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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gew
auf die Haltung der Gemählde, auf das Helle und
Dunkele, und auf die Harmonie der Farben ungemein
viel ankömmt.

Wenn gleich die Anständigkeit es zuließe, in histo-
rischen Gemählden oder Portraiten die Figuren
ganz nakend zu mahlen, so würde der Künstler an-
drer Vortheile halber das Gewand dennoch einfüh-
ren, weil es ihm zur Zusammensetzung und zu vie-
len, der Vollkommenheit eines Gemähldes unent-
behrlichen Dingen, große Dienste leistet.

Nichts ist geschikter einer Gruppe von Personen
die beste mögliche Form zu geben, als das Gewand,
womit man das Ekigte der Gruppen abrunden, die
Lüken ausfüllen und das Unschikliche darin bedeken
kann. Und da man bis auf einen gewissen Grad
die Form des Gewandes in seiner Gewalt hat, so
kann man dadurch allemal dem Bau einer Gruppe
die beste Form geben. Bey gewissen Gelegenheiten
ist es schlechterdings das einzige Mittel, die Sachen
in eine angenehme Form zusammen zu bauen. Man
sieht bisweilen Monumente, dergleichen Verstorbe-
nen zu Ehren in Kirchen gesetzt werden, wo die we-
nigen Sachen, etwa ein Sarg, darauf oder herum
liegende Wapen, und andre bedeutende Dinge, ver-
mittelst eines geschikt übergeworfenen Gewandes, in
die schönste Masse vereiniget werden.

Was für eine angenehme Mannigfaltigkeit in den
Gruppen historischer Gemählden aus der verschiede-
nen Beschaffenheit der Gewänder und aus den ver-
schiedenen Farben derselben entstehet, muß jeder
Mensch bemerkt haben, der irgend mit einiger Auf-
merksamkeit dergleichen Gemählde betrachtet hat.
Es würde unmöglich seyn einer Gruppe von naken-
den Figuren die schöne Form, die gute Haltung
und die angenehme Harmonie bey der Mannigfal-
tigkeit der Farben zu geben, die uns ofte bey beklei-
deten Figuren so viel Vergnügen macht. Und in
Absicht auf das Helle und Dunkele, welches man
nicht allemal, wo man es nöthig hat, durch die
Stärke des Lichts und der Schatten erreichen kann,
sind die Gewänder das einzige Hülfsmittel; denn
ein helles Gewand bey schwachem Licht, oder ein
dunkeles bey starkem, thut die Dienste des Lichts
und Schattens.

Auch der Ausdruk selbst gewinnt ofte durch das
Gewand. Erstlich, weil es dem Charakter oder
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sittlichen Tone des Gemähldes ungemein aufhelfen
kann; da in den Farben Fröhlichkeit und Traurig-
keit, Lieblichkeit und Anmuth, oder strenger Ernst
liegt: vermittelst der Gewänder aber hat der Mahler
den charakteristischen Ton der Farben völlig in sei-
ner Gewalt. Eine fröhliche Scene von Jünglin-
gen und Mädchen kann durch wol gewählte Far-
ben der Gewänder noch fröhlicher werden. Eben
so dienet die Form derselben zu Unterstützung des
Ausdruks. Leichtsinn und Ernst, guter und schlech-
ter Geschmak, und bald möchte man sagen, eine
gute oder schlechte Art zu denken überhaupt, kön-
nen schon durch die Bekleidung vorgestellt werden.
Es giebt, wie bekannt, Kleider der festlichen Freud
und der Trauer, und wie ofte zeiget nicht schon der
Zustand der Kleider eine durch Leidenschaft verwirrte
Seele an?

Dieses kann hinlänglich seyn den Künstler zu
überzeugen, wie wichtig es sey die Kunst des Ge-
wandes zu studiren. Wo aber irgend ein Theil der
Kunst von Genie und Geschmak abhängt, so ist
es dieser, weil das Studium der Natur selbst von
keiner großen Hülfe seyn kann. Man sieht selten
andre Kleider, als die, welche die Mode verordnet;
diese sind gemeiniglich nicht nach dem Geschmak des
guten Künstlers. Er muß meistentheils die Ge-
wänder selbst erfinden, und seinen Gliedermann da-
mit bekleiden. Dabey ist er in vielen Fällen durch
das Uebliche, das man in Kleidern nicht immer
übertreten kann, gebunden. Diesen Schwierigkei-
ten hat man es zu zuschreiben, daß sehr wenig Künst-
ler es in diesem Theile zu einer gewissen Vollkom-
menheit gebracht haben. Alle einzele Theile der
Kunst vereinigen sich in diesem. Man muß ein
starker Zeichner und ein guter Coloriste seyn, man
muß den feinesten Geschmak für das Schöne der
Formen, ein zartes Gefühl für alles, was irgend
die sittliche Kraft der Dinge unterstützt, eine frucht-
bare und lebhafte Phantasie haben, um hierin
das Vollkommene zu erreichen. Blos die gute
Behandlung der Falten allein, was für großen
Schwierigkeiten ist sie nicht unterworfen? (*) Da-(*) S.
Falten.

