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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Har
gothische oder barbarische Erfindung sey, die der
(*) S.
Einklang
S. 305.
Musik mehr schadet, als nützet. (*) Einstimmige Sa-
chen, die von einem guten Baß und einigen Mit-
telstimmen nach den besten Regeln der Harmonie
begleitet werden, verlieren durch die Harmonie nicht
nur nichts, sondern gewinnen im Ausdruk offenbar.
Freylich ist ein vierstimmiger Gesang, wenn er nicht
vollkommen harmonisch ist, schlechter, als ein ein-
stimmiger: aber von einem guten Harmonisten ver-
fertiget, und von geschikten Sängern so aufgeführt,
daß die Stimmen in einander fliessen und zusam-
men einen einzigen Gesang ausmachen, rühret er
weit mehr. Es ist wol schweerlich etwas in der
Musik, das an Kraft und Ausdruk einem vollkom-
men gesetzten und vollkommen aufgeführten vier-
stimmigen Choral zu vergleichen wäre. Und welcher
Mensch empfindet nicht, daß ein gutes Duet, ein
wolgesetztes Trio, schöner und reizender ist, als ein
Solo?

Wir ziehen hieraus den Schluß, daß zwar die
Harmonie in der Musik nicht nothwendig, aber
in den meisten Fällen sehr nützlich sey, und daß die
Kunst überhaupt durch die Erfindung der Harmonie
sehr viel gewonnen habe.

Es ist bereits angemerkt worden, daß die Gesänge
der Alten, wenn sie auch von einem ganzen Chor
gesungen worden, nur einstimmig gewesen, und
daß die Sänger alle im Unisonus oder in Octa-
den gesungen haben. Man hält dafür, daß der
vielstimmige Gesang erst im XII Jahrhundert auf-
(*) S.
Marpurgs
Beyträge
zur Musik
V Th. 5 St
S. 356.
gekommen sey. (*) Die Veranlasung dazu scheinet
so natürlich zu seyn, daß man sich verwundern muß,
wie man so späte darauf gefallen ist. Es scheinet
beynahe nothwendig, daß ein einstimmiger Gefang
von einem ganzen Chor, der aus jungen und alten
Sängern besteht, abgesungen, vielstimmig werde.
Die Verschiedenheit des Umfanges der Stimmen
führt ganz natürlich dahin, daß einige die Octaven,
andre die Quinten oder Terzen der vorgeschriebe-
nen Töne, so wol herauf als herunter, nehmen, wenn
sie die Höhe oder Tiefe, so wie sie vorgeschrieben ist,
nicht erreichen können. Dadurch aber entsteht eben
der vielstimmige Gesang. Ohne Zweifel aber hat
ein solcher Gesang eine Menge der itzt verbothenen
Octaven und Quinten, Fortschreitungen hervorge-
bracht. Und vielleicht hat eben dieses Gelegenheit
gegeben, die Harmonie im Grunde zu studiren, und
den Stimmen von verschiedener Höhe die Töne so
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Har
vorzuschreiben, daß die falschen oder unangenehmen
Fortschreitungen vermieden wurden. Jn der That
besteht der wesentlichste Theil der harmonischen Wis-
senschaft darin, daß man zu einem einstimmigen
Gesang mehrere Stimmen setze, deren Töne mit
der Hauptstimme consoniren, aber so, daß die Oc-
taven und Quinten in der Fortschreitung vermieden
werden. Dieses scheinet also der wahre Ursprung
der harmonischen Wissenschaft zu seyn. Erst lange
hernach hat sie eine weitere Ausdähnung bekommen,
da der Gebrauch der Dissonanzen aufgekommen, und
die diatonische Tonleiter durch Einführung der so ge-
nannten chromatischen Töne bereichert und dadurch
die heutige Modulation eingeführt worden. Die-
ses gab der harmonischen Wissenschaft einen grös-
sern Umfang, indem man nun die Regeln von dem
Gebrauch und der Behandlung der Dissonanzen und
von der Kunst zu moduliren, oder den Gesang durch
mehrere Tonarten durchzuführen, entdeken müßte.

Es erhellet aus der vorher angeführten Bemer-
kung über den Ursprung des vielstimmigen Gesan-
ges, daß die Harmonie einigermaaßen nothwendig
in die Musik hat eingeführet werden müssen. Daß
sie aber der Natur der Sachen gemäß sey, erhellet
schon daraus, daß die harmonischen oder consoniren-
den Töne in der Natur selbst vorhanden sind. Denn
es ist itzt vollkommen ausgemacht, daß jeder etwas
tiefe und volle Ton, indem er das Gehör rühret, seine
harmonische Töne und noch mehrere zugleich hören
lasse. (*) Da nun die Annehmlichkeit eines Klanges(*) S.
Klang.

ohne Zweifel aus dieser harmonischen Vermischung
oder Vereinigung mehrerer Töne entsteht; warum
sollte man diesem Wink der Natur nicht folgen,
und den Gefang nicht vielstimmig machen, wie die
Natur jeden einzeln Ton gemacht hat?

