Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Ged Nachahmung entstanden, und der Dichter sich durchZwang in jene Gemüthsfaßung setzet, den Ton und die Sprache der natürlichen Poesie nach Regeln bil- det, so geschieht es auch, daß bisweilen Werke her- vorkommen, die nur den äusserlichen Schein der Gedichte haben; daß ein vermeinter Dichter einer ganz gemeinen Rede, etwas von dem Kleide der Dichtkunst anzieht. Dadurch aber werden solche Werke deswegen nicht zur Würde der Gedichte erho- ben; sie sind vielmehr Mißgebuhrten, die zu gar keinen natürlichen Gattungen der Rede können ge- rechnet werden. Es wird auch dem schlauesten Kopf selten gelingen, wenn er würklich nicht in poetischer Faßung ist, seine Rede so zu verfertigen, daß sie alle natürlichen Kennzeichen des Gedichts an sich habe. Nur das Gedicht kann vollkommen werden, das von einem würklich dichterischen Genie, in wahrer, nicht zum Schein angenommener, poetischer Laune ent- worfen, und nach den Regeln der Kunst mit feinem Geschmak ausgearbeitet worden. Es erhellet aber aus diesen über den Ursprung und Ged hat. Darum sagt Horaz mit dem größten Recht,daß weder Götter noch Menschen dem Dichter er- lauben dürfen, mittelmäßig zu seyn; weil bey der großen Veranstaltung das Mittelmäßige höchst uner- träglich wird. Betrügt er unsere Erwartung, indem er uns in seinem begeisterten Ton alltägliche Dinge sagt, so verdient er, daß man ihn von der Scene wegjage. Dieses wird hinreichend seyn, den wahten Cha- Man hat verschiedentlich versucht, die man- Einer der neuern französischen Kunstrichter (*),(*) Bat- Die Alten haben sich hierüber eben nicht viel chen J i i 3
[Spaltenumbruch] Ged Nachahmung entſtanden, und der Dichter ſich durchZwang in jene Gemuͤthsfaßung ſetzet, den Ton und die Sprache der natuͤrlichen Poeſie nach Regeln bil- det, ſo geſchieht es auch, daß bisweilen Werke her- vorkommen, die nur den aͤuſſerlichen Schein der Gedichte haben; daß ein vermeinter Dichter einer ganz gemeinen Rede, etwas von dem Kleide der Dichtkunſt anzieht. Dadurch aber werden ſolche Werke deswegen nicht zur Wuͤrde der Gedichte erho- ben; ſie ſind vielmehr Mißgebuhrten, die zu gar keinen natuͤrlichen Gattungen der Rede koͤnnen ge- rechnet werden. Es wird auch dem ſchlaueſten Kopf ſelten gelingen, wenn er wuͤrklich nicht in poetiſcher Faßung iſt, ſeine Rede ſo zu verfertigen, daß ſie alle natuͤrlichen Kennzeichen des Gedichts an ſich habe. Nur das Gedicht kann vollkommen werden, das von einem wuͤrklich dichteriſchen Genie, in wahrer, nicht zum Schein angenommener, poetiſcher Laune ent- worfen, und nach den Regeln der Kunſt mit feinem Geſchmak ausgearbeitet worden. Es erhellet aber aus dieſen uͤber den Urſprung und Ged hat. Darum ſagt Horaz mit dem groͤßten Recht,daß weder Goͤtter noch Menſchen dem Dichter er- lauben duͤrfen, mittelmaͤßig zu ſeyn; weil bey der großen Veranſtaltung das Mittelmaͤßige hoͤchſt uner- traͤglich wird. Betruͤgt er unſere Erwartung, indem er uns in ſeinem begeiſterten Ton alltaͤgliche Dinge ſagt, ſo verdient er, daß man ihn von der Scene wegjage. Dieſes wird hinreichend ſeyn, den wahten Cha- Man hat verſchiedentlich verſucht, die man- Einer der neuern franzoͤſiſchen Kunſtrichter (*),(*) Bat- Die Alten haben ſich hieruͤber eben nicht viel chen J i i 3
