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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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All
Von dem Gebrauch dieser Bilder in der Mahlerey,
wo sie nothwendig werden, wird im nächsten Artikel
gesprochen. Es ist wahrscheinlich, daß sie anfäng-
lich aus den zeichnenden Künsten in die Dichtkunst
herüber gekommen seyn: vielleicht auch aus den
Hieroglyphen. Höchst wahrscheinlich ist es, daß
die meisten Götter der alten heidnischen Welt, so
wie viel ihrer Mythologischen Bilder, ursprünglich
solche allegorische Personen gewesen sind. Beym
Homer finden wir keinen wesentlichen Unterschied
zwischen blos allegorischen Schattenbildern, derglei-
chen die Jris, die Fama, die Aurora, die Stun-
den,
der Traum unstreitig sind, und den Göt-
tern, die eine zuverläßigere Würklichkeit zu haben
scheinen. Es scheinet sogar, daß Homer zuweilen
den Jupiter und die Juno schlechthin nur als al-
legorische Personen ansehe.

Ueber alle diese Wesen merken wir zuvoderst an,
daß sie insofern von der Allegorie verschieden sind,
als sie nicht eine Verwechslung des Bildes und der
abgebildeten Sache, sondern die abgebildete Sache
selbst, in einer körperlichen Gestalt sind. Sie sind
nicht Zeichen einer Sache, sondern die Sache selbst.
Jndessen können sie die Kraft der Allegorie erhal-
ten, wenn der Körper, in welchen sie eingehüllt
werden, die Beschaffenheit hat, daß das Wesen
der abgebildeten Sache mit ästhetischer Kraft dar-
aus erkennt wird. Das fürtrefflichste Beyspiel
dieser Art giebt uns Miltons allegorisches Bild
von der Sünde. Der Dichter stellt eine zwar nicht
würkliche, aber der Einbildungskraft begreifliche
Gestalt vor, deren Anschauen uns eben den Ab-
scheu, eben den Ekel und solche Vorstellungen er-
wekt, welche aus überlegter Betrachtung der Sün-
de, die durch diesen erdichteten Gegenstand abgebil-
det wird, langsamer und bey weitem nicht so leb-
haft, würden erwekt werden. Von dieser Art ist
das Bild der Zwietracht, das Homer so kurz und
(*) II. IV.
vs.
430.
so meisterhaft gemahlt hat, (*) und ähnliche Er-
dichtungen, die bey alten und neuen Dichtern vor-
kommen.

Es giebt aber auch gemeinere allegorische Bil-
der, die weniger von dieser allegorischen Kraft ha-
ben. Aurora mit ihren Rosenfingern, die beym
Homer so oft vorkömmt; die schnellfliegende Jris,
selbst Amor, die Veneres und Cupidines des Tibulls
thun in der Dichtkunst weit geringere Dienste, als
in den zeichnenden Künsten; sie sind oft nicht viel
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All
mehr als blos ungewöhnlichere und etwas besser
klingende Namen, als die eigentlichen Wörter.

Noch andre solche Wesen haben eigentlich gar
keine bestimmte Gestalt, sondern setzen die Einbil-
dungskraft blos in den Wahn, daß sie lebende We-
sen sind, die einen gewissen nicht genau zu bestim-
menden Charakter haben, oder die nicht einmal be-
stimmten Begriffen entsprechen. Von dieser Art
sind die zu Personen gemachte Flüsse, Städte, Län-
der, die Genii einzelner Menschen und gauzer Na-
tionen, die Nymphen, die Silphen und dergleichen
Hirngespinste.

Alle diese Wesen werden entweder blos deswegen
angeführt, daß sie, so wie die Allegorien, abgezo-
gene Begriffe sinnlich machen sollen, oder man
bedient sich ihrer, um die Handlungen entweder
wunderbarer zu machen, oder blos zu Maschi-
nen, Verwiklungen hervor zu bringen, oder aufzu-
lösen.

Ueber die Zuläßigkeit des ersten Gebrauchs scheint
kein Zweifel mehr übrig zu seyn, nachdem fast alle
alten und neuen Dichter sich derselben bedient ha-
ben. Jn dieser Absicht fallen dergleichen Bilder
in die Classe der eigentlichen Allegorien, die aus
keiner der drey angezeigten Quellen geschöpft, son-
dern durch die Phantasie des Dichters hervor ge-
bracht worden. Was also bereits von den Gat-
tungen der Allegorie, von ihrem Gebrauche und
von ihrer Beschaffenheit erinnert worden, kann
ohne Mühe auf sie angewendet werden. Braucht
es aber schon große Scharfsinnigkeit, eigentliche
Allegorien von großer Kraft in der Natur oder
Kunst aufzusuchen, so erfodern diese noch außerdem
eine lebhafte Dichtungskraft, einen schöpferischen
Geist, durch welchen Milton die Sünde, und
Homer die Zwietracht sichtbar gemacht haben.

