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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Gro
in unserm Verstande mit wenigem viel auszurichten.
Diesen Charakter haben vorzüglich die besten Werke
der Alten in redenden und zeichnenden Künsten. Sie
sagen viel, lassen viel empfinden, erfüllen gleich-
sam die ganze Seele, ob man gleich keine große Ver-
anstaltung zu einer so großen Würkung gewahr
wird.

Der kleine subtile Verstand kömmt wol auch zu
seinem Zwek, aber durch vielerley einzele Mittel;
weil er nicht vermögend ist, das einzige, den geraden
Weg zum Zwek führende, Hauptmittel zu finden.
Es ist eine bekannte, sich auf alle vom menschlichen
Verstand abhängende Geschäft erstrekende, Bemer-
kung, daß das Einfache das Schweereste sey, das,
worauf man zuletzt fällt. Dieses ist darum so, weil
gerade der größte Verstand dazu erfodert wird. Nur
der, welcher alles Einzele, was zu einem System
von zusammengesetzten Dingen gehöret, auf einmal
klar übersehen kann, wird das einfache Grundge-
setz, nach welchem das System gebaut ist, entdeken.
Die Rede, die uns von der Wahrheit einer Sache
überzeugen, oder die uns die eigentliche Beschaffen-
heit derselben in hellem Lichte zeigen, oder die eine
Entschließung in uns bewürken soll, wird nur dann
den Charakter der Größe haben, wenn diese Wür-
kung geradezu, und durch die wenigsten Vorstellun-
gen erreicht wird. Die Reden des Demosthenes
haben durchgehends diesen Charakter. Man entde-
ket dabey einen Redner, der seines Gegenstandes
so vollkommen Meister ist, daß er ihn im Ganzen
mit der größten Klarheit übersieht; darum kann er
auch ohne Umschweiff, ohne ängstliches Bestreben,
(*) Non
multa sed
multum.
ohne vielerley anzuführen, (*) ohne jedes Einzele
besonders zu sagen, seinen Zuhörer durch wenig
Hauptvorstellungen dahin bringen, wo er ihn ha-
ben will. Von dieser Größe sind auch die meisten
Reden, die Livius den Personen, die er in seiner Ge-
schichte aufführet, in den Mund legt. Dieser Ge-
schichtschreiber erzählt, daß bey einem gefährlichen
Kriege, den die Römer vorhatten, zwischen den drey
obersten Befehlshabern, die damals den Staat re-
gierten, ein hitziger Zank entstanden sey; weil kei-
ner von den dreyen in der Stadt bleiben wollte.
Der Senat hörte dem Streit eine Zeitlang mit
[Spaltenumbruch]

Gro
Bestürzung zu, weil diese Uneinigkeit gefährliche Fol-
gen nach sich ziehen konnte. Einer der drey ober-
sten Befehlshaber war der Sohn des Q. Servilius,
der ehedem Diktator gewesen war. Um also dem
Streite ganz kurz ein Ende zu machen, steht dieser
Mann im Senat auf, und sagt die wenigen Worte:
"Da ich sehe, daß ihr weder für den versammelten
Senat, noch für den Staat selbst, die geringste Ehr-
erbietigkeit habt, so soll die Hoheit des väterlichen
Ansehens diesem Zank ein Ende machen. Mein
Sohn soll ohne Loos in der Stadt bleiben. Mögen
die, die den Krieg suchen, ihn mit mehr Ueberle-
gung und Einigkeit führen, als sie hier zeigen." [Spaltenumbruch] (+)
Dieses heißt geradezu und mit sicherm Schritt zum
Zwek eilen. Ein minder Großdenkender würde man-
cherley Vorstellungen, Bitten und Flehen versucht,
und dennoch damit nichts ausgerichtet haben.

Auf eben diesem Grunde beruhet auch die Größe
der Gedanken, oder der Vorstellungen, da zwey oder
drey Worte, oder Begriffe hinlänglich sind, uns in
den Gesichtspunkt zu stellen, in welchem wir ein
sehr helles anschauendes Erkenntniß von Dingen
bekommen, die eine weitläuftige Entwiklung der
Begriffe zu erfodern schienen. Ein Wort, wodurch
eine lange Reyhe von Beschuldigungen abgelehnt,
oder wiederlegt wird, ist ein großes Wort. Von
dieser Art ist folgendes von Pope: "Jndem der
Mensch ausruft, sehet! alles ist für mich geschaffen,
erwiedert die Gans, die er mästet, für mich ist der
Mensch gemacht." Als jemand dem Diogenes, dem
Cyniker, vorhielt, daß alle Menschen ihn auslachten,
antwortete er: das thun sie, ich aber werde nicht
ausgelacht.
Mancher andrer würde viel Worte
gebraucht haben, um zu beweisen, daß man mit
Unrecht sich über ihn aufhalte; aber damit würde er
vielleicht weniger gesagt haben, als Diogenes mit
zwey Worten. Darum ist seine Antwort groß.