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Soll das Gedicht einigen Werth haben, ſo<lb/> muß die poetiſche Laune eine merkwuͤrdige Veranla-<lb/> ſung haben; denn ſchwache Gemuͤther von lebhafter<lb/> Einbildungskraft, werden oft durch kindiſche Ver-<lb/> anlaſungen in Laune geſetzt; aber wer giebt ſich die<lb/> Muͤhe darauf zu achten? Hiernaͤchſt aber muß dieſe<lb/> Laune durch Beredſamkeit unterſtuͤtzt werden; denn<lb/> wer das, was er denkt oder fuͤhlt, nicht mit Leich-<lb/> tigkeit ſagen kann, der kann wol unſer Aug, aber<lb/> nie unſer Ohr auf ſich ziehen: alſo muß der Dichter<lb/> auch ein beredter Mann ſeyn, er muß Leichtigkeit<lb/> und Reichthum des Ausdruks haben. Endlich aber<lb/> muͤſſen beydes Laune und Beredſamkeit von Verſtand<lb/> und Genie unterſtuͤtzt werden. Die launige und<lb/> fließende Rede muß Gedanken und Empfindungen<lb/> vortragen, die etwas ungemeines, wichtiges und<lb/> großes haben, die, wie Horaz ſich ausdruͤkt, des<lb/> ſo weit geoͤffneten Mundes und des vollen Tones<lb/> wuͤrdig ſeyen; <hi rendition="#aq">digna tanto hiatu!</hi> Sonſt wird der<lb/> Dichter laͤcherlich; denn ſein Ton und Ausdruk kuͤn-<lb/> diget allemal etwas Merkwuͤrdiges an. Dadurch<lb/> giebt ſich jeder Dichter fuͤr einen Mann aus, dem<lb/> jederman ein aufmerkſames Ohr leyhen ſoll, als<lb/> einem Menſchen, der etwas Wichtiges vorzutragen<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ged</hi></fw><lb/> hat. Darum ſagt Horaz mit dem groͤßten Recht,<lb/> daß weder Goͤtter noch Menſchen dem Dichter er-<lb/> lauben duͤrfen, mittelmaͤßig zu ſeyn; weil bey der<lb/> großen Veranſtaltung das Mittelmaͤßige hoͤchſt uner-<lb/> traͤglich wird. 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Ged
Ged
Nachahmung entſtanden, und der Dichter ſich durch
Zwang in jene Gemuͤthsfaßung ſetzet, den Ton und
die Sprache der natuͤrlichen Poeſie nach Regeln bil-
det, ſo geſchieht es auch, daß bisweilen Werke her-
vorkommen, die nur den aͤuſſerlichen Schein der
Gedichte haben; daß ein vermeinter Dichter einer
ganz gemeinen Rede, etwas von dem Kleide der
Dichtkunſt anzieht. Dadurch aber werden ſolche
Werke deswegen nicht zur Wuͤrde der Gedichte erho-
ben; ſie ſind vielmehr Mißgebuhrten, die zu gar
keinen natuͤrlichen Gattungen der Rede koͤnnen ge-
rechnet werden. Es wird auch dem ſchlaueſten Kopf
ſelten gelingen, wenn er wuͤrklich nicht in poetiſcher
Faßung iſt, ſeine Rede ſo zu verfertigen, daß ſie
alle natuͤrlichen Kennzeichen des Gedichts an ſich habe.
Nur das Gedicht kann vollkommen werden, das von
einem wuͤrklich dichteriſchen Genie, in wahrer, nicht
zum Schein angenommener, poetiſcher Laune ent-
worfen, und nach den Regeln der Kunſt mit feinem
Geſchmak ausgearbeitet worden.