Die geringeren Bilder, deren Zeichnung von
keiner großen Kraft ist, können, wenn sie nur recht
angewendet werden, die Vorstellungen blos durch
das Leben, das sie hineinbringen, angenehmer und
einnehmender machen, wie an seinem Orte ange-
merkt worden. (*) Auch können sie überhaupt(*) S. Be-
lebung.

der Sprache des Dichters einigermaßen den Ton
der Begeisterung geben. Aber nur der feine Ge-
schmak erreicht diese Vortheile. Umsonst führen
Dichter von gemeinem Geschmak Amores und Cu-
pidines
auf, sie bleiben dessen ungeachtet abgeschmakt.

Ueber

[Spaltenumbruch]

All
Von dem Gebrauch dieſer Bilder in der Mahlerey,
wo ſie nothwendig werden, wird im naͤchſten Artikel
geſprochen. Es iſt wahrſcheinlich, daß ſie anfaͤng-
lich aus den zeichnenden Kuͤnſten in die Dichtkunſt
heruͤber gekommen ſeyn: vielleicht auch aus den
Hieroglyphen. Hoͤchſt wahrſcheinlich iſt es, daß
die meiſten Goͤtter der alten heidniſchen Welt, ſo
wie viel ihrer Mythologiſchen Bilder, urſpruͤnglich
ſolche allegoriſche Perſonen geweſen ſind. Beym
Homer finden wir keinen weſentlichen Unterſchied
zwiſchen blos allegoriſchen Schattenbildern, derglei-
chen die Jris, die Fama, die Aurora, die Stun-
den,
der Traum unſtreitig ſind, und den Goͤt-
tern, die eine zuverlaͤßigere Wuͤrklichkeit zu haben
ſcheinen. Es ſcheinet ſogar, daß Homer zuweilen
den Jupiter und die Juno ſchlechthin nur als al-
legoriſche Perſonen anſehe.

Ueber alle dieſe Weſen merken wir zuvoderſt an,
daß ſie inſofern von der Allegorie verſchieden ſind,
als ſie nicht eine Verwechslung des Bildes und der
abgebildeten Sache, ſondern die abgebildete Sache
ſelbſt, in einer koͤrperlichen Geſtalt ſind. Sie ſind
nicht Zeichen einer Sache, ſondern die Sache ſelbſt.
Jndeſſen koͤnnen ſie die Kraft der Allegorie erhal-
ten, wenn der Koͤrper, in welchen ſie eingehuͤllt
werden, die Beſchaffenheit hat, daß das Weſen
der abgebildeten Sache mit aͤſthetiſcher Kraft dar-
aus erkennt wird. Das fuͤrtrefflichſte Beyſpiel
dieſer Art giebt uns Miltons allegoriſches Bild
von der Suͤnde. Der Dichter ſtellt eine zwar nicht
wuͤrkliche, aber der Einbildungskraft begreifliche
Geſtalt vor, deren Anſchauen uns eben den Ab-
ſcheu, eben den Ekel und ſolche Vorſtellungen er-
wekt, welche aus uͤberlegter Betrachtung der Suͤn-
de, die durch dieſen erdichteten Gegenſtand abgebil-
det wird, langſamer und bey weitem nicht ſo leb-
haft, wuͤrden erwekt werden. Von dieſer Art iſt
das Bild der Zwietracht, das Homer ſo kurz und
(*) II. IV.
vs.
430.
ſo meiſterhaft gemahlt hat, (*) und aͤhnliche Er-
dichtungen, die bey alten und neuen Dichtern vor-
kommen.

Es giebt aber auch gemeinere allegoriſche Bil-
der, die weniger von dieſer allegoriſchen Kraft ha-
ben. Aurora mit ihren Roſenfingern, die beym
Homer ſo oft vorkoͤmmt; die ſchnellfliegende Jris,
ſelbſt Amor, die Veneres und Cupidines des Tibulls
thun in der Dichtkunſt weit geringere Dienſte, als
in den zeichnenden Kuͤnſten; ſie ſind oft nicht viel
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All
mehr als blos ungewoͤhnlichere und etwas beſſer
klingende Namen, als die eigentlichen Woͤrter.