Aus der Größe, die in dem Verstand und der Be-
urtheilungskraft liegt, entsteht, wenn sie auf sittli-
che Gegenstände angewendet wird, die Größe der
Sinnesart, des sittlichen Betragens, der sittlichen
Empfindungen und auch wol des ganzen Charak-
ters. Diese Größe verdienet vorzüglich von dem
Künstler beobachtet zu werden, damit er einen rech-

ten
(+) Quando nec ordinis hujus ulla, nec reipublicae est
verecundia, patria majestas altercationem istam dirimet.
Filius meus extra fortem urbi praeerit. Bellum utinam,
[Spaltenumbruch] qui adpetunt, consideratius concordiusque, quam cupiunt,
gerant. Liv. L. IV. c.
46.
Q q q 3

[Spaltenumbruch]

Gro
in unſerm Verſtande mit wenigem viel auszurichten.
Dieſen Charakter haben vorzuͤglich die beſten Werke
der Alten in redenden und zeichnenden Kuͤnſten. Sie
ſagen viel, laſſen viel empfinden, erfuͤllen gleich-
ſam die ganze Seele, ob man gleich keine große Ver-
anſtaltung zu einer ſo großen Wuͤrkung gewahr
wird.

Der kleine ſubtile Verſtand koͤmmt wol auch zu
ſeinem Zwek, aber durch vielerley einzele Mittel;
weil er nicht vermoͤgend iſt, das einzige, den geraden
Weg zum Zwek fuͤhrende, Hauptmittel zu finden.
Es iſt eine bekannte, ſich auf alle vom menſchlichen
Verſtand abhaͤngende Geſchaͤft erſtrekende, Bemer-
kung, daß das Einfache das Schweereſte ſey, das,
worauf man zuletzt faͤllt. Dieſes iſt darum ſo, weil
gerade der groͤßte Verſtand dazu erfodert wird. Nur
der, welcher alles Einzele, was zu einem Syſtem
von zuſammengeſetzten Dingen gehoͤret, auf einmal
klar uͤberſehen kann, wird das einfache Grundge-
ſetz, nach welchem das Syſtem gebaut iſt, entdeken.
Die Rede, die uns von der Wahrheit einer Sache
uͤberzeugen, oder die uns die eigentliche Beſchaffen-
heit derſelben in hellem Lichte zeigen, oder die eine
Entſchließung in uns bewuͤrken ſoll, wird nur dann
den Charakter der Groͤße haben, wenn dieſe Wuͤr-
kung geradezu, und durch die wenigſten Vorſtellun-
gen erreicht wird. Die Reden des Demoſthenes
haben durchgehends dieſen Charakter. Man entde-
ket dabey einen Redner, der ſeines Gegenſtandes
ſo vollkommen Meiſter iſt, daß er ihn im Ganzen
mit der groͤßten Klarheit uͤberſieht; darum kann er
auch ohne Umſchweiff, ohne aͤngſtliches Beſtreben,
(*) Non
multa ſed
multum.
ohne vielerley anzufuͤhren, (*) ohne jedes Einzele
beſonders zu ſagen, ſeinen Zuhoͤrer durch wenig
Hauptvorſtellungen dahin bringen, wo er ihn ha-
ben will. Von dieſer Groͤße ſind auch die meiſten
Reden, die Livius den Perſonen, die er in ſeiner Ge-
ſchichte auffuͤhret, in den Mund legt. Dieſer Ge-
ſchichtſchreiber erzaͤhlt, daß bey einem gefaͤhrlichen
Kriege, den die Roͤmer vorhatten, zwiſchen den drey
oberſten Befehlshabern, die damals den Staat re-
gierten, ein hitziger Zank entſtanden ſey; weil kei-
ner von den dreyen in der Stadt bleiben wollte.
Der Senat hoͤrte dem Streit eine Zeitlang mit
[Spaltenumbruch]