Es erhellet aber aus dieſen uͤber den Urſprung und
die natuͤrlichen Kennzeichen des Gedichts gemachten
Anmerkungen, daß das, was wir die poetiſche Laune
genennt haben, die eigentliche Quelle der Dichtkunſt
ſey. Soll das Gedicht einigen Werth haben, ſo
muß die poetiſche Laune eine merkwuͤrdige Veranla-
ſung haben; denn ſchwache Gemuͤther von lebhafter
Einbildungskraft, werden oft durch kindiſche Ver-
anlaſungen in Laune geſetzt; aber wer giebt ſich die
Muͤhe darauf zu achten? Hiernaͤchſt aber muß dieſe
Laune durch Beredſamkeit unterſtuͤtzt werden; denn
wer das, was er denkt oder fuͤhlt, nicht mit Leich-
tigkeit ſagen kann, der kann wol unſer Aug, aber
nie unſer Ohr auf ſich ziehen: alſo muß der Dichter
auch ein beredter Mann ſeyn, er muß Leichtigkeit
und Reichthum des Ausdruks haben. Endlich aber
muͤſſen beydes Laune und Beredſamkeit von Verſtand
und Genie unterſtuͤtzt werden. Die launige und
fließende Rede muß Gedanken und Empfindungen
vortragen, die etwas ungemeines, wichtiges und
großes haben, die, wie Horaz ſich ausdruͤkt, des
ſo weit geoͤffneten Mundes und des vollen Tones
wuͤrdig ſeyen; digna tanto hiatu! Sonſt wird der
Dichter laͤcherlich; denn ſein Ton und Ausdruk kuͤn-
diget allemal etwas Merkwuͤrdiges an. Dadurch
giebt ſich jeder Dichter fuͤr einen Mann aus, dem
jederman ein aufmerkſames Ohr leyhen ſoll, als
einem Menſchen, der etwas Wichtiges vorzutragen
hat. Darum ſagt Horaz mit dem groͤßten Recht,
daß weder Goͤtter noch Menſchen dem Dichter er-
lauben duͤrfen, mittelmaͤßig zu ſeyn; weil bey der
großen Veranſtaltung das Mittelmaͤßige hoͤchſt uner-
traͤglich wird. Betruͤgt er unſere Erwartung, indem
er uns in ſeinem begeiſterten Ton alltaͤgliche Dinge
ſagt, ſo verdient er, daß man ihn von der Scene
wegjage.
Dieſes wird hinreichend ſeyn, den wahten Cha-
rakter des Gedichts feſt zu ſetzen, und jedem Men-
ſchen von einigem Nachdenken die Grundſaͤtze an die
Hand zu geben, nach welchen ein Gedicht zu beur-
theilen iſt (*). Man wird auch daraus abnehmen
koͤnnen, daß ein vollkommenes Gedicht nichts ſehr
gemeines, das man uͤberall antrifft, ſeyn koͤnne;
weil nur die erſten und beſten Koͤpfe einer Nation
alles baben koͤnnen, was von einem wahren Dichter
kann gefodert werden. Mit dieſen Grundſaͤtzen ver-
ſehen, wird ein verſtaͤndiger Mann von den Ge-
dichten, die bey einem Volke, wo die ſchoͤnen Kuͤn-
ſte zur Mode geworden, in ſo reichem Ueberflus
vorhanden ſind, leicht die wenigen guten ausſuchen,
und die uͤbrigen, wie niedriges Geſtraͤuch, das um
eine hohe Eiche herumſteht, aus dem Wege zu taͤu-
men und zum Verbrennen in Buͤndel zu faſſen
wiſſen.
(*) S.
Dichter,
Dichtkunſt
Gedanken
Man hat verſchiedentlich verſucht, die man-
cherley Gattungen und Arten der Gedichte in ihre
natuͤrlichen Claſſen und Abtheilungen zu bringen, ſich
aber bis dahin noch nicht uͤber den Grundſatz verei-
nigen koͤnnen, der die Abzeichen jeder Art beſtimmen
ſoll. Von großer Wichtigkeit moͤchte auch die beſte
Eintheilung der Dichtungsarten nicht ſeyn, wie-
wol man ihr auch ihren Nutzen nicht ganz abſpre-
chen kann.
Einer der neuern franzoͤſiſchen Kunſtrichter (*),
der wegen ſeiner fließenden und artigen Schreibart
in Deutſchland vielleicht zu viel Eingang gefunden,
ſtellt ſich an, als ob die Eintheilung der Gedichte
in ihre natuͤrlichen Gattungen, die leichteſte Sache
von der Welt ſey. Aber einer ſeiner deutſchen Ueber-
ſetzer hat ihn auf dieſer Stelle in ſeiner Bloͤße ge-
zeigt (*).
(*) Bat-
teur.
(*) S
Schlegels
Abhand-
lung v. der
Einthei-
lung der
Poeſic in
dem II Th
ſeiner Ue-
berſetzung
des Bat-
teur.
Die Alten haben ſich hieruͤber eben nicht viel
Muͤhe gegeben. So wie das Genie ihrer Dichter
die verſchiedenen Gattungen der Gedichte hervorge-
bracht hatte, gaben ſie ihnen Namen, ohne ſich
viel darum zu bekuͤmmern, die innerlichen Kennzei-
chen
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