rum ist auch Raphaels großes Genie hierin weiter
gekommen, als andre Mahler.

Es wär ein sehr vergebliches Unternehmen, über
eine Sache, wo es so ganz auf Genie, Geschmak
und Empfindung ankömmt, besondere Regeln auf-

zusu-
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Gew
auf die Haltung der Gemaͤhlde, auf das Helle und
Dunkele, und auf die Harmonie der Farben ungemein
viel ankoͤmmt.

Wenn gleich die Anſtaͤndigkeit es zuließe, in hiſto-
riſchen Gemaͤhlden oder Portraiten die Figuren
ganz nakend zu mahlen, ſo wuͤrde der Kuͤnſtler an-
drer Vortheile halber das Gewand dennoch einfuͤh-
ren, weil es ihm zur Zuſammenſetzung und zu vie-
len, der Vollkommenheit eines Gemaͤhldes unent-
behrlichen Dingen, große Dienſte leiſtet.

Nichts iſt geſchikter einer Gruppe von Perſonen
die beſte moͤgliche Form zu geben, als das Gewand,
womit man das Ekigte der Gruppen abrunden, die
Luͤken ausfuͤllen und das Unſchikliche darin bedeken
kann. Und da man bis auf einen gewiſſen Grad
die Form des Gewandes in ſeiner Gewalt hat, ſo
kann man dadurch allemal dem Bau einer Gruppe
die beſte Form geben. Bey gewiſſen Gelegenheiten
iſt es ſchlechterdings das einzige Mittel, die Sachen
in eine angenehme Form zuſammen zu bauen. Man
ſieht bisweilen Monumente, dergleichen Verſtorbe-
nen zu Ehren in Kirchen geſetzt werden, wo die we-
nigen Sachen, etwa ein Sarg, darauf oder herum
liegende Wapen, und andre bedeutende Dinge, ver-
mittelſt eines geſchikt uͤbergeworfenen Gewandes, in
die ſchoͤnſte Maſſe vereiniget werden.

Was fuͤr eine angenehme Mannigfaltigkeit in den
Gruppen hiſtoriſcher Gemaͤhlden aus der verſchiede-
nen Beſchaffenheit der Gewaͤnder und aus den ver-
ſchiedenen Farben derſelben entſtehet, muß jeder
Menſch bemerkt haben, der irgend mit einiger Auf-
merkſamkeit dergleichen Gemaͤhlde betrachtet hat.
Es wuͤrde unmoͤglich ſeyn einer Gruppe von naken-
den Figuren die ſchoͤne Form, die gute Haltung
und die angenehme Harmonie bey der Mannigfal-
tigkeit der Farben zu geben, die uns ofte bey beklei-
deten Figuren ſo viel Vergnuͤgen macht. Und in
Abſicht auf das Helle und Dunkele, welches man
nicht allemal, wo man es noͤthig hat, durch die
Staͤrke des Lichts und der Schatten erreichen kann,
ſind die Gewaͤnder das einzige Huͤlfsmittel; denn
ein helles Gewand bey ſchwachem Licht, oder ein
dunkeles bey ſtarkem, thut die Dienſte des Lichts
und Schattens.