Gro
Beſtuͤrzung zu, weil dieſe Uneinigkeit gefaͤhrliche Fol-
gen nach ſich ziehen konnte. Einer der drey ober-
ſten Befehlshaber war der Sohn des Q. Servilius,
der ehedem Diktator geweſen war. Um alſo dem
Streite ganz kurz ein Ende zu machen, ſteht dieſer
Mann im Senat auf, und ſagt die wenigen Worte:
„Da ich ſehe, daß ihr weder fuͤr den verſammelten
Senat, noch fuͤr den Staat ſelbſt, die geringſte Ehr-
erbietigkeit habt, ſo ſoll die Hoheit des vaͤterlichen
Anſehens dieſem Zank ein Ende machen. Mein
Sohn ſoll ohne Loos in der Stadt bleiben. Moͤgen
die, die den Krieg ſuchen, ihn mit mehr Ueberle-
gung und Einigkeit fuͤhren, als ſie hier zeigen.‟ [Spaltenumbruch] (†)
Dieſes heißt geradezu und mit ſicherm Schritt zum
Zwek eilen. Ein minder Großdenkender wuͤrde man-
cherley Vorſtellungen, Bitten und Flehen verſucht,
und dennoch damit nichts ausgerichtet haben.

Auf eben dieſem Grunde beruhet auch die Groͤße
der Gedanken, oder der Vorſtellungen, da zwey oder
drey Worte, oder Begriffe hinlaͤnglich ſind, uns in
den Geſichtspunkt zu ſtellen, in welchem wir ein
ſehr helles anſchauendes Erkenntniß von Dingen
bekommen, die eine weitlaͤuftige Entwiklung der
Begriffe zu erfodern ſchienen. Ein Wort, wodurch
eine lange Reyhe von Beſchuldigungen abgelehnt,
oder wiederlegt wird, iſt ein großes Wort. Von
dieſer Art iſt folgendes von Pope: „Jndem der
Menſch ausruft, ſehet! alles iſt fuͤr mich geſchaffen,
erwiedert die Gans, die er maͤſtet, fuͤr mich iſt der
Menſch gemacht.‟ Als jemand dem Diogenes, dem
Cyniker, vorhielt, daß alle Menſchen ihn auslachten,
antwortete er: das thun ſie, ich aber werde nicht
ausgelacht.
Mancher andrer wuͤrde viel Worte
gebraucht haben, um zu beweiſen, daß man mit
Unrecht ſich uͤber ihn aufhalte; aber damit wuͤrde er
vielleicht weniger geſagt haben, als Diogenes mit
zwey Worten. Darum iſt ſeine Antwort groß.

Aus der Groͤße, die in dem Verſtand und der Be-
urtheilungskraft liegt, entſteht, wenn ſie auf ſittli-
che Gegenſtaͤnde angewendet wird, die Groͤße der
Sinnesart, des ſittlichen Betragens, der ſittlichen
Empfindungen und auch wol des ganzen Charak-
ters. Dieſe Groͤße verdienet vorzuͤglich von dem
Kuͤnſtler beobachtet zu werden, damit er einen rech-

