Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hel Also ist auch der Hexameter dem Heldengedicht ebennicht wesentlich; aber kein andrer Vers hat die Vor- theile desselben. Dieses scheinet nun alles Wesentliche der Epopee Was wir hier über das Heldengedicht angemerkt Hel Gedicht des Musäus von Hero und Leander; diegeraubte Helena des Coluthus und andre. Von un- sern einheimischen Gedichten verdienet in dieser Classe Bodmers Jacob, als ein Muster angeführt zu wer- den. Die Anwendung der epischen Behandlung auf kleine Gegenstände macht eine besondre Gattung der Epopöe aus, die man das scherzhafte, oder co- mische Heldengedicht nennt. (*)(*) S. Scherzhaft Die große Epopöe ist ohne Zweifel das wichtigste Wenn man bedenkt, was für Genie dazu gehört doch
[Spaltenumbruch] Hel Alſo iſt auch der Hexameter dem Heldengedicht ebennicht weſentlich; aber kein andrer Vers hat die Vor- theile deſſelben. Dieſes ſcheinet nun alles Weſentliche der Epopee Was wir hier uͤber das Heldengedicht angemerkt Hel Gedicht des Muſaͤus von Hero und Leander; diegeraubte Helena des Coluthus und andre. Von un- ſern einheimiſchen Gedichten verdienet in dieſer Claſſe Bodmers Jacob, als ein Muſter angefuͤhrt zu wer- den. Die Anwendung der epiſchen Behandlung auf kleine Gegenſtaͤnde macht eine beſondre Gattung der Epopoͤe aus, die man das ſcherzhafte, oder co- miſche Heldengedicht nennt. (*)(*) S. Scherzhaft Die große Epopoͤe iſt ohne Zweifel das wichtigſte Wenn man bedenkt, was fuͤr Genie dazu gehoͤrt doch
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0544" n="532"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hel</hi></fw><lb/> Alſo iſt auch der Hexameter dem Heldengedicht eben<lb/> nicht weſentlich; aber kein andrer Vers hat die Vor-<lb/> theile deſſelben.</p><lb/> <p>Dieſes ſcheinet nun alles Weſentliche der Epopee<lb/> zu ſeyn. Hat ein Gedicht dieſes, ſo kann ihm der<lb/> Name des Heldengedichts nicht verſagt werden, von<lb/> was fuͤr einem Jnhalt, von welcher Form, Groͤße<lb/> und Versart es uͤbrigens ſeyn mag. Von der Jlias<lb/> bis auf Addiſons Siegesgeſang uͤber Marlboroughs<lb/> Feldzug, kann ſie unzaͤhlige Formen annehmen. Ur-<lb/> ſpruͤnglich war ihr Jnhalt vermuthlich blos kriege-<lb/> riſch; aber Homer hat durch die Odyſſee ſchon ge-<lb/> zeiget, daß man von dieſem Stoff abgehen koͤnne.<lb/> Einige Kunſtrichter ſtehen in dem Wahn, Homer<lb/> habe die Form der Epopoͤe feſtgeſetzt; aber Oßians<lb/> Fingal iſt nicht nach dieſer Form gebildet, und den-<lb/> noch ein aͤchtes Heldengedicht. Wir wollen alſo von<lb/> dem epiſchen Dichter blos das Weſentliche fodern,<lb/> und alles uͤbrige ſeinem Genie oder ſeiner Wahl<lb/> uͤberlaſſen. Wir wollen nicht ſchlechterdings ver-<lb/> langen, daß er ſeine Handlung durch Einfuͤhrung<lb/> hoͤherer Maͤchte uͤbernatuͤrlich und wunderbar ma-<lb/> chen ſoll. Denn auch menſchliche Handlungen koͤn-<lb/> nen groß ſeyn und Bewundrung erweken; wenn<lb/> nur das Genie des Dichters groß genug iſt. Das<lb/> was