Auch der Ausdruk ſelbſt gewinnt ofte durch das
Gewand. Erſtlich, weil es dem Charakter oder
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Gew
ſittlichen Tone des Gemaͤhldes ungemein aufhelfen
kann; da in den Farben Froͤhlichkeit und Traurig-
keit, Lieblichkeit und Anmuth, oder ſtrenger Ernſt
liegt: vermittelſt der Gewaͤnder aber hat der Mahler
den charakteriſtiſchen Ton der Farben voͤllig in ſei-
ner Gewalt. Eine froͤhliche Scene von Juͤnglin-
gen und Maͤdchen kann durch wol gewaͤhlte Far-
ben der Gewaͤnder noch froͤhlicher werden. Eben
ſo dienet die Form derſelben zu Unterſtuͤtzung des
Ausdruks. Leichtſinn und Ernſt, guter und ſchlech-
ter Geſchmak, und bald moͤchte man ſagen, eine
gute oder ſchlechte Art zu denken uͤberhaupt, koͤn-
nen ſchon durch die Bekleidung vorgeſtellt werden.
Es giebt, wie bekannt, Kleider der feſtlichen Freud
und der Trauer, und wie ofte zeiget nicht ſchon der
Zuſtand der Kleider eine durch Leidenſchaft verwirrte
Seele an?

Dieſes kann hinlaͤnglich ſeyn den Kuͤnſtler zu
uͤberzeugen, wie wichtig es ſey die Kunſt des Ge-
wandes zu ſtudiren. Wo aber irgend ein Theil der
Kunſt von Genie und Geſchmak abhaͤngt, ſo iſt
es dieſer, weil das Studium der Natur ſelbſt von
keiner großen Huͤlfe ſeyn kann. Man ſieht ſelten
andre Kleider, als die, welche die Mode verordnet;
dieſe ſind gemeiniglich nicht nach dem Geſchmak des
guten Kuͤnſtlers. Er muß meiſtentheils die Ge-
waͤnder ſelbſt erfinden, und ſeinen Gliedermann da-
mit bekleiden. Dabey iſt er in vielen Faͤllen durch
das Uebliche, das man in Kleidern nicht immer
uͤbertreten kann, gebunden. Dieſen Schwierigkei-
ten hat man es zu zuſchreiben, daß ſehr wenig Kuͤnſt-
ler es in dieſem Theile zu einer gewiſſen Vollkom-
menheit gebracht haben. Alle einzele Theile der
Kunſt vereinigen ſich in dieſem. Man muß ein
ſtarker Zeichner und ein guter Coloriſte ſeyn, man
muß den feineſten Geſchmak fuͤr das Schoͤne der
Formen, ein zartes Gefuͤhl fuͤr alles, was irgend
die ſittliche Kraft der Dinge unterſtuͤtzt, eine frucht-
bare und lebhafte Phantaſie haben, um hierin
das Vollkommene zu erreichen. Blos die gute
Behandlung der Falten allein, was fuͤr großen
Schwierigkeiten iſt ſie nicht unterworfen? (*) Da-(*) S.
Falten.

rum iſt auch Raphaels großes Genie hierin weiter
gekommen, als andre Mahler.

Es waͤr ein ſehr vergebliches Unternehmen, uͤber
eine Sache, wo es ſo ganz auf Genie, Geſchmak
und Empfindung ankoͤmmt, beſondere Regeln auf-

