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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ged
durch eine ernstliche Bemühung die wichtigsten Wahr-
heiten der Philosophie sich bekannt zu machen, durch
eine genaue Beobachtung der Menschen und Sitten,
hinlänglichen Vorrath von Gedanken anschaffen.
Wer nicht fähig ist, wichtige Gedanken in seinem
Verstand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff
zur Bearbeitung für die Künste. Denn dasjenige,
was der Mühe nicht werth geachtet wird, ohne
ästhetischen Schmuk erkennt zu werden, ist auch des
Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer,
als ein Thor, könnte ein schlechtes und unnützes
Gefäß in Gold fassen lassen?

Bey einem rechtschaffenen Künstler müssen Ver-
stand und gesunde Vernunft die Gaben seyn, mit
denen sich Witz und feiner Geschmak vereinigen.
Ohne jene wird er ein bloßer Zeitvertreiber oder Lu-
stigmacher. Nur eine gründliche, große Art zu
denken, mit Talenten die zum Geschmak gehören,
(*) S.
Dichter.
verbunden, machen den großen Künstler aus (*).
Ohne den großen Verstand, ohne die wichtigen Ge-
danken, die Homer als ein Kenner und Beobachter
der Menschen gesammelt, und in seinen unsterbli-
chen Gesängen vorgetragen hat, würde er mit allem
Feuer der Dichtkunst, mit allem Wolklang seiner
Verse, mit allen wolgemahlten Bildern, niemal der
Dichter der vernünftigen Alten geworden seyn.

Nach eben diesen Grundsätzen müssen wir alle
Werke der Kunst beurtheilen, wenn wir nicht
bloße Spiele des Witzes und der Einbildungskraft
für wichtige Werke ausgeben wollen. Ein gründ-
licher Beurtheiler der Kunst läßt sich niemal durch
die bloße Kunst blenden. Er zieht dem Werk
erst das Kleid der Kunst ab, um die Gedanken na-
kend zu sehen. Jn dieser Gestalt beurtheilet er ihre
Wahrheit, ihre Wichtigkeit. Findet er bey dieser
Betrachtung nichts wichtiges oder großes, so setzet
er das Werk in die Classe der angenehmen Klei-
nigkeiten.

Man muß es sich bey Beurtheilung der Werke
der Kunst zur Hauptmarime machen, jeden Gedan-
ken in seiner nakenden Gestalt zu prüfen. Der
Künstler, der dieses versäumt, läuft Gefahr ofte
nichts zu sagen; denn der Schmuk blendet. Man
glaubet ofte mit dem Jrion, die Juno in seinen Armen
zu haben, und hat nur ein leeres Phantom. Selbst
große Künstler lassen sich bisweilen durch den äus-
serlichen Glanz verführen, den Gedanken mehr
Werth beyzulegen, als sie haben. Hat nicht der
[Spaltenumbruch]

Ged
schöne Ausdruk in folgenden Versen den Virgil selbst
gehindert, das Falsche in den Gedanken zu sehen?
Die Sybille sagt zum Aeneas, als er eine Reise
nach dem Tartarus vornimmt

Tros Anchidiades, facilis descensus Averni,
Noctes atque diu patet atri janua Ditis:
Sed revocare gradum superasque evadere ad auras
Hoc opus, hic labor est.

Der ganze Gedanke ist grundfalsch. Jn den Wor-
ten facilis descensus averni, Noctes &c. wird der
Tod oder das Sterben verstanden. Aeneas aber
will bey lebendigem Leib herunter, und da ist das
Herunterfahren und Heraufsteigen gleich leicht oder
schweer. So bald man einer Vorstellung ihr Kleid
ausgezogen, kann man ein zuverläßiges Urtheil von
dem Werth der Gedanken fällen.

Sehet ihr ein historisches Gemälde, so suchet zu
vergessen, daß es ein Gemähld ist; vergeßt den
Mahler, dessen zauberische Kunst durch Licht und
Schatten Körper hervorgebracht hat, wo keine sind.
Stellt euch vor würkliche Menschen zu sehen, und
gebet alsdenn auf die Handlungen dieser Menschen
Achtung. Sehet zu, ob sie wichtig seyen, ob die
Personen in ihren Gesichtern, Gebehrden und Bewe-
gungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen;
ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebehrden
verstehet, und ob sie euch etwas merkwürdiges sagen.
Findet ihr es nicht der Mühe werth, diesen in eurer
Einbildung würklichen Menschen zuzusehen, so hat
der Mahler schlecht gedacht. Hört ihr ein Tonstük,
so suchet zu vergessen, daß ihr Töne von einem
leblosen Jnstrument höret, die nicht anders, als
durch eine große Fertigkeit der Finger oder der Lip-
pen hervorgebracht werden können. Stellet euch
vor, ihr höret einen Menschen in einer unbekannten
Sprache reden, und gebet Achtung, ob seine Töne
Empfindung ausdrüken; ob sie Ruhe des Gemüthes,
oder Unruhe, sanfte oder heftige Leidenschaften,
fröhliche oder traurige anzeigen; ob diese, den ein-
zeln Worten nach unverständliche Sprache, den Cha-
rakter eines Redenden ausdrükt, ob er edel oder ge-
mein, ob er als ein vernünftiger, oder als ein
wahnsinniger spricht. Könnet ihr nichts dergleichen
entdeken, so beklaget den Meister, daß er mit so
viel Kunst keine Gedanken verbunden hat.