Demnach hat die Musik durch Einführung der
Harmonie unstreitig sehr viel gewonnen. Jndessen
treiben diejenigen freylich die Sache zu weit, die mit
Rameau behaupten wollen, daß die ganze Kunst
blos auf die Harmonie gegründet sey, und daß so
gar die Melodie selbst ihren Ursprung in der Har-
monie habe. Diese hat nichts, das auf Bewe-
gung und Rhythmus führen könnte, die doch in der
Musik das Wesentlichste sind. Man kann auch nicht
einmal sagen, daß die Regeln der Fortschreitung
aus Betrachtung der Harmonie entstehen. Denn
das, was Rameau mit so viel Zuversicht und mit

so

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Har
gothiſche oder barbariſche Erfindung ſey, die der
(*) S.
Einklang
S. 305.
Muſik mehr ſchadet, als nuͤtzet. (*) Einſtimmige Sa-
chen, die von einem guten Baß und einigen Mit-
telſtimmen nach den beſten Regeln der Harmonie
begleitet werden, verlieren durch die Harmonie nicht
nur nichts, ſondern gewinnen im Ausdruk offenbar.
Freylich iſt ein vierſtimmiger Geſang, wenn er nicht
vollkommen harmoniſch iſt, ſchlechter, als ein ein-
ſtimmiger: aber von einem guten Harmoniſten ver-
fertiget, und von geſchikten Saͤngern ſo aufgefuͤhrt,
daß die Stimmen in einander flieſſen und zuſam-
men einen einzigen Geſang ausmachen, ruͤhret er
weit mehr. Es iſt wol ſchweerlich etwas in der
Muſik, das an Kraft und Ausdruk einem vollkom-
men geſetzten und vollkommen aufgefuͤhrten vier-
ſtimmigen Choral zu vergleichen waͤre. Und welcher
Menſch empfindet nicht, daß ein gutes Duet, ein
wolgeſetztes Trio, ſchoͤner und reizender iſt, als ein
Solo?

Wir ziehen hieraus den Schluß, daß zwar die
Harmonie in der Muſik nicht nothwendig, aber
in den meiſten Faͤllen ſehr nuͤtzlich ſey, und daß die
Kunſt uͤberhaupt durch die Erfindung der Harmonie
ſehr viel gewonnen habe.

Es iſt bereits angemerkt worden, daß die Geſaͤnge
der Alten, wenn ſie auch von einem ganzen Chor
geſungen worden, nur einſtimmig geweſen, und
daß die Saͤnger alle im Uniſonus oder in Octa-
den geſungen haben. Man haͤlt dafuͤr, daß der
vielſtimmige Geſang erſt im XII Jahrhundert auf-
(*) S.
Marpurgs
Beytraͤge
zur Muſik
V Th. 5 St
S. 356.
gekommen ſey. (*) Die Veranlaſung dazu ſcheinet
ſo natuͤrlich zu ſeyn, daß man ſich verwundern muß,
wie man ſo ſpaͤte darauf gefallen iſt. Es ſcheinet
beynahe nothwendig, daß ein einſtimmiger Gefang
von einem ganzen Chor, der aus jungen und alten
Saͤngern beſteht, abgeſungen, vielſtimmig werde.
Die Verſchiedenheit des Umfanges der Stimmen
fuͤhrt ganz natuͤrlich dahin, daß einige die Octaven,
andre die Quinten oder Terzen der vorgeſchriebe-
nen Toͤne, ſo wol herauf als herunter, nehmen, wenn
ſie die Hoͤhe oder Tiefe, ſo wie ſie vorgeſchrieben iſt,
nicht erreichen koͤnnen. Dadurch aber entſteht eben
der vielſtimmige Geſang. Ohne Zweifel aber hat
ein ſolcher Geſang eine Menge der itzt verbothenen
Octaven und Quinten, Fortſchreitungen hervorge-
bracht. Und vielleicht hat eben dieſes Gelegenheit
gegeben, die Harmonie im Grunde zu ſtudiren, und
den Stimmen von verſchiedener Hoͤhe die Toͤne ſo
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Har
vorzuſchreiben, daß die falſchen oder unangenehmen
Fortſchreitungen vermieden wurden. Jn der That
beſteht der weſentlichſte Theil der harmoniſchen Wiſ-
ſenſchaft darin, daß man zu einem einſtimmigen
Geſang mehrere Stimmen ſetze, deren Toͤne mit
der Hauptſtimme conſoniren, aber ſo, daß die Oc-
taven und Quinten in der Fortſchreitung vermieden
werden. Dieſes ſcheinet alſo der wahre Urſprung
der harmoniſchen Wiſſenſchaft zu ſeyn. Erſt lange
hernach hat ſie eine weitere Ausdaͤhnung bekommen,
da der Gebrauch der Diſſonanzen aufgekommen, und
die diatoniſche Tonleiter durch Einfuͤhrung der ſo ge-
nannten chromatiſchen Toͤne bereichert und dadurch
die heutige Modulation eingefuͤhrt worden. Die-
ſes gab der harmoniſchen Wiſſenſchaft einen groͤſ-
ſern Umfang, indem man nun die Regeln von dem
Gebrauch und der Behandlung der Diſſonanzen und
von der Kunſt zu moduliren, oder den Geſang durch
mehrere Tonarten durchzufuͤhren, entdeken muͤßte.

