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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Jnst
Jnstrumentalmusik.

Die Musik deren Gesang blos aus unartikulirten
Tönen besteht, und die keine Wörter braucht, um
das, was sie ausdrüket verständlich zu machen: sie
wird deswegen der Vocalmusik entgegen gesetzt, wel-
che verständliche Worte singt. Die ganze Musik
gründet sich auf die Kraft, die schon in unartikulir-
ten Tönen liegt, verschiedene Leidenschaften auszu-
(*) S.
Musik.
drüken (*); und wenn man nicht ohne Worte die
Sprache der Empfindungen sprechen könnte, so
würde gar keine Musik möglich seyn. Es scheinet
also, daß die Jnstrumentalmusik bey dieser schönen
Kunst die Hauptsache sey. Man kann in der That
bey Tänzen, bey festlichen Aufzügen und kriegeri-
schen Märschen, die Vocalmusik völlig missen; weil
die Jnstrumente ganz allein hinreichend sind, die
bey solchen Gelegenheiten nöthigen Empfindungen,
zu erweken und zu nähren. Aber wo die Gegen-
stände der Empfindung selbst müssen geschildert, oder
kennbar gemacht werden, da hat die Musik die Un-
terstützung der Sprache nöthig. Wir können sehr
gerührt werden, wenn wir in einer uns unverständ-
lichen Sprache, Töne der Traurigkeit, des Schmer-
zens, oder des Jammers, vernehmen; wenn aber der
Klagende zugleich verständlich spricht, wenn er uns
die Veranlasung und die nächsten Ursachen seiner
Klage entdeket, und die besondern Umstände seines
Leidens erkennen läßt, so werden wir weit stärker
gerühret. Ohne Ton und Klang, ohne Bewegung
und Rhythmus, werden wir, wenn wir die Klagen
einer vor Liebe kranken Sappho lesen, von Mitlei-
den gerühret; aber wenn tief geholte Seufzer, wenn
Töne, die der verliebte Schmerz von der leidenden
erpreßt, wann eine schwermerische Bewegung in der
Folge der Töne, unser Ohr würklich rühret, und die
Nerven des Körpers in Bewegung setzet; so wird
die Empfindung ungleich stärker.

Hieraus lernen wir mit völliger Gewißheit, daß
die Musik erst ihre volle Würkung thut, wenn sie
mit der Dichtkunst vereiniget ist, wenn Vocal- und
Jnstrumentalmusik verbunden sind. Man kann sich
hierüber auf das Gefühl aller Menschen berufen:
das rührendste Duet, von Jnstrumenten gespielt,
oder von Menschenstimmen, deren Sprache wir nicht
verstehen, gesungen, verliehrt in der That den
größten Theil seiner Kraft. Aber da, wo das Ge-
müth blos von der Empfindung muß gerührt und
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Jnst
unterhalten werden, ohne einen besonders bestimm-
ten Gegenstand vor sich zu haben, ist die Jnstru-
mentalmusik hinlänglich. So hat man zu den Tän-
zen und festlichen Aufzügen keinen Vocalgesang nö-
thig, weil die Jnstrumente allein hinreichend sind
uns in die Empfindung zu setzen.

Dadurch wird der Gebrauch der Jnstrumental-
musik ihrer Natur nach vornehmlich auf die Tänze,
Märsche und andre festliche Aufzüge eingeschränkt.
Diese sind ihre vornehmste Werke. Hiernächst kann
sie auch bey dem dramatischen Schauspiel ihre Dien-
ste thun, indem sie den Zuschauer zum voraus durch
Ouvertüren oder Symphonien zu dem Hauptaffekt,
der in dem Schauspiel herrscht vorbereitet. Zum
bloßen Zeitvertreib aber, oder auch als nützliche Ue-
bungen, wodurch Setzer und Spiehler sich zu wich-
tigern Dingen geschikter machen, dienet sie, wenn
sie Concerte, Trio, Solo, Sonaten und derglei-
chen hören läßt.