Auf eben diese Art müssen auch die Gedichte, be-
sonders die lyrischen, beurtheilet werden. Nur die
Ode hat einen Werth, die, nachdem sie alles

Schmuks

[Spaltenumbruch]

Ged
durch eine ernſtliche Bemuͤhung die wichtigſten Wahr-
heiten der Philoſophie ſich bekannt zu machen, durch
eine genaue Beobachtung der Menſchen und Sitten,
hinlaͤnglichen Vorrath von Gedanken anſchaffen.
Wer nicht faͤhig iſt, wichtige Gedanken in ſeinem
Verſtand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff
zur Bearbeitung fuͤr die Kuͤnſte. Denn dasjenige,
was der Muͤhe nicht werth geachtet wird, ohne
aͤſthetiſchen Schmuk erkennt zu werden, iſt auch des
Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer,
als ein Thor, koͤnnte ein ſchlechtes und unnuͤtzes
Gefaͤß in Gold faſſen laſſen?

Bey einem rechtſchaffenen Kuͤnſtler muͤſſen Ver-
ſtand und geſunde Vernunft die Gaben ſeyn, mit
denen ſich Witz und feiner Geſchmak vereinigen.
Ohne jene wird er ein bloßer Zeitvertreiber oder Lu-
ſtigmacher. Nur eine gruͤndliche, große Art zu
denken, mit Talenten die zum Geſchmak gehoͤren,
(*) S.
Dichter.
verbunden, machen den großen Kuͤnſtler aus (*).
Ohne den großen Verſtand, ohne die wichtigen Ge-
danken, die Homer als ein Kenner und Beobachter
der Menſchen geſammelt, und in ſeinen unſterbli-
chen Geſaͤngen vorgetragen hat, wuͤrde er mit allem
Feuer der Dichtkunſt, mit allem Wolklang ſeiner
Verſe, mit allen wolgemahlten Bildern, niemal der
Dichter der vernuͤnftigen Alten geworden ſeyn.

Nach eben dieſen Grundſaͤtzen muͤſſen wir alle
Werke der Kunſt beurtheilen, wenn wir nicht
bloße Spiele des Witzes und der Einbildungskraft
fuͤr wichtige Werke ausgeben wollen. Ein gruͤnd-
licher Beurtheiler der Kunſt laͤßt ſich niemal durch
die bloße Kunſt blenden. Er zieht dem Werk
erſt das Kleid der Kunſt ab, um die Gedanken na-
kend zu ſehen. Jn dieſer Geſtalt beurtheilet er ihre
Wahrheit, ihre Wichtigkeit. Findet er bey dieſer
Betrachtung nichts wichtiges oder großes, ſo ſetzet
er das Werk in die Claſſe der angenehmen Klei-
nigkeiten.

Man muß es ſich bey Beurtheilung der Werke
der Kunſt zur Hauptmarime machen, jeden Gedan-
ken in ſeiner nakenden Geſtalt zu pruͤfen. Der
Kuͤnſtler, der dieſes verſaͤumt, laͤuft Gefahr ofte
nichts zu ſagen; denn der Schmuk blendet. Man
glaubet ofte mit dem Jrion, die Juno in ſeinen Armen
zu haben, und hat nur ein leeres Phantom. Selbſt
große Kuͤnſtler laſſen ſich bisweilen durch den aͤuſ-
ſerlichen Glanz verfuͤhren, den Gedanken mehr
Werth beyzulegen, als ſie haben. Hat nicht der
[Spaltenumbruch]

Ged
ſchoͤne Ausdruk in folgenden Verſen den Virgil ſelbſt
gehindert, das Falſche in den Gedanken zu ſehen?
Die Sybille ſagt zum Aeneas, als er eine Reiſe
nach dem Tartarus vornimmt

Tros Anchidiades, facilis deſcenſus Averni,
Noctes atque diu patet atri janua Ditis:
Sed revocare gradum ſuperasque evadere ad auras
Hoc opus, hic labor eſt.