Noch andre ſolche Weſen haben eigentlich gar
keine beſtimmte Geſtalt, ſondern ſetzen die Einbil-
dungskraft blos in den Wahn, daß ſie lebende We-
ſen ſind, die einen gewiſſen nicht genau zu beſtim-
menden Charakter haben, oder die nicht einmal be-
ſtimmten Begriffen entſprechen. Von dieſer Art
ſind die zu Perſonen gemachte Fluͤſſe, Staͤdte, Laͤn-
der, die Genii einzelner Menſchen und gauzer Na-
tionen, die Nymphen, die Silphen und dergleichen
Hirngeſpinſte.

Alle dieſe Weſen werden entweder blos deswegen
angefuͤhrt, daß ſie, ſo wie die Allegorien, abgezo-
gene Begriffe ſinnlich machen ſollen, oder man
bedient ſich ihrer, um die Handlungen entweder
wunderbarer zu machen, oder blos zu Maſchi-
nen, Verwiklungen hervor zu bringen, oder aufzu-
loͤſen.

Ueber die Zulaͤßigkeit des erſten Gebrauchs ſcheint
kein Zweifel mehr uͤbrig zu ſeyn, nachdem faſt alle
alten und neuen Dichter ſich derſelben bedient ha-
ben. Jn dieſer Abſicht fallen dergleichen Bilder
in die Claſſe der eigentlichen Allegorien, die aus
keiner der drey angezeigten Quellen geſchoͤpft, ſon-
dern durch die Phantaſie des Dichters hervor ge-
bracht worden. Was alſo bereits von den Gat-
tungen der Allegorie, von ihrem Gebrauche und
von ihrer Beſchaffenheit erinnert worden, kann
ohne Muͤhe auf ſie angewendet werden. Braucht
es aber ſchon große Scharfſinnigkeit, eigentliche
Allegorien von großer Kraft in der Natur oder
Kunſt aufzuſuchen, ſo erfodern dieſe noch außerdem
eine lebhafte Dichtungskraft, einen ſchoͤpferiſchen
Geiſt, durch welchen Milton die Suͤnde, und
Homer die Zwietracht ſichtbar gemacht haben.

Die geringeren Bilder, deren Zeichnung von
keiner großen Kraft iſt, koͤnnen, wenn ſie nur recht
angewendet werden, die Vorſtellungen blos durch
das Leben, das ſie hineinbringen, angenehmer und
einnehmender machen, wie an ſeinem Orte ange-
merkt worden. (*) Auch koͤnnen ſie uͤberhaupt(*) S. Be-
lebung.

der Sprache des Dichters einigermaßen den Ton
der Begeiſterung geben. Aber nur der feine Ge-
ſchmak erreicht dieſe Vortheile. Umſonſt fuͤhren
Dichter von gemeinem Geſchmak Amores und Cu-
pidines
auf, ſie bleiben deſſen ungeachtet abgeſchmakt.