Einige dieser Stüke haben ihre festgesetzten Cha-
raktere, wie die Ballette, Tänze und Märsche, und
der Tonsetzer hat an diesen Charakteren eine Richt-
schnur, nach welcher er bey Versertigung derselben
zu arbeiten hat; je genauer er sich an den Charak-
ter jeder Art hält, je besser wird sich sein Werk aus-
nehmen. Einigermaaßen hat man auch bey Ouver-
türen und Symphonien, die zum Eingang eines
Schauspiels dienen, noch etwas vor sich, worauf
die Erfindung sich gründen kann, weil sie den Haupt-
charakter des Schauspiels, für welches sie gemacht
sind, ausdrüken müssen. Aber die Erfindung für
Concerte, Trio, Solo, Sonaten und dergleichen
Dinge, die gar keinen bestimmten Endzwek haben,
ist fast gänzlich dem Zufall überlassen. Man be-
greift noch, wie ein Mann von Genie auf Erfindun-
gen kommt, wenn er etwas vor sich hat, daran er
sich halten kann; wo er aber selbst nicht sagen kann,
was er machen will, oder was das Werk, das er
sich zu machen vorsetzt, eigentlich seyn soll, da arbei-
tet er blos auf gutes Glük. Daher kommt es, daß
die meisten Stüke dieser Art nicht anders sind, als
ein wolklingendes Geräusch, das stürmend oder sanft
in das Gehör fällt. Dieses zu vermeiden, thut der
Tonsetzer wol, wenn er sich allemal den Charakter
einer Person, oder eine Situation, eine Leidenschaft,
bestimmt vorstellt, und seine Phantasie so lang an-
spannt, bis er eine in diesen Umständen sich befin-
dende Person, glaubt reden zu hören. Er kann sich

da-
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Jnſt
Jnſtrumentalmuſik.

Die Muſik deren Geſang blos aus unartikulirten
Toͤnen beſteht, und die keine Woͤrter braucht, um
das, was ſie ausdruͤket verſtaͤndlich zu machen: ſie
wird deswegen der Vocalmuſik entgegen geſetzt, wel-
che verſtaͤndliche Worte ſingt. Die ganze Muſik
gruͤndet ſich auf die Kraft, die ſchon in unartikulir-
ten Toͤnen liegt, verſchiedene Leidenſchaften auszu-
(*) S.
Muſik.
druͤken (*); und wenn man nicht ohne Worte die
Sprache der Empfindungen ſprechen koͤnnte, ſo
wuͤrde gar keine Muſik moͤglich ſeyn. Es ſcheinet
alſo, daß die Jnſtrumentalmuſik bey dieſer ſchoͤnen
Kunſt die Hauptſache ſey. Man kann in der That
bey Taͤnzen, bey feſtlichen Aufzuͤgen und kriegeri-
ſchen Maͤrſchen, die Vocalmuſik voͤllig miſſen; weil
die Jnſtrumente ganz allein hinreichend ſind, die
bey ſolchen Gelegenheiten noͤthigen Empfindungen,
zu erweken und zu naͤhren. Aber wo die Gegen-
ſtaͤnde der Empfindung ſelbſt muͤſſen geſchildert, oder
kennbar gemacht werden, da hat die Muſik die Un-
terſtuͤtzung der Sprache noͤthig. Wir koͤnnen ſehr
geruͤhrt werden, wenn wir in einer uns unverſtaͤnd-
lichen Sprache, Toͤne der Traurigkeit, des Schmer-
zens, oder des Jammers, vernehmen; wenn aber der
Klagende zugleich verſtaͤndlich ſpricht, wenn er uns
die Veranlaſung und die naͤchſten Urſachen ſeiner
Klage entdeket, und die beſondern Umſtaͤnde ſeines
Leidens erkennen laͤßt, ſo werden wir weit ſtaͤrker
geruͤhret. Ohne Ton und Klang, ohne Bewegung
und Rhythmus, werden wir, wenn wir die Klagen
einer vor Liebe kranken Sappho leſen, von Mitlei-
den geruͤhret; aber wenn tief geholte Seufzer, wenn
Toͤne, die der verliebte Schmerz von der leidenden
erpreßt, wann eine ſchwermeriſche Bewegung in der
Folge der Toͤne, unſer Ohr wuͤrklich ruͤhret, und die
Nerven des Koͤrpers in Bewegung ſetzet; ſo wird
die Empfindung ungleich ſtaͤrker.

Hieraus lernen wir mit voͤlliger Gewißheit, daß
die Muſik erſt ihre volle Wuͤrkung thut, wenn ſie
mit der Dichtkunſt vereiniget iſt, wenn Vocal- und
Jnſtrumentalmuſik verbunden ſind. Man kann ſich
hieruͤber auf das Gefuͤhl aller Menſchen berufen:
das ruͤhrendſte Duet, von Jnſtrumenten geſpielt,
oder von Menſchenſtimmen, deren Sprache wir nicht
verſtehen, geſungen, verliehrt in der That den
groͤßten Theil ſeiner Kraft. Aber da, wo das Ge-
muͤth blos von der Empfindung muß geruͤhrt und
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Jnſt
unterhalten werden, ohne einen beſonders beſtimm-
ten Gegenſtand vor ſich zu haben, iſt die Jnſtru-
mentalmuſik hinlaͤnglich. So hat man zu den Taͤn-
zen und feſtlichen Aufzuͤgen keinen Vocalgeſang noͤ-
thig, weil die Jnſtrumente allein hinreichend ſind
uns in die Empfindung zu ſetzen.