Der ganze Gedanke iſt grundfalſch. Jn den Wor-
ten facilis deſcenſus averni, Noctes &c. wird der
Tod oder das Sterben verſtanden. Aeneas aber
will bey lebendigem Leib herunter, und da iſt das
Herunterfahren und Heraufſteigen gleich leicht oder
ſchweer. So bald man einer Vorſtellung ihr Kleid
ausgezogen, kann man ein zuverlaͤßiges Urtheil von
dem Werth der Gedanken faͤllen.

Sehet ihr ein hiſtoriſches Gemaͤlde, ſo ſuchet zu
vergeſſen, daß es ein Gemaͤhld iſt; vergeßt den
Mahler, deſſen zauberiſche Kunſt durch Licht und
Schatten Koͤrper hervorgebracht hat, wo keine ſind.
Stellt euch vor wuͤrkliche Menſchen zu ſehen, und
gebet alsdenn auf die Handlungen dieſer Menſchen
Achtung. Sehet zu, ob ſie wichtig ſeyen, ob die
Perſonen in ihren Geſichtern, Gebehrden und Bewe-
gungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen;
ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebehrden
verſtehet, und ob ſie euch etwas merkwuͤrdiges ſagen.
Findet ihr es nicht der Muͤhe werth, dieſen in eurer
Einbildung wuͤrklichen Menſchen zuzuſehen, ſo hat
der Mahler ſchlecht gedacht. Hoͤrt ihr ein Tonſtuͤk,
ſo ſuchet zu vergeſſen, daß ihr Toͤne von einem
lebloſen Jnſtrument hoͤret, die nicht anders, als
durch eine große Fertigkeit der Finger oder der Lip-
pen hervorgebracht werden koͤnnen. Stellet euch
vor, ihr hoͤret einen Menſchen in einer unbekannten
Sprache reden, und gebet Achtung, ob ſeine Toͤne
Empfindung ausdruͤken; ob ſie Ruhe des Gemuͤthes,
oder Unruhe, ſanfte oder heftige Leidenſchaften,
froͤhliche oder traurige anzeigen; ob dieſe, den ein-
zeln Worten nach unverſtaͤndliche Sprache, den Cha-
rakter eines Redenden ausdruͤkt, ob er edel oder ge-
mein, ob er als ein vernuͤnftiger, oder als ein
wahnſinniger ſpricht. Koͤnnet ihr nichts dergleichen
entdeken, ſo beklaget den Meiſter, daß er mit ſo
viel Kunſt keine Gedanken verbunden hat.

Auf eben dieſe Art muͤſſen auch die Gedichte, be-
ſonders die lyriſchen, beurtheilet werden. Nur die
Ode hat einen Werth, die, nachdem ſie alles