Ueber
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[32/0044] All All Von dem Gebrauch dieſer Bilder in der Mahlerey, wo ſie nothwendig werden, wird im naͤchſten Artikel geſprochen. Es iſt wahrſcheinlich, daß ſie anfaͤng- lich aus den zeichnenden Kuͤnſten in die Dichtkunſt heruͤber gekommen ſeyn: vielleicht auch aus den Hieroglyphen. Hoͤchſt wahrſcheinlich iſt es, daß die meiſten Goͤtter der alten heidniſchen Welt, ſo wie viel ihrer Mythologiſchen Bilder, urſpruͤnglich ſolche allegoriſche Perſonen geweſen ſind. Beym Homer finden wir keinen weſentlichen Unterſchied zwiſchen blos allegoriſchen Schattenbildern, derglei- chen die Jris, die Fama, die Aurora, die Stun- den, der Traum unſtreitig ſind, und den Goͤt- tern, die eine zuverlaͤßigere Wuͤrklichkeit zu haben ſcheinen. Es ſcheinet ſogar, daß Homer zuweilen den Jupiter und die Juno ſchlechthin nur als al- legoriſche Perſonen anſehe. Ueber alle dieſe Weſen merken wir zuvoderſt an, daß ſie inſofern von der Allegorie verſchieden ſind, als ſie nicht eine Verwechslung des Bildes und der abgebildeten Sache, ſondern die abgebildete Sache ſelbſt, in einer koͤrperlichen Geſtalt ſind. Sie ſind nicht Zeichen einer Sache, ſondern die Sache ſelbſt. Jndeſſen koͤnnen ſie die Kraft der Allegorie erhal- ten, wenn der Koͤrper, in welchen ſie eingehuͤllt werden, die Beſchaffenheit hat, daß das Weſen der abgebildeten Sache mit aͤſthetiſcher Kraft dar- aus erkennt wird. Das fuͤrtrefflichſte Beyſpiel dieſer Art giebt uns Miltons allegoriſches Bild von der Suͤnde. Der Dichter ſtellt eine zwar nicht wuͤrkliche, aber der Einbildungskraft begreifliche Geſtalt vor, deren Anſchauen uns eben den Ab- ſcheu, eben den Ekel und ſolche Vorſtellungen er- wekt, welche aus uͤberlegter Betrachtung der Suͤn- de, die durch dieſen erdichteten Gegenſtand abgebil- det wird, langſamer und bey weitem nicht ſo leb- haft, wuͤrden erwekt werden. Von dieſer Art iſt das Bild der Zwietracht, das Homer ſo kurz und ſo meiſterhaft gemahlt hat, (*) und aͤhnliche Er- dichtungen, die bey alten und neuen Dichtern vor- kommen. (*) II. IV. vs. 430. Es giebt aber auch gemeinere allegoriſche Bil- der, die weniger von dieſer allegoriſchen Kraft ha- ben. Aurora mit ihren Roſenfingern, die beym Homer ſo oft vorkoͤmmt; die ſchnellfliegende Jris, ſelbſt Amor, die Veneres und Cupidines des Tibulls thun in der Dichtkunſt weit geringere Dienſte, als in den zeichnenden Kuͤnſten; ſie ſind oft nicht viel mehr als blos ungewoͤhnlichere und etwas beſſer klingende Namen, als die eigentlichen Woͤrter. Noch andre ſolche Weſen haben eigentlich gar keine beſtimmte Geſtalt, ſondern ſetzen die Einbil- dungskraft blos in den Wahn, daß ſie lebende We- ſen ſind, die einen gewiſſen nicht genau zu beſtim- menden Charakter haben, oder die nicht einmal be- ſtimmten Begriffen entſprechen. Von dieſer Art ſind die zu Perſonen gemachte Fluͤſſe, Staͤdte, Laͤn- der, die Genii einzelner Menſchen und gauzer Na- tionen, die Nymphen, die Silphen und dergleichen Hirngeſpinſte. Alle dieſe Weſen werden entweder blos deswegen angefuͤhrt, daß ſie, ſo wie die Allegorien, abgezo- gene Begriffe ſinnlich machen ſollen, oder man bedient ſich ihrer, um die Handlungen entweder wunderbarer zu machen, oder blos zu Maſchi- nen, Verwiklungen hervor zu bringen, oder aufzu- loͤſen. Ueber die Zulaͤßigkeit des erſten Gebrauchs ſcheint kein Zweifel mehr uͤbrig zu ſeyn, nachdem faſt alle alten und neuen Dichter ſich derſelben bedient ha- ben. Jn dieſer Abſicht fallen dergleichen Bilder in die Claſſe der eigentlichen Allegorien, die aus keiner der drey angezeigten Quellen geſchoͤpft, ſon- dern durch die Phantaſie des Dichters hervor ge- bracht worden. Was alſo bereits von den Gat- tungen der Allegorie, von ihrem Gebrauche und von ihrer Beſchaffenheit erinnert worden, kann ohne Muͤhe auf ſie angewendet werden. Braucht es aber ſchon große Scharfſinnigkeit, eigentliche Allegorien von großer Kraft in der Natur oder Kunſt aufzuſuchen, ſo erfodern dieſe noch außerdem eine lebhafte Dichtungskraft, einen ſchoͤpferiſchen Geiſt, durch welchen Milton die Suͤnde, und Homer die Zwietracht ſichtbar gemacht haben. Die geringeren Bilder, deren Zeichnung von keiner großen Kraft iſt, koͤnnen, wenn ſie nur recht angewendet werden, die Vorſtellungen blos durch das Leben, das ſie hineinbringen, angenehmer und einnehmender machen, wie an ſeinem Orte ange- merkt worden. (*) Auch koͤnnen ſie uͤberhaupt der Sprache des Dichters einigermaßen den Ton der Begeiſterung geben. Aber nur der feine Ge- ſchmak erreicht dieſe Vortheile. Umſonſt fuͤhren Dichter von gemeinem Geſchmak Amores und Cu- pidines auf, ſie bleiben deſſen ungeachtet abgeſchmakt. (*) S. Be- lebung. Ueber

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/44>, abgerufen am 19.04.2024.