Es erhellet aus der vorher angefuͤhrten Bemer-
kung uͤber den Urſprung des vielſtimmigen Geſan-
ges, daß die Harmonie einigermaaßen nothwendig
in die Muſik hat eingefuͤhret werden muͤſſen. Daß
ſie aber der Natur der Sachen gemaͤß ſey, erhellet
ſchon daraus, daß die harmoniſchen oder conſoniren-
den Toͤne in der Natur ſelbſt vorhanden ſind. Denn
es iſt itzt vollkommen ausgemacht, daß jeder etwas
tiefe und volle Ton, indem er das Gehoͤr ruͤhret, ſeine
harmoniſche Toͤne und noch mehrere zugleich hoͤren
laſſe. (*) Da nun die Annehmlichkeit eines Klanges(*) S.
Klang.

ohne Zweifel aus dieſer harmoniſchen Vermiſchung
oder Vereinigung mehrerer Toͤne entſteht; warum
ſollte man dieſem Wink der Natur nicht folgen,
und den Gefang nicht vielſtimmig machen, wie die
Natur jeden einzeln Ton gemacht hat?

Demnach hat die Muſik durch Einfuͤhrung der
Harmonie unſtreitig ſehr viel gewonnen. Jndeſſen
treiben diejenigen freylich die Sache zu weit, die mit
Rameau behaupten wollen, daß die ganze Kunſt
blos auf die Harmonie gegruͤndet ſey, und daß ſo
gar die Melodie ſelbſt ihren Urſprung in der Har-
monie habe. Dieſe hat nichts, das auf Bewe-
gung und Rhythmus fuͤhren koͤnnte, die doch in der
Muſik das Weſentlichſte ſind. Man kann auch nicht
einmal ſagen, daß die Regeln der Fortſchreitung
aus Betrachtung der Harmonie entſtehen. Denn
das, was Rameau mit ſo viel Zuverſicht und mit