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[432/0444] Ged Ged durch eine ernſtliche Bemuͤhung die wichtigſten Wahr- heiten der Philoſophie ſich bekannt zu machen, durch eine genaue Beobachtung der Menſchen und Sitten, hinlaͤnglichen Vorrath von Gedanken anſchaffen. Wer nicht faͤhig iſt, wichtige Gedanken in ſeinem Verſtand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff zur Bearbeitung fuͤr die Kuͤnſte. Denn dasjenige, was der Muͤhe nicht werth geachtet wird, ohne aͤſthetiſchen Schmuk erkennt zu werden, iſt auch des Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer, als ein Thor, koͤnnte ein ſchlechtes und unnuͤtzes Gefaͤß in Gold faſſen laſſen? Bey einem rechtſchaffenen Kuͤnſtler muͤſſen Ver- ſtand und geſunde Vernunft die Gaben ſeyn, mit denen ſich Witz und feiner Geſchmak vereinigen. Ohne jene wird er ein bloßer Zeitvertreiber oder Lu- ſtigmacher. Nur eine gruͤndliche, große Art zu denken, mit Talenten die zum Geſchmak gehoͤren, verbunden, machen den großen Kuͤnſtler aus (*). Ohne den großen Verſtand, ohne die wichtigen Ge- danken, die Homer als ein Kenner und Beobachter der Menſchen geſammelt, und in ſeinen unſterbli- chen Geſaͤngen vorgetragen hat, wuͤrde er mit allem Feuer der Dichtkunſt, mit allem Wolklang ſeiner Verſe, mit allen wolgemahlten Bildern, niemal der Dichter der vernuͤnftigen Alten geworden ſeyn. (*) S. Dichter. Nach eben dieſen Grundſaͤtzen muͤſſen wir alle Werke der Kunſt beurtheilen, wenn wir nicht bloße Spiele des Witzes und der Einbildungskraft fuͤr wichtige Werke ausgeben wollen. Ein gruͤnd- licher Beurtheiler der Kunſt laͤßt ſich niemal durch die bloße Kunſt blenden. Er zieht dem Werk erſt das Kleid der Kunſt ab, um die Gedanken na- kend zu ſehen. Jn dieſer Geſtalt beurtheilet er ihre Wahrheit, ihre Wichtigkeit. Findet er bey dieſer Betrachtung nichts wichtiges oder großes, ſo ſetzet er das Werk in die Claſſe der angenehmen Klei- nigkeiten. Man muß es ſich bey Beurtheilung der Werke der Kunſt zur Hauptmarime machen, jeden Gedan- ken in ſeiner nakenden Geſtalt zu pruͤfen. Der Kuͤnſtler, der dieſes verſaͤumt, laͤuft Gefahr ofte nichts zu ſagen; denn der Schmuk blendet. Man glaubet ofte mit dem Jrion, die Juno in ſeinen Armen zu haben, und hat nur ein leeres Phantom. Selbſt große Kuͤnſtler laſſen ſich bisweilen durch den aͤuſ- ſerlichen Glanz verfuͤhren, den Gedanken mehr Werth beyzulegen, als ſie haben. Hat nicht der ſchoͤne Ausdruk in folgenden Verſen den Virgil ſelbſt gehindert, das Falſche in den Gedanken zu ſehen? Die Sybille ſagt zum Aeneas, als er eine Reiſe nach dem Tartarus vornimmt Tros Anchidiades, facilis deſcenſus Averni, Noctes atque diu patet atri janua Ditis: Sed revocare gradum ſuperasque evadere ad auras Hoc opus, hic labor eſt. Der ganze Gedanke iſt grundfalſch. Jn den Wor- ten facilis deſcenſus averni, Noctes &c. wird der Tod oder das Sterben verſtanden. Aeneas aber will bey lebendigem Leib herunter, und da iſt das Herunterfahren und Heraufſteigen gleich leicht oder ſchweer. So bald man einer Vorſtellung ihr Kleid ausgezogen, kann man ein zuverlaͤßiges Urtheil von dem Werth der Gedanken faͤllen. Sehet ihr ein hiſtoriſches Gemaͤlde, ſo ſuchet zu vergeſſen, daß es ein Gemaͤhld iſt; vergeßt den Mahler, deſſen zauberiſche Kunſt durch Licht und Schatten Koͤrper hervorgebracht hat, wo keine ſind. Stellt euch vor wuͤrkliche Menſchen zu ſehen, und gebet alsdenn auf die Handlungen dieſer Menſchen Achtung. Sehet zu, ob ſie wichtig ſeyen, ob die Perſonen in ihren Geſichtern, Gebehrden und Bewe- gungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen; ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebehrden verſtehet, und ob ſie euch etwas merkwuͤrdiges ſagen. Findet ihr es nicht der Muͤhe werth, dieſen in eurer Einbildung wuͤrklichen Menſchen zuzuſehen, ſo hat der Mahler ſchlecht gedacht. Hoͤrt ihr ein Tonſtuͤk, ſo ſuchet zu vergeſſen, daß ihr Toͤne von einem lebloſen Jnſtrument hoͤret, die nicht anders, als durch eine große Fertigkeit der Finger oder der Lip- pen hervorgebracht werden koͤnnen. Stellet euch vor, ihr hoͤret einen Menſchen in einer unbekannten Sprache reden, und gebet Achtung, ob ſeine Toͤne Empfindung ausdruͤken; ob ſie Ruhe des Gemuͤthes, oder Unruhe, ſanfte oder heftige Leidenſchaften, froͤhliche oder traurige anzeigen; ob dieſe, den ein- zeln Worten nach unverſtaͤndliche Sprache, den Cha- rakter eines Redenden ausdruͤkt, ob er edel oder ge- mein, ob er als ein vernuͤnftiger, oder als ein wahnſinniger ſpricht. Koͤnnet ihr nichts dergleichen entdeken, ſo beklaget den Meiſter, daß er mit ſo viel Kunſt keine Gedanken verbunden hat. Auf eben dieſe Art muͤſſen auch die Gedichte, be- ſonders die lyriſchen, beurtheilet werden. Nur die Ode hat einen Werth, die, nachdem ſie alles Schmuks

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/444>, abgerufen am 22.11.2024.