlich ſie auch ſind, ſtreiten gegen den wah- ren Geſchmak, der in einem ſolchen Gebaͤude herrſchen ſoll. Vielleicht iſt eine einzige beſondere Anmerkung hinlaͤnglich, einem verſtaͤndigen Baumeiſter die vor- hergehende Anmerkung einleuchtend zu machen. Es iſt in Bruͤßel eine Kirche, (auf den Namen derſelben beſinne ich mich nicht mehr) wo an an jedem Pfei- ler des Schiffs, die Statuͤe eines Heiligen ſteht. Dieſe Statuͤen ſind groß, und in gutem Verhaͤltnis mit dem Gebaͤude, aber zum Ganzen thun ſie nicht die geringſte Wuͤrkung, weil jede fuͤr ſich ſteht, die eine vorwerts nach dem Altar, die andre gerade vor ſich, die dritte nach der Halle zu gekehrt u. ſ. f. Wie leichte waͤr es da geweſen, alle dieſe Statuͤen in ein Ganzes, mit dem ganzen Gebaͤnde zu verbin- den? Man haͤtte ſie alle in mannigfaltigen anbe- tenden Stellungen gegen den Hauptaltar wender koͤnnen, als wenn ſie dem Volke das Beyſpiel der Anberung gaͤben; jede nach dem eigenen Charakter der abgebildeten Perſon. Dergleichen Verzierungen dienen die Wuͤrkung des Ganzen zu verſtaͤrken, und ſind der wahren Abſicht der Kunſt gemaͤß. Es iſt ſehr gewoͤhnlich, daß an den Abſeiten der Hauptkirchen verſchiedene kleine Capellen angebracht werden, deren jede ihren eigenen kleinen Altar hat. Auch dieſes iſt, ob es gleich durchgehends uͤblich iſt, ein Mißbrauch, gegen deſſen Fortpflanzung die Bau- meiſter arbeiten ſollten. Denn dieſes hebt vollends die Einheit des Ganzen auf. Fuͤr geringere und fuͤr ganz beſondere Gelegenheiten dienende gottes- dienſtliche Feyerlichkeiten, dazu nur wenige Men- ſchen D d d d 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/14>, abgerufen am 24.11.2024.