Dadurch wird der Gebrauch der Jnſtrumental-
muſik ihrer Natur nach vornehmlich auf die Taͤnze,
Maͤrſche und andre feſtliche Aufzuͤge eingeſchraͤnkt.
Dieſe ſind ihre vornehmſte Werke. Hiernaͤchſt kann
ſie auch bey dem dramatiſchen Schauſpiel ihre Dien-
ſte thun, indem ſie den Zuſchauer zum voraus durch
Ouvertuͤren oder Symphonien zu dem Hauptaffekt,
der in dem Schauſpiel herrſcht vorbereitet. Zum
bloßen Zeitvertreib aber, oder auch als nuͤtzliche Ue-
bungen, wodurch Setzer und Spiehler ſich zu wich-
tigern Dingen geſchikter machen, dienet ſie, wenn
ſie Concerte, Trio, Solo, Sonaten und derglei-
chen hoͤren laͤßt.

Einige dieſer Stuͤke haben ihre feſtgeſetzten Cha-
raktere, wie die Ballette, Taͤnze und Maͤrſche, und
der Tonſetzer hat an dieſen Charakteren eine Richt-
ſchnur, nach welcher er bey Verſertigung derſelben
zu arbeiten hat; je genauer er ſich an den Charak-
ter jeder Art haͤlt, je beſſer wird ſich ſein Werk aus-
nehmen. Einigermaaßen hat man auch bey Ouver-
tuͤren und Symphonien, die zum Eingang eines
Schauſpiels dienen, noch etwas vor ſich, worauf
die Erfindung ſich gruͤnden kann, weil ſie den Haupt-
charakter des Schauſpiels, fuͤr welches ſie gemacht
ſind, ausdruͤken muͤſſen. Aber die Erfindung fuͤr
Concerte, Trio, Solo, Sonaten und dergleichen
Dinge, die gar keinen beſtimmten Endzwek haben,
iſt faſt gaͤnzlich dem Zufall uͤberlaſſen. Man be-
greift noch, wie ein Mann von Genie auf Erfindun-
gen kommt, wenn er etwas vor ſich hat, daran er
ſich halten kann; wo er aber ſelbſt nicht ſagen kann,
was er machen will, oder was das Werk, das er
ſich zu machen vorſetzt, eigentlich ſeyn ſoll, da arbei-
tet er blos auf gutes Gluͤk. Daher kommt es, daß
die meiſten Stuͤke dieſer Art nicht anders ſind, als
ein wolklingendes Geraͤuſch, das ſtuͤrmend oder ſanft
in das Gehoͤr faͤllt. Dieſes zu vermeiden, thut der
Tonſetzer wol, wenn er ſich allemal den Charakter
einer Perſon, oder eine Situation, eine Leidenſchaft,
beſtimmt vorſtellt, und ſeine Phantaſie ſo lang an-
ſpannt, bis er eine in dieſen Umſtaͤnden ſich befin-
dende Perſon, glaubt reden zu hoͤren. Er kann ſich