zuſu-
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[477/0489] Gew Gew auf die Haltung der Gemaͤhlde, auf das Helle und Dunkele, und auf die Harmonie der Farben ungemein viel ankoͤmmt. Wenn gleich die Anſtaͤndigkeit es zuließe, in hiſto- riſchen Gemaͤhlden oder Portraiten die Figuren ganz nakend zu mahlen, ſo wuͤrde der Kuͤnſtler an- drer Vortheile halber das Gewand dennoch einfuͤh- ren, weil es ihm zur Zuſammenſetzung und zu vie- len, der Vollkommenheit eines Gemaͤhldes unent- behrlichen Dingen, große Dienſte leiſtet. Nichts iſt geſchikter einer Gruppe von Perſonen die beſte moͤgliche Form zu geben, als das Gewand, womit man das Ekigte der Gruppen abrunden, die Luͤken ausfuͤllen und das Unſchikliche darin bedeken kann. Und da man bis auf einen gewiſſen Grad die Form des Gewandes in ſeiner Gewalt hat, ſo kann man dadurch allemal dem Bau einer Gruppe die beſte Form geben. Bey gewiſſen Gelegenheiten iſt es ſchlechterdings das einzige Mittel, die Sachen in eine angenehme Form zuſammen zu bauen. Man ſieht bisweilen Monumente, dergleichen Verſtorbe- nen zu Ehren in Kirchen geſetzt werden, wo die we- nigen Sachen, etwa ein Sarg, darauf oder herum liegende Wapen, und andre bedeutende Dinge, ver- mittelſt eines geſchikt uͤbergeworfenen Gewandes, in die ſchoͤnſte Maſſe vereiniget werden. Was fuͤr eine angenehme Mannigfaltigkeit in den Gruppen hiſtoriſcher Gemaͤhlden aus der verſchiede- nen Beſchaffenheit der Gewaͤnder und aus den ver- ſchiedenen Farben derſelben entſtehet, muß jeder Menſch bemerkt haben, der irgend mit einiger Auf- merkſamkeit dergleichen Gemaͤhlde betrachtet hat. Es wuͤrde unmoͤglich ſeyn einer Gruppe von naken- den Figuren die ſchoͤne Form, die gute Haltung und die angenehme Harmonie bey der Mannigfal- tigkeit der Farben zu geben, die uns ofte bey beklei- deten Figuren ſo viel Vergnuͤgen macht. Und in Abſicht auf das Helle und Dunkele, welches man nicht allemal, wo man es noͤthig hat, durch die Staͤrke des Lichts und der Schatten erreichen kann, ſind die Gewaͤnder das einzige Huͤlfsmittel; denn ein helles Gewand bey ſchwachem Licht, oder ein dunkeles bey ſtarkem, thut die Dienſte des Lichts und Schattens. Auch der Ausdruk ſelbſt gewinnt ofte durch das Gewand. Erſtlich, weil es dem Charakter oder ſittlichen Tone des Gemaͤhldes ungemein aufhelfen kann; da in den Farben Froͤhlichkeit und Traurig- keit, Lieblichkeit und Anmuth, oder ſtrenger Ernſt liegt: vermittelſt der Gewaͤnder aber hat der Mahler den charakteriſtiſchen Ton der Farben voͤllig in ſei- ner Gewalt. Eine froͤhliche Scene von Juͤnglin- gen und Maͤdchen kann durch wol gewaͤhlte Far- ben der Gewaͤnder noch froͤhlicher werden. Eben ſo dienet die Form derſelben zu Unterſtuͤtzung des Ausdruks. Leichtſinn und Ernſt, guter und ſchlech- ter Geſchmak, und bald moͤchte man ſagen, eine gute oder ſchlechte Art zu denken uͤberhaupt, koͤn- nen ſchon durch die Bekleidung vorgeſtellt werden. Es giebt, wie bekannt, Kleider der feſtlichen Freud und der Trauer, und wie ofte zeiget nicht ſchon der Zuſtand der Kleider eine durch Leidenſchaft verwirrte Seele an? Dieſes kann hinlaͤnglich ſeyn den Kuͤnſtler zu uͤberzeugen, wie wichtig es ſey die Kunſt des Ge- wandes zu ſtudiren. Wo aber irgend ein Theil der Kunſt von Genie und Geſchmak abhaͤngt, ſo iſt es dieſer, weil das Studium der Natur ſelbſt von keiner großen Huͤlfe ſeyn kann. Man ſieht ſelten andre Kleider, als die, welche die Mode verordnet; dieſe ſind gemeiniglich nicht nach dem Geſchmak des guten Kuͤnſtlers. Er muß meiſtentheils die Ge- waͤnder ſelbſt erfinden, und ſeinen Gliedermann da- mit bekleiden. Dabey iſt er in vielen Faͤllen durch das Uebliche, das man in Kleidern nicht immer uͤbertreten kann, gebunden. Dieſen Schwierigkei- ten hat man es zu zuſchreiben, daß ſehr wenig Kuͤnſt- ler es in dieſem Theile zu einer gewiſſen Vollkom- menheit gebracht haben. Alle einzele Theile der Kunſt vereinigen ſich in dieſem. Man muß ein ſtarker Zeichner und ein guter Coloriſte ſeyn, man muß den feineſten Geſchmak fuͤr das Schoͤne der Formen, ein zartes Gefuͤhl fuͤr alles, was irgend die ſittliche Kraft der Dinge unterſtuͤtzt, eine frucht- bare und lebhafte Phantaſie haben, um hierin das Vollkommene zu erreichen. Blos die gute Behandlung der Falten allein, was fuͤr großen Schwierigkeiten iſt ſie nicht unterworfen? (*) Da- rum iſt auch Raphaels großes Genie hierin weiter gekommen, als andre Mahler. (*) S. Falten. Es waͤr ein ſehr vergebliches Unternehmen, uͤber eine Sache, wo es ſo ganz auf Genie, Geſchmak und Empfindung ankoͤmmt, beſondere Regeln auf- zuſu- O o o 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/489>, abgerufen am 22.11.2024.