die Goͤtter in der Jlias thun, iſt nicht das<lb/> wunderbareſte: man kann es wegnehmen, und doch<lb/> wird alles groß bleiben. Wenn aber ein Dichter<lb/> von gemeinem Genie ſeiner Handlung durch uͤber-<lb/> natuͤrliche Maͤchte, oder gar durch allegoriſche Per-<lb/> ſonen den Anſtrich des Wunderbaren geben will,<lb/> ſo wird er eher froſtig, als groß. Und eben ſo we-<lb/> nig wollen wir ihm uͤber die Zeit, den Ort und die<lb/> Dauer der Handlung, willkuͤhrliche Negeln vor-<lb/> ſchreiben; ſondern ihn gern unter die Zahl der gu-<lb/> ten epiſchen Dichter aufnehmen, wenn er nur das<lb/> Weſentliche geleiſtet hat.</p><lb/> <p>Was wir hier uͤber das Heldengedicht angemerkt<lb/> haben, betrift eigentlich die große Epopoͤe, die eine<lb/> ganz wichtige Handlung beſingt, und uns mit Per-<lb/> ſonen von außerordentlichen Gemuͤthskraͤften und<lb/> von erhabenem Charakter bekannt macht. Man kann<lb/> aber den epiſchen Ton und die epiſche Behandlung,<lb/> auch auf Gegenſtaͤnde von mittlerer Groͤße anwen-<lb/> den, und daher entſteht die kleinere Epopoͤe, die<lb/> noch immer ſehr intreſſant ſeyn kann, wenn ſie uns<lb/> gleich die Menſchen nicht auf der hoͤchſten Stufe zei-<lb/> get. Von dieſer Art ſind aus dem Alterthum, das<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hel</hi></fw><lb/> Gedicht des Muſaͤus von Hero und Leander; die<lb/> geraubte Helena des Coluthus und andre. Von un-<lb/> ſern einheimiſchen Gedichten verdienet in dieſer Claſſe<lb/><hi rendition="#fr">Bodmers Jacob,</hi> als ein Muſter angefuͤhrt zu wer-<lb/> den. Die Anwendung der epiſchen Behandlung auf<lb/> kleine Gegenſtaͤnde macht eine beſondre Gattung<lb/> der Epopoͤe aus, die man das ſcherzhafte, oder co-<lb/> miſche Heldengedicht nennt. (*)</p> <note place="right">(*) S.<lb/> Scherzhaft</note><lb/> <p>Die große Epopoͤe iſt ohne Zweifel das wichtigſte<lb/> und hoͤchſte Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte; die Alten ha-<lb/> ben die Jlias und Odyſſee fuͤr die Quellen gehalten,<lb/> woraus Feldherrn, Staatsmaͤnner, Buͤrger und<lb/> Hausvaͤter die Weisheit ihres Standes ſchoͤpfen koͤn-<lb/> nen; ſie fanden darin die Muſter des Trauerſpiels<lb/> und der Comoͤdie; ſie glaubten, daß Redner, Mah-<lb/> ler und Bildhauer, das Weſentlichſte ihrer Kuͤnſte<lb/> daraus zu lernen haben: und dieſes iſt in Wahrheit<lb/> nicht uͤbertrieben. Es iſt keine Art der Wuͤrkung<lb/> von irgend einem Zweyg der Kuͤnſte zu erwarten,<lb/> die der epiſche Dichter nicht in ſeiner Gewalt haͤtte,<lb/> und das Gute, was die verſchiedenen Dichtungsar-<lb/> ten einzeln enthalten, findet ſich auf einmal in der<lb/> Epopoͤe zuſammen. Welche Gattung des Unter-<lb/> richts und der Lehre kann von redenden Kuͤnſten er-<lb/> wartet werden, die nicht der epiſche Dichter auf das<lb/> vollkommenſte geben koͤnnte? Und wo iſt jemal ein<lb/> vollkommnerer Redner gewoſen als Homer? Was<lb/> kann von Gemaͤhlden und Schilderungen erwartet<lb/> werden, davon nicht die Beyſpiele beym Homer zu<lb/> finden waͤren. Hat nicht Phidias, der das hoͤchſte<lb/> Werk der bildenden Kuͤnſte hervorgebracht hat, ge-<lb/> ſtanden, daß er es dem Dichter ſchuldig ſey? Wo<lb/> iſt irgend eine Vorſtellung, die die Seele erhe-<lb/> ben und zu der aͤußerſten Anſtrengung ihrer Kraͤfte<lb/> reizen kann, oder vermittelſt welcher die ſtaͤrkſte Lei-<lb/> denſchaft im Zaum zu halten iſt, die nicht der<lb/> epiſche Dichter natuͤrlicher, als jeder andre in das<lb/> Gemuͤth praͤgen koͤnnte? Darum gebuͤhret dem groſ-<lb/> ſen epiſchen Dichter der Vorzug uͤber alle Kuͤnſtler,<lb/> und dem Heldengedichte der Rang uͤber jedes andre<lb/> Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte.</p><lb/> <p>Wenn man bedenkt, was fuͤr Genie dazu gehoͤrt<lb/> in dieſer hohen Dichtungsart gluͤklich zu ſeyn, ſo<lb/> wird man ſich nicht verwundern, daß das gute Hel-<lb/> dengedicht ſo ſelten iſt. Die an großen Genien ſo<lb/> reiche Nation der Griechen hat nur eine ſehr kleine<lb/> Anzahl epiſcher Dichter gehabt, und Rom, das ſo<lb/> viele zur Bewundrung große Maͤnner gezeuget, hat<lb/> <fw place="bottom" type="catch">doch</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [532/0544]
Hel
Hel
Alſo iſt auch der Hexameter dem Heldengedicht eben
nicht weſentlich; aber kein andrer Vers hat die Vor-
theile deſſelben.
Dieſes ſcheinet nun alles Weſentliche der Epopee
zu ſeyn. Hat ein Gedicht dieſes, ſo kann ihm der
Name des Heldengedichts nicht verſagt werden, von
was fuͤr einem Jnhalt, von welcher Form, Groͤße
und Versart es uͤbrigens ſeyn mag. Von der Jlias
bis auf Addiſons Siegesgeſang uͤber Marlboroughs
Feldzug, kann ſie unzaͤhlige Formen annehmen. Ur-
ſpruͤnglich war ihr Jnhalt vermuthlich blos kriege-
riſch; aber Homer hat durch die Odyſſee ſchon ge-
zeiget, daß man von dieſem Stoff abgehen koͤnne.
Einige Kunſtrichter ſtehen in dem Wahn, Homer
habe die Form der Epopoͤe feſtgeſetzt; aber Oßians
Fingal iſt nicht nach dieſer Form gebildet, und den-
noch ein aͤchtes Heldengedicht. Wir wollen alſo von
dem epiſchen Dichter blos das Weſentliche fodern,
und alles uͤbrige ſeinem Genie oder ſeiner Wahl
uͤberlaſſen. Wir wollen nicht ſchlechterdings ver-
langen, daß er ſeine Handlung durch Einfuͤhrung
hoͤherer Maͤchte uͤbernatuͤrlich und wunderbar ma-
chen ſoll. Denn auch menſchliche Handlungen koͤn-
nen groß ſeyn und Bewundrung erweken; wenn
nur das Genie des Dichters groß genug iſt. Das
was die Goͤtter in der Jlias thun, iſt nicht das
wunderbareſte: man kann es wegnehmen, und doch
wird alles groß bleiben. Wenn aber ein Dichter
von gemeinem Genie ſeiner Handlung durch uͤber-
natuͤrliche Maͤchte, oder gar durch allegoriſche Per-
ſonen den Anſtrich des Wunderbaren geben will,
ſo wird er eher froſtig, als groß. Und eben ſo we-
nig wollen wir ihm uͤber die Zeit, den Ort und die
Dauer der Handlung, willkuͤhrliche Negeln vor-
ſchreiben; ſondern ihn gern unter die Zahl der gu-
ten epiſchen Dichter aufnehmen, wenn er nur das
Weſentliche geleiſtet hat.