ten
(†) Quando nec ordinis hujus ulla, nec reipublicæ eſt
verecundia, patria majeſtas altercationem iſtam dirimet.
Filius meus extra fortem urbi præerit. Bellum utinam,
[Spaltenumbruch] qui adpetunt, conſideratius concordiusque, quam cupiunt,
gerant. Liv. L. IV. c.
46.
Q q q 3
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[493/0505] Gro Gro in unſerm Verſtande mit wenigem viel auszurichten. Dieſen Charakter haben vorzuͤglich die beſten Werke der Alten in redenden und zeichnenden Kuͤnſten. Sie ſagen viel, laſſen viel empfinden, erfuͤllen gleich- ſam die ganze Seele, ob man gleich keine große Ver- anſtaltung zu einer ſo großen Wuͤrkung gewahr wird. Der kleine ſubtile Verſtand koͤmmt wol auch zu ſeinem Zwek, aber durch vielerley einzele Mittel; weil er nicht vermoͤgend iſt, das einzige, den geraden Weg zum Zwek fuͤhrende, Hauptmittel zu finden. Es iſt eine bekannte, ſich auf alle vom menſchlichen Verſtand abhaͤngende Geſchaͤft erſtrekende, Bemer- kung, daß das Einfache das Schweereſte ſey, das, worauf man zuletzt faͤllt. Dieſes iſt darum ſo, weil gerade der groͤßte Verſtand dazu erfodert wird. Nur der, welcher alles Einzele, was zu einem Syſtem von zuſammengeſetzten Dingen gehoͤret, auf einmal klar uͤberſehen kann, wird das einfache Grundge- ſetz, nach welchem das Syſtem gebaut iſt, entdeken. Die Rede, die uns von der Wahrheit einer Sache uͤberzeugen, oder die uns die eigentliche Beſchaffen- heit derſelben in hellem Lichte zeigen, oder die eine Entſchließung in uns bewuͤrken ſoll, wird nur dann den Charakter der Groͤße haben, wenn dieſe Wuͤr- kung geradezu, und durch die wenigſten Vorſtellun- gen erreicht wird. Die Reden des Demoſthenes haben durchgehends dieſen Charakter. Man entde- ket dabey einen Redner, der ſeines Gegenſtandes ſo vollkommen Meiſter iſt, daß er ihn im Ganzen mit der groͤßten Klarheit uͤberſieht; darum kann er auch ohne Umſchweiff, ohne aͤngſtliches Beſtreben, ohne vielerley anzufuͤhren, (*) ohne jedes Einzele beſonders zu ſagen, ſeinen Zuhoͤrer durch wenig Hauptvorſtellungen dahin bringen, wo er ihn ha- ben will. Von dieſer Groͤße ſind auch die meiſten Reden, die Livius den Perſonen, die er in ſeiner Ge- ſchichte auffuͤhret, in den Mund legt. Dieſer Ge- ſchichtſchreiber erzaͤhlt, daß bey einem gefaͤhrlichen Kriege, den die Roͤmer vorhatten, zwiſchen den drey oberſten Befehlshabern, die damals den Staat re- gierten, ein hitziger Zank entſtanden ſey; weil kei- ner von den dreyen in der Stadt bleiben wollte. Der Senat hoͤrte dem Streit eine Zeitlang mit Beſtuͤrzung zu, weil dieſe Uneinigkeit gefaͤhrliche Fol- gen nach ſich ziehen konnte. Einer der drey ober- ſten Befehlshaber war der Sohn des Q. Servilius, der ehedem Diktator geweſen war. Um alſo dem Streite ganz kurz ein Ende zu machen, ſteht dieſer Mann im Senat auf, und ſagt die wenigen Worte: „Da ich ſehe, daß ihr weder fuͤr den verſammelten Senat, noch fuͤr den Staat ſelbſt, die geringſte Ehr- erbietigkeit habt, ſo ſoll die Hoheit des vaͤterlichen Anſehens dieſem Zank ein Ende machen. Mein Sohn ſoll ohne Loos in der Stadt bleiben. Moͤgen die, die den Krieg ſuchen, ihn mit mehr Ueberle- gung und Einigkeit fuͤhren, als ſie hier zeigen.‟ (†) Dieſes heißt geradezu und mit ſicherm Schritt zum Zwek eilen. Ein minder Großdenkender wuͤrde man- cherley Vorſtellungen, Bitten und Flehen verſucht, und dennoch damit nichts ausgerichtet haben. (*) Non multa ſed multum. Auf eben dieſem Grunde beruhet auch die Groͤße der Gedanken, oder der Vorſtellungen, da zwey oder drey Worte, oder Begriffe hinlaͤnglich ſind, uns in den Geſichtspunkt zu ſtellen, in welchem wir ein ſehr helles anſchauendes Erkenntniß von Dingen bekommen, die eine weitlaͤuftige Entwiklung der Begriffe zu erfodern ſchienen. Ein Wort, wodurch eine lange Reyhe von Beſchuldigungen abgelehnt, oder wiederlegt wird, iſt ein großes Wort. Von dieſer Art iſt folgendes von Pope: „Jndem der Menſch ausruft, ſehet! alles iſt fuͤr mich geſchaffen, erwiedert die Gans, die er maͤſtet, fuͤr mich iſt der Menſch gemacht.‟ Als jemand dem Diogenes, dem Cyniker, vorhielt, daß alle Menſchen ihn auslachten, antwortete er: das thun ſie, ich aber werde nicht ausgelacht. Mancher andrer wuͤrde viel Worte gebraucht haben, um zu beweiſen, daß man mit Unrecht ſich uͤber ihn aufhalte; aber damit wuͤrde er vielleicht weniger geſagt haben, als Diogenes mit zwey Worten. Darum iſt ſeine Antwort groß. Aus der Groͤße, die in dem Verſtand und der Be- urtheilungskraft liegt, entſteht, wenn ſie auf ſittli- che Gegenſtaͤnde angewendet wird, die Groͤße der Sinnesart, des ſittlichen Betragens, der ſittlichen Empfindungen und auch wol des ganzen Charak- ters. Dieſe Groͤße verdienet vorzuͤglich von dem Kuͤnſtler beobachtet zu werden, damit er einen rech- ten (†) Quando nec ordinis hujus ulla, nec reipublicæ eſt verecundia, patria majeſtas altercationem iſtam dirimet. Filius meus extra fortem urbi præerit. Bellum utinam, qui adpetunt, conſideratius concordiusque, quam cupiunt, gerant. Liv. L. IV. c. 46. Q q q 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/505>, abgerufen am 22.11.2024.