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[514/0526] Har Har gothiſche oder barbariſche Erfindung ſey, die der Muſik mehr ſchadet, als nuͤtzet. (*) Einſtimmige Sa- chen, die von einem guten Baß und einigen Mit- telſtimmen nach den beſten Regeln der Harmonie begleitet werden, verlieren durch die Harmonie nicht nur nichts, ſondern gewinnen im Ausdruk offenbar. Freylich iſt ein vierſtimmiger Geſang, wenn er nicht vollkommen harmoniſch iſt, ſchlechter, als ein ein- ſtimmiger: aber von einem guten Harmoniſten ver- fertiget, und von geſchikten Saͤngern ſo aufgefuͤhrt, daß die Stimmen in einander flieſſen und zuſam- men einen einzigen Geſang ausmachen, ruͤhret er weit mehr. Es iſt wol ſchweerlich etwas in der Muſik, das an Kraft und Ausdruk einem vollkom- men geſetzten und vollkommen aufgefuͤhrten vier- ſtimmigen Choral zu vergleichen waͤre. Und welcher Menſch empfindet nicht, daß ein gutes Duet, ein wolgeſetztes Trio, ſchoͤner und reizender iſt, als ein Solo? (*) S. Einklang S. 305. Wir ziehen hieraus den Schluß, daß zwar die Harmonie in der Muſik nicht nothwendig, aber in den meiſten Faͤllen ſehr nuͤtzlich ſey, und daß die Kunſt uͤberhaupt durch die Erfindung der Harmonie ſehr viel gewonnen habe. Es iſt bereits angemerkt worden, daß die Geſaͤnge der Alten, wenn ſie auch von einem ganzen Chor geſungen worden, nur einſtimmig geweſen, und daß die Saͤnger alle im Uniſonus oder in Octa- den geſungen haben. Man haͤlt dafuͤr, daß der vielſtimmige Geſang erſt im XII Jahrhundert auf- gekommen ſey. (*) Die Veranlaſung dazu ſcheinet ſo natuͤrlich zu ſeyn, daß man ſich verwundern muß, wie man ſo ſpaͤte darauf gefallen iſt. Es ſcheinet beynahe nothwendig, daß ein einſtimmiger Gefang von einem ganzen Chor, der aus jungen und alten Saͤngern beſteht, abgeſungen, vielſtimmig werde. Die Verſchiedenheit des Umfanges der Stimmen fuͤhrt ganz natuͤrlich dahin, daß einige die Octaven, andre die Quinten oder Terzen der vorgeſchriebe- nen Toͤne, ſo wol herauf als herunter, nehmen, wenn ſie die Hoͤhe oder Tiefe, ſo wie ſie vorgeſchrieben iſt, nicht erreichen koͤnnen. Dadurch aber entſteht eben der vielſtimmige Geſang. Ohne Zweifel aber hat ein ſolcher Geſang eine Menge der itzt verbothenen Octaven und Quinten, Fortſchreitungen hervorge- bracht. Und vielleicht hat eben dieſes Gelegenheit gegeben, die Harmonie im Grunde zu ſtudiren, und den Stimmen von verſchiedener Hoͤhe die Toͤne ſo vorzuſchreiben, daß die falſchen oder unangenehmen Fortſchreitungen vermieden wurden. Jn der That beſteht der weſentlichſte Theil der harmoniſchen Wiſ- ſenſchaft darin, daß man zu einem einſtimmigen Geſang mehrere Stimmen ſetze, deren Toͤne mit der Hauptſtimme conſoniren, aber ſo, daß die Oc- taven und Quinten in der Fortſchreitung vermieden werden. Dieſes ſcheinet alſo der wahre Urſprung der harmoniſchen Wiſſenſchaft zu ſeyn. Erſt lange hernach hat ſie eine weitere Ausdaͤhnung bekommen, da der Gebrauch der Diſſonanzen aufgekommen, und die diatoniſche Tonleiter durch Einfuͤhrung der ſo ge- nannten chromatiſchen Toͤne bereichert und dadurch die heutige Modulation eingefuͤhrt worden. Die- ſes gab der harmoniſchen Wiſſenſchaft einen groͤſ- ſern Umfang, indem man nun die Regeln von dem Gebrauch und der Behandlung der Diſſonanzen und von der Kunſt zu moduliren, oder den Geſang durch mehrere Tonarten durchzufuͤhren, entdeken muͤßte. (*) S. Marpurgs Beytraͤge zur Muſik V Th. 5 St S. 356. Es erhellet aus der vorher angefuͤhrten Bemer- kung uͤber den Urſprung des vielſtimmigen Geſan- ges, daß die Harmonie einigermaaßen nothwendig in die Muſik hat eingefuͤhret werden muͤſſen. Daß ſie aber der Natur der Sachen gemaͤß ſey, erhellet ſchon daraus, daß die harmoniſchen oder conſoniren- den Toͤne in der Natur ſelbſt vorhanden ſind. Denn es iſt itzt vollkommen ausgemacht, daß jeder etwas tiefe und volle Ton, indem er das Gehoͤr ruͤhret, ſeine harmoniſche Toͤne und noch mehrere zugleich hoͤren laſſe. (*) Da nun die Annehmlichkeit eines Klanges ohne Zweifel aus dieſer harmoniſchen Vermiſchung oder Vereinigung mehrerer Toͤne entſteht; warum ſollte man dieſem Wink der Natur nicht folgen, und den Gefang nicht vielſtimmig machen, wie die Natur jeden einzeln Ton gemacht hat? (*) S. Klang. Demnach hat die Muſik durch Einfuͤhrung der Harmonie unſtreitig ſehr viel gewonnen. Jndeſſen treiben diejenigen freylich die Sache zu weit, die mit Rameau behaupten wollen, daß die ganze Kunſt blos auf die Harmonie gegruͤndet ſey, und daß ſo gar die Melodie ſelbſt ihren Urſprung in der Har- monie habe. Dieſe hat nichts, das auf Bewe- gung und Rhythmus fuͤhren koͤnnte, die doch in der Muſik das Weſentlichſte ſind. Man kann auch nicht einmal ſagen, daß die Regeln der Fortſchreitung aus Betrachtung der Harmonie entſtehen. Denn das, was Rameau mit ſo viel Zuverſicht und mit ſo

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/526>, abgerufen am 22.11.2024.