Was wir hier uͤber das Heldengedicht angemerkt
haben, betrift eigentlich die große Epopoͤe, die eine
ganz wichtige Handlung beſingt, und uns mit Per-
ſonen von außerordentlichen Gemuͤthskraͤften und
von erhabenem Charakter bekannt macht. Man kann
aber den epiſchen Ton und die epiſche Behandlung,
auch auf Gegenſtaͤnde von mittlerer Groͤße anwen-
den, und daher entſteht die kleinere Epopoͤe, die
noch immer ſehr intreſſant ſeyn kann, wenn ſie uns
gleich die Menſchen nicht auf der hoͤchſten Stufe zei-
get. Von dieſer Art ſind aus dem Alterthum, das
Gedicht des Muſaͤus von Hero und Leander; die
geraubte Helena des Coluthus und andre. Von un-
ſern einheimiſchen Gedichten verdienet in dieſer Claſſe
Bodmers Jacob, als ein Muſter angefuͤhrt zu wer-
den. Die Anwendung der epiſchen Behandlung auf
kleine Gegenſtaͤnde macht eine beſondre Gattung
der Epopoͤe aus, die man das ſcherzhafte, oder co-
miſche Heldengedicht nennt. (*)
Die große Epopoͤe iſt ohne Zweifel das wichtigſte
und hoͤchſte Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte; die Alten ha-
ben die Jlias und Odyſſee fuͤr die Quellen gehalten,
woraus Feldherrn, Staatsmaͤnner, Buͤrger und
Hausvaͤter die Weisheit ihres Standes ſchoͤpfen koͤn-
nen; ſie fanden darin die Muſter des Trauerſpiels
und der Comoͤdie; ſie glaubten, daß Redner, Mah-
ler und Bildhauer, das Weſentlichſte ihrer Kuͤnſte
daraus zu lernen haben: und dieſes iſt in Wahrheit
nicht uͤbertrieben. Es iſt keine Art der Wuͤrkung
von irgend einem Zweyg der Kuͤnſte zu erwarten,
die der epiſche Dichter nicht in ſeiner Gewalt haͤtte,
und das Gute, was die verſchiedenen Dichtungsar-
ten einzeln enthalten, findet ſich auf einmal in der
Epopoͤe zuſammen. Welche Gattung des Unter-
richts und der Lehre kann von redenden Kuͤnſten er-
wartet werden, die nicht der epiſche Dichter auf das
vollkommenſte geben koͤnnte? Und wo iſt jemal ein
vollkommnerer Redner gewoſen als Homer? Was
kann von Gemaͤhlden und Schilderungen erwartet
werden, davon nicht die Beyſpiele beym Homer zu
finden waͤren. Hat nicht Phidias, der das hoͤchſte
Werk der bildenden Kuͤnſte hervorgebracht hat, ge-
ſtanden, daß er es dem Dichter ſchuldig ſey? Wo
iſt irgend eine Vorſtellung, die die Seele erhe-
ben und zu der aͤußerſten Anſtrengung ihrer Kraͤfte
reizen kann, oder vermittelſt welcher die ſtaͤrkſte Lei-
denſchaft im Zaum zu halten iſt, die nicht der
epiſche Dichter natuͤrlicher, als jeder andre in das
Gemuͤth praͤgen koͤnnte? Darum gebuͤhret dem groſ-
ſen epiſchen Dichter der Vorzug uͤber alle Kuͤnſtler,
und dem Heldengedichte der Rang uͤber jedes andre
Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte.
Wenn man bedenkt, was fuͤr Genie dazu gehoͤrt
in dieſer hohen Dichtungsart gluͤklich zu ſeyn, ſo
wird man ſich nicht verwundern, daß das gute Hel-
dengedicht ſo ſelten iſt. Die an großen Genien ſo
reiche Nation der Griechen hat nur eine ſehr kleine
Anzahl epiſcher Dichter gehabt, und Rom, das ſo
viele zur Bewundrung große Maͤnner gezeuget, hat
doch
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