da-
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[559/0571] Jnſt Jnſt Jnſtrumentalmuſik. Die Muſik deren Geſang blos aus unartikulirten Toͤnen beſteht, und die keine Woͤrter braucht, um das, was ſie ausdruͤket verſtaͤndlich zu machen: ſie wird deswegen der Vocalmuſik entgegen geſetzt, wel- che verſtaͤndliche Worte ſingt. Die ganze Muſik gruͤndet ſich auf die Kraft, die ſchon in unartikulir- ten Toͤnen liegt, verſchiedene Leidenſchaften auszu- druͤken (*); und wenn man nicht ohne Worte die Sprache der Empfindungen ſprechen koͤnnte, ſo wuͤrde gar keine Muſik moͤglich ſeyn. Es ſcheinet alſo, daß die Jnſtrumentalmuſik bey dieſer ſchoͤnen Kunſt die Hauptſache ſey. Man kann in der That bey Taͤnzen, bey feſtlichen Aufzuͤgen und kriegeri- ſchen Maͤrſchen, die Vocalmuſik voͤllig miſſen; weil die Jnſtrumente ganz allein hinreichend ſind, die bey ſolchen Gelegenheiten noͤthigen Empfindungen, zu erweken und zu naͤhren. Aber wo die Gegen- ſtaͤnde der Empfindung ſelbſt muͤſſen geſchildert, oder kennbar gemacht werden, da hat die Muſik die Un- terſtuͤtzung der Sprache noͤthig. Wir koͤnnen ſehr geruͤhrt werden, wenn wir in einer uns unverſtaͤnd- lichen Sprache, Toͤne der Traurigkeit, des Schmer- zens, oder des Jammers, vernehmen; wenn aber der Klagende zugleich verſtaͤndlich ſpricht, wenn er uns die Veranlaſung und die naͤchſten Urſachen ſeiner Klage entdeket, und die beſondern Umſtaͤnde ſeines Leidens erkennen laͤßt, ſo werden wir weit ſtaͤrker geruͤhret. Ohne Ton und Klang, ohne Bewegung und Rhythmus, werden wir, wenn wir die Klagen einer vor Liebe kranken Sappho leſen, von Mitlei- den geruͤhret; aber wenn tief geholte Seufzer, wenn Toͤne, die der verliebte Schmerz von der leidenden erpreßt, wann eine ſchwermeriſche Bewegung in der Folge der Toͤne, unſer Ohr wuͤrklich ruͤhret, und die Nerven des Koͤrpers in Bewegung ſetzet; ſo wird die Empfindung ungleich ſtaͤrker. (*) S. Muſik. Hieraus lernen wir mit voͤlliger Gewißheit, daß die Muſik erſt ihre volle Wuͤrkung thut, wenn ſie mit der Dichtkunſt vereiniget iſt, wenn Vocal- und Jnſtrumentalmuſik verbunden ſind. Man kann ſich hieruͤber auf das Gefuͤhl aller Menſchen berufen: das ruͤhrendſte Duet, von Jnſtrumenten geſpielt, oder von Menſchenſtimmen, deren Sprache wir nicht verſtehen, geſungen, verliehrt in der That den groͤßten Theil ſeiner Kraft. Aber da, wo das Ge- muͤth blos von der Empfindung muß geruͤhrt und unterhalten werden, ohne einen beſonders beſtimm- ten Gegenſtand vor ſich zu haben, iſt die Jnſtru- mentalmuſik hinlaͤnglich. So hat man zu den Taͤn- zen und feſtlichen Aufzuͤgen keinen Vocalgeſang noͤ- thig, weil die Jnſtrumente allein hinreichend ſind uns in die Empfindung zu ſetzen. Dadurch wird der Gebrauch der Jnſtrumental- muſik ihrer Natur nach vornehmlich auf die Taͤnze, Maͤrſche und andre feſtliche Aufzuͤge eingeſchraͤnkt. Dieſe ſind ihre vornehmſte Werke. Hiernaͤchſt kann ſie auch bey dem dramatiſchen Schauſpiel ihre Dien- ſte thun, indem ſie den Zuſchauer zum voraus durch Ouvertuͤren oder Symphonien zu dem Hauptaffekt, der in dem Schauſpiel herrſcht vorbereitet. Zum bloßen Zeitvertreib aber, oder auch als nuͤtzliche Ue- bungen, wodurch Setzer und Spiehler ſich zu wich- tigern Dingen geſchikter machen, dienet ſie, wenn ſie Concerte, Trio, Solo, Sonaten und derglei- chen hoͤren laͤßt. Einige dieſer Stuͤke haben ihre feſtgeſetzten Cha- raktere, wie die Ballette, Taͤnze und Maͤrſche, und der Tonſetzer hat an dieſen Charakteren eine Richt- ſchnur, nach welcher er bey Verſertigung derſelben zu arbeiten hat; je genauer er ſich an den Charak- ter jeder Art haͤlt, je beſſer wird ſich ſein Werk aus- nehmen. Einigermaaßen hat man auch bey Ouver- tuͤren und Symphonien, die zum Eingang eines Schauſpiels dienen, noch etwas vor ſich, worauf die Erfindung ſich gruͤnden kann, weil ſie den Haupt- charakter des Schauſpiels, fuͤr welches ſie gemacht ſind, ausdruͤken muͤſſen. Aber die Erfindung fuͤr Concerte, Trio, Solo, Sonaten und dergleichen Dinge, die gar keinen beſtimmten Endzwek haben, iſt faſt gaͤnzlich dem Zufall uͤberlaſſen. Man be- greift noch, wie ein Mann von Genie auf Erfindun- gen kommt, wenn er etwas vor ſich hat, daran er ſich halten kann; wo er aber ſelbſt nicht ſagen kann, was er machen will, oder was das Werk, das er ſich zu machen vorſetzt, eigentlich ſeyn ſoll, da arbei- tet er blos auf gutes Gluͤk. Daher kommt es, daß die meiſten Stuͤke dieſer Art nicht anders ſind, als ein wolklingendes Geraͤuſch, das ſtuͤrmend oder ſanft in das Gehoͤr faͤllt. Dieſes zu vermeiden, thut der Tonſetzer wol, wenn er ſich allemal den Charakter einer Perſon, oder eine Situation, eine Leidenſchaft, beſtimmt vorſtellt, und ſeine Phantaſie ſo lang an- ſpannt, bis er eine in dieſen Umſtaͤnden ſich befin- dende Perſon, glaubt reden zu hoͤren. Er kann ſich da-

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/571>, abgerufen am